Warum Schüchternheit in Wirklichkeit ein großes Abenteuer ist

„Sei doch nicht so schüchtern“ bekomme ich seit Jahren zu hören. Mitleid klingt aus der Stimme, wenn jemand über meine Unsicherheit sprechen will. Wer schüchtern ist, glauben viele, der ist ein Langweiler und traut sich nichts. Dabei ist das alles ein großes Missverständnis. Denn in Wahrheit leben schüchterne Menschen ein wunderbar wildes Leben. Ein Versuch, mit den Vorurteilen aufzuräumen.

Wir sind allein, das Telefon und ich. Niemand kann uns hören. Ich versuche, ruhig zu bleiben, doch das Gerät starrt mich mit seinen Tasten an wie ein wildes Tier. Langsam fangen meine Hände an zu zittern. Einfach ruhig atmen, denke ich. Bloß keine Scheu zeigen. Auf keinen Fall wegrennen. Was soll denn schon passieren? Mit beiden Händen greife ich zum Hörer. Die Hülle liegt etwas zu schwer zwischen meinen schwachen Fingern. Weil ich die Nummer schon herausgesucht und dreimal kontrolliert habe, muss ich sie nur noch eintippen. Mein Herz schlägt mit jeder Taste schneller. Was ist, wenn der Zeitpunkt gerade ungünstig ist? Habe ich vielleicht doch die falsche Nummer aufgeschrieben? Und tickt diese Uhr im Zimmer wirklich immer schon so laut?

Mir wird schwindelig. Das Display ist mittlerweile wieder schwarz geworden. Im Internet schaue ich zur Sicherheit noch einmal nach der Telefonnummer. Sie war richtig – eigentlich wusste ich das auch. 20 Minuten später versuche ich es noch einmal. Panisch wandert mein Blick durch den Raum. Bis er auf den Kalender an der Wand meiner Eltern fällt. „Erfolg hat drei Buchstaben: TUN“ steht auf dem Blatt für diese Woche. Kurz, aber schmerzvoll drücke ich auf die Hörertaste. Es tutet. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann meldet sich eine Männerstimme auf der anderen Seite. Ich balle meine Hand zu einer Faust und nehme all meinen Mut zusammen. „Hallo“, flüstere ich in das Telefon. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. „Ich würde gern eine Pizza bestellen.“

Eine Stunde später. Die Pizza ist da und mein Körper immer noch voll mit Adrenalin. Wie im Rausch klappe ich den Pappkarton auf. So muss sich Neil Armstrong gefühlt haben, denke ich, nachdem er als erster Mensch den Mond betreten hat. Doch während er sich für diesen Hormon-Schub durch hartes Training monatelang vorbereiten, erst über 350.000 Kilometer mit einer Rakete zurücklegen musste, reicht bei mir für dieselbe Menge an Hormonen eine einzige Eigenschaft aus: meine Schüchternheit. Was für ein Geschenk.

„Schüchternheit muss überwunden werden“

Schüchternheit? Ein Geschenk? Zugegeben: Ich kann die Zweifel an meiner These verstehen. Schüchternheit hat in unserer Gesellschaft ungefähr dasselbe Ansehen wie ein Mückenstich. Es gibt sie halt und man muss sich mit ihr arrangieren. Aber wirklich gut findet sie keiner. Tippe ich bei Google einfach nur das Wort „Schüchternheit“ ein, tauchen auf der ersten Seite ausschließlich Ergebnisse auf wie „Schüchternheit überwinden: Die ultimative Anleitung“ oder „Die besten zehn Tipps gegen Schüchternheit“. In jedem High-School-Film mit einer schüchternen Person als Hauptfigur blüht die am Ende zur strahlenden Ballkönigin auf. „Endlich ist sie weg, diese Schüchternheit“, heißt es dann. Konnte ja auch keiner aushalten, dieses Gestammel und diese peinlich berührten Blicke auf den Boden. „Was kann ich bloß gegen meine Schüchternheit tun?“, fragt auch „AnswerGirl02“ verzweifelt auf „gutefrage.net“ die Community.

