Stirb langsam? Über das Aussterben von Videotheken

Um alle weltweit existenten Filme und Serien von Anfang bis zum Abspann zu sehen, bräuchte es vermutlich mehrere Menschenleben. Und doch schießen neue Streamingdienste – mit noch mehr Angebot – regelmäßig aus dem Boden. Mit Disney+ gibt es ab heute (24. März) einen weiteren Anbieter. Auf dem analogen Ausleihmarkt dagegen herrscht schon lange keine Goldgräberstimmung mehr: Videotheken scheinen keine Chance gegen die Macht der Streamingdienste zu haben. Zu altbacken, zu aufwändig und zu wenig Auswahl. Oder?

Ein Samstagmittag in Dortmund, nahe der Innenstadt. Familien, Freunde, Studis sind unterwegs zum Wocheneinkauf, zum Shoppen oder auf dem Weg zum BVB-Spiel. Sie alle passieren die Schaufenster eines verhältnismäßig großen Ladenlokals. “Leihen ist clever!” oder “Die erste Videothek, die’s wirklich bringt!” steht in großen Lettern über den Fenstern geschrieben. Hinten im Schaufenster stehen zwei Pappfiguren der Stormtrooper aus Star Wars Patrouille, als wollten sie den Laden vor etwas beschützen. “Ach, so was gibt’s noch”, sagt ein Fan im BVB-Trikot im Vorbeigehen.

Die Videothek ist eine von zweien, die in Dortmund noch existiert. Und mit diesem Angebot ist Dortmund noch gut bedient: Insgesamt gibt es im Ruhrgebiet nur noch knapp mehr als zehn, in der Landeshauptstadt Düsseldorf existiert keine einzige mehr. Eine Entwicklung, die auch bundesweit nicht anders ist: Gab es 2008 laut Interessenverband des Video- und Medienfachhandels in Deutschland e.V. noch 3508 Videotheken, waren es 2018 nur noch 440.

Streamingdienste vs. Videotheