Du bist nicht nur, was du isst

Über 50 Millionen Instagramposts unter dem Hashtag #healthyfood: Der moderne Mensch sucht nach neuer Identifikation und findet sie auf seinem Teller. Dabei sollten wir das Thema Ernährung einfach mal entspannter angehen. Ein Kommentar.

Gesunde Ernährung ist wichtig, keine Frage. Für immer mehr Menschen ist Ernährung aber nicht mehr einfach nur wichtig. Die alte Weisheit „Du bist, was du isst“, hat eine neue Dimension bekommen: Essen wird zur Identifikation. Über die außergewöhnliche Paleodiät oder fruganistische Ernährung kann man sich von anderen abgrenzen. Gesundes Essen ist für den modernen Menschen zur Ideologie, vielleicht sogar zu einer Art Ersatzreligion geworden. Verbreitet wird sie über Instagramposts von sorgfältig drapierten Müslischälchen, gefüllt mit Steinzeitessen, Superfood oder Detox-Smoothies.

Verunsicherung durch Vielfalt

Aber warum die Ernährungsweise beschränken, wenn sich gerade jetzt in den industrialisierten Ländern ein vielfältigeres, besseres und günstigeres Nahrungsangebot bietet als je zuvor? Für den Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Gunther Hirschfelder liegt die Antwort schon in der Frage: Die Vielfalt wird zum Problem. Sie führt zur Verunsicherung. Und diese Verunsicherung wird verstärkt durch einen gesellschaftlichen Wandel. Mit dem Ende der neunziger Jahre sei auch die Ära der letzten prägenden Ideologien – die des Kapitalismus und Kommunismus – zu Ende gegangen. Jetzt braucht der Mensch etwas Neues, mit dem er sich identifizieren kann. Etwas, das er vergöttern kann: Sein Essen.

Im Grunde kein Problem: Wen das stört, der soll sich die 53 Millionen Instagramposts unter dem Hashtag #healthyfood einfach nicht angucken. Doch wenn sich im Kopf alles nur noch um die eine, vermeintlich perfekte Ernährungsweise dreht, kann das auch schaden. Die Paleodiät, bei der man sich möglichst wie in der Steinzeit ernährt, könne durch den hohen Fleischkonsum das Darmkrebsrisiko steigern, so Hirschfelder. Und auch ökologisch sei die Diät unsinnig: Um alle menschlichen Mägen der Erde mit solchen Fleischmassen zu füllen, müssten noch größere Massen tierischer Mägen gefüllt werden. Dafür bräuchte man dann aber mehr als eine Erde.

Wer nach starren Ideologien lebt, gaukelt sich oft etwas vor. So auch beim Essen: Trotz immer mehr bekennender Vegetarier ist der Fleischkonsum der Deutschen in den vergangenen 20 Jahren konstant bei etwa 60 Kilo geblieben. Der Grund ist aus Hirschfelders Sicht, dass viele Menschen sich gar nicht vollkommen strikt an die Vorgaben ihrer jeweiligen Diät halten. Es gehe eher um eine Fantasie der Weltrettung. Darum, die Ideologie des einzig guten Essens nach außen zu tragen – am liebsten über Instagram.

Angst vor allem Ungesunden

In Extremfällen geht es aber tatsächlich darüber hinaus. Wissenschaftler streiten sich darüber, ob Orthorexie, die übermäßige Auseinandersetzung mit gesunder Ernährung, eine wirkliche Essstörung ist. Ob man sie nun Orthorexiker nennen mag oder nicht – es gibt Ernährungsfanatiker, für die sich der gesamte Alltag nur noch um möglichst gesundes Essen dreht und eine Angst vor allem Ungesunden entwickelt wird. Und ungesund ist dann alles, was nicht in die eigene Essensideologie passt. Ein Verhalten, das sich irgendwie so gar nicht mehr gesund anhört.

Und während ein paar reiche Menschen in Zentraleuropa Angst vor einem Stück Pizza haben, hungern weltweit 820 Millionen Menschen. Vielleicht sollten wir uns einfach mal wieder öfter vor Augen führen, in welchem Luxus wir leben. Wir können uns satt essen, wir können Essen genießen, und dabei auch noch aus einer riesigen Angebotsvielfalt auswählen. Wenn da die eigene „richtige“ Ernährung die einzige Sorge ist, ist das eigentlich ganz schön egoistisch. Wer eine Ersatzreligion sucht, kann sich auch sinnvoller beschäftigen. Vielleicht einfach mal die übrig gebliebenen Packungen Kekse bei der örtlichen Tafel vorbeibringen – dort freut sich bestimmt jemand darüber.

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Mehr von Pia Stenner
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