Auch ich habe schnell gemerkt: Schüchternheit? Das ist etwas, was man besser so schnell wie möglich los wird. Mit neun Jahren meldeten mich meine Eltern zu einem Kurs mit dem Namen „Kleine Löwen brüllen lauter“ an. Hier sollte ich lernen, mich durchzusetzen und einmal in der Woche mit anderen schüchternen Kindern um die Wette schreien. „Fahr doch mal nach Taizé“, riet mir meine Mathelehrerin an meinem bischöflichen Gymnasium bei der Besprechung meiner mündlichen Note. Vielleicht, so ihr Vorschlag, würde ja ein Besuch des französischen Pilgerortes helfen, damit ich im Unterricht in Zukunft öfter meine Hand hebe. Hingefahren bin ich nie, denn geholfen hatte bisher ja sowieso alles nichts. Heute kann ich sagen: zum Glück. Denn was hätte ich sonst wahrscheinlich alles verpasst!

Das Abenteuer an jeder Ecke

Als schüchterner Mensch muss man nicht weit reisen, um ein Abenteuer zu erleben. Man erlebt sie im Alltag. Denn ein Abenteuer ist – so sagt es der Duden – eine „mit einem außergewöhnlichen, erregenden Geschehen verbundene gefahrvolle Situation, die jemand zu bestehen hat.“ Wenn nun also jede Situation gefahrvoll wirkt, wird sie für den schüchternen Menschen auch gleichzeitig zu einer spannenden Prüfung. Jeder öffentliche Raum wird zum Freizeitpark. Mit Small Talk statt Achterbahnen. Und Vorstellungsrunden statt Karussells. Man kann sich uns Schüchterne wie Weltenbummler vorstellen, die mit Tropenhut getarnt und einem Rucksack voll Sprachführern für die wichtigsten Alltagssituationen durch die Innenstädte schleichen. Oder wie Kinder, die einfach nie aufgehört haben, Verstecken zu spielen. Für immer jung – ist das nicht, was alle wollen?

Wer schüchtern ist, der braucht keine teuren Jochen-Schweizer-Erlebnis-Gutscheine, um nach ein paar Jahren Bürojob noch mal das wilde Leben zu spüren. Es braucht gar nicht viel für den Kick. Jede Seminarstunde wirkt in Kombination mit Schüchternheit plötzlich spannender als ein Krimi („Ob ich wohl dieses Mal drangenommen werde?“). Ein einfaches „Sag doch auch mal was“ reicht und die Schweißperlen stehen auf der Stirn. Und nach einer Präsentation in der Schule oder der Uni fühlt man sich, als hätte man gerade den Mount Everest bestiegen.

Langeweile ist ein Fremdwort

Doch Schüchternheit kann noch viel mehr ungeahnte Vorteile mit sich bringen als nur Adrenalin. Bei den Kellnern in der Stadt ist man bekannt und wird zur Begrüßung sofort angelächelt, weil man immer so unbeholfen sein Essen bestellt. Beim Einkaufen entdeckt man völlig neue Gerichte, weil man sich nicht traut zu fragen, wo irgendetwas steht. Man lernt eine Stadt aus ganz anderen Perspektiven kennen, weil man lieber für immer verloren geht, als irgendwen nach dem Weg zu fragen. Und ehe man sich entspannen kann, denkt man lieber ausführlich über den Moment nach, als man einmal in der sechsten Klasse im Bio-Unterricht vor der ganzen Klasse etwas Falsches gesagt hat. Es wird nie langweilig, wenn man schüchtern ist.

Die Schüchternheit lässt nach

Doch etwas hat sich verändert in den vergangenen Monaten. Ohne dass ich etwas dagegen tun könnte. Vielleicht hat das Schreien im Löwen-Kurs nach zwölf Jahren doch seine Wirkung gezeigt. Vielleicht hat sich mein Körper mit der Zeit aber auch einfach an das viele Adrenalin gewöhnt. Um es kurz zuhalten: Ich stumpfe ab. Ein Telefonanruf sorgt bei mir heute manchmal nur noch für ein kurzes Zittern. Eine Bestellung an der Theke und mein Herz macht lediglich einen müden Hüpfer. Erst kürzlich habe ich eine Verkäuferin im Supermarkt gefragt, wo ich denn die Hefe finde – sofort nach dem Betreten. Mein abenteuerliches Leben ist langsam dabei, sich in eine monotone Abfolge von Tagen zu verwandeln. Wo da bleibt der tägliche Nervenkitzel? Wenn ich ehrlich bin: Manchmal vermisse ich den Rausch, den mir meine Schüchternheit so zuverlässig beschert hat. Es scheint, als müsste ich heute andere Methoden finden, um die Spannung in meinem Leben aufrechtzuerhalten. Ich schaue zum Telefon und denke nach. Ob ich es bei der nächsten Pizza-Bestellung vielleicht mal mit einem Extra-Wunsch probieren sollte?

Beitragsbild: Ricky Kharawala auf unsplash

nan
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