„Du bist, was du isst“ gehört zum guten Kanon der deutschen Sprichwörter. Aber kann man das auch auf die Gesellschaft übertragen: Sind wir das, was wir essen? Gibt es eine gemeinsame deutsche Essenskultur?
Anfang April veröffentlichte das Fachjournal The Lancet eine Studie, die weltweit für Schlagzeilen sorgte: Ungesundes Essen sei weltweit jedes Jahr für elf Millionen vorzeitige Tode verantwortlich – viel mehr, als im selben Zeitraum durchs Rauchen umkamen. Untersucht hatten die Forscher Daten aus 195 Ländern, über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren.
Grundsätzlich lässt sich durchaus feststellen, dass in westlichen, gut entwickelten Staaten weniger Menschen an den Folgen ungesunder Ernährung starben. Das Interessante daran: Es lässt sich kein einheitliches Bild zeichnen. Im internationalen Vergleich schneidet Frankreich gut ab, hier lassen sich besonders wenig Tode auf ungesunde Ernährung zurückführen. Unser Nachbarland steht auf Platz zwei und muss sich nur Israel geschlagen geben. Deutschland dagegen kommt in der Studie nur auf Platz 38.
Dazu kommt, dass es in der Ernährungswissenschaft kaum Untersuchungen gibt, die einen Kausalzusammenhang zwischen Ernährungen und Krankheiten beweisen. Stattdessen sind Befragungsstudien üblich: In diesen werden Teilnehmer von Forschern zu ihren Ernährungsgewohnheiten befragt. Über die Jahre wird dann dokumentiert, wie viele Menschen erkranken oder sterben. Solche Erhebungen sind billiger, als die Teilnehmer in zwei Gruppen zu teilen und ihnen über einen langen Zeitraum verschiedene Ernährungsweisen zu verordnen.
Wie viel Einfluss bestimmte Nahrungskomponenten auf die Gesundheit haben, ist daher mitunter umstritten. Beispielsweise sind sich Ernährungswissenschaftler uneinig, ab welcher Menge Salz für ein erhöhtes Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sorgt.
Teure Ernährung = gute Ernährung?
Doch woher kommen diese Unterschiede? Geben die Franzosen einfach mehr Geld für ihr Essen aus und ernähren sich deshalb gesünder? Die Ergebnisse einer Erhebung aus 2018 unterfüttern diese Aussage nicht. Prozentual gesehen unterscheidet sich der Anteil, den die Nahrungsmittelkosten an den restlichen Konsumausgaben haben, kaum. In Frankreich ist der Anteil zwar etwas höher, doch nicht besonders stark. Viel eher lässt sich feststellen, dass in ärmeren Ländern, gerade im Süden und Osten der EU, prozentual mehr Geld für Essen ausgegeben wird als in wirtschaftlich starken Ländern in Mitteleuropa. Liegt es also an jedem Einzelnen, wie er sich ernährt? Oder ist es die Esskultur, die sich von Land zu Land so stark unterscheidet?
Kulinarische Barbarei gegen Haute Cuisine
Martin Trenk muss es wissen: Er ist Professor für Kulinarische Ethnologie an der Uni in Frankfurt. Das Essen fremder Kulturen zu probieren ist sein Job. „In Frankreich ist die Qualität der Produkte besser. Selbst in der Provinz gibt es in den Hypermärkten eine riesige Auswahl an frischem Gemüse.“ Um unsere Essgewohnheiten zu verstehen, erklärt er, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit: Neben zahlreichen Konflikten im weltpolitischen Geschehen vertraten Deutsche und Franzosen schon immer unterschiedliche Ansichten zum Essen. Während die Franzosen die deutschen Nachbarn als „kulinarische Barbaren“ betrachteten, war den Deutschen die französische Hochküche mit ihren exquisiten Kreationen suspekt.
In Deutschland aß man, durch die Klassen hinweg, einfacher: So erinnert sich Marion Gräfin Dönhoff in ihren Memoiren „Kindheit in Ostpreussen“ daran, wie auch in ihrer Kindheit Pellkartoffeln mit Quark Teil des Speiseplans waren. Dabei war man regelrecht stolz auf diese Sparsamkeit.
Tausche Tiefkühl-Pizza gegen Streetfood
In anderen Ländern undenkbar. Trenks liebstes Forschungsgebiet ist die thailändische Küche. „Da isst man in allen Schichten gut. Man identifiziert sich dort auch viel mehr über das Essen“, erklärt Trenk. Dabei wird auch in Thailand immer weniger zuhause gekocht. Doch während in Deutschland gerade Alleinlebende dann häufig auf die Tiefkühl-Pizza ausweichen, gibt es in Thailand eine große Auswahl von Streetfood. Was hier hip (und teuer) ist, ist dort ganz selbstverständlich Teil des Lebens. In der Studie gehört Thailand zu den Ländern mit den wenigsten Todesfällen, die sich auf ungesundes Essen zurückführen lassen.
Sauerbraten gegen Döner
Martin Trenk stellt klar: Die deutsche Küche gibt es heutzutage gar nicht mehr. Mehr noch als in anderen Ländern unterlag das Essen einer „Globalisierung der Küche“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte sich die junge Generation nicht mit urdeutschen Gerichten wie dem sonntäglichen Braten identifizieren. Zur gleichen Zeit brachten Gastarbeiter die Gerichte aus ihrer Heimat mit, die sich schnell auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuten.
Erhalten geblieben ist dabei die große Wurst- und Brotvielfalt. Und eine große deutsche Eigenheit: das kalte Abendbrot. In vielen anderen Ländern ist das Abendessen die wichtigste Mahlzeit, zu der die ganze Familie am Ende des Tages zusammenkommt. Dagegen gab in einer Befragung aus 2010 nur jeder sechste Deutsche an, täglich gemeinsam zu essen. Erschreckend ist auch: Inzwischen haben immer weniger Haushalte in Deutschland einen Tisch, der überhaupt groß genug für alle Bewohner wäre.
Von der Chipstüte zur Avocado-Bowl
Trotzdem hat Martin Trenk das Gefühl, dass Essen in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren immer wichtiger geworden ist. „Kochsendungen im Fernsehen, die Wiederentdeckung der Wochenmärkte, die Restaurantvielfalt, überhaupt, die Ausgeh-Kultur heute – das kannten unsere Großeltern gar nicht.“
Diese Entwicklung evidenzbasiert mit Zahlen zu beschreiben, ist jedoch so gut wie unmöglich. Das zeigt sich auch in den Daten der Studie: 1990 stand es noch schlechter um das Ernährungsverhalten. Fünfundzwanzig Jahre später sind schon weniger Tode auf ungesunde Ernährung zurückzuführen. Obwohl die Daten nur Berechnungen beruhen, fand die These der Forscher weltweit viel Beachtung: Zum ersten Mal wurden die Risiken ungesunder Ernährung auf globaler Ebene mit Zahlen unterfüttert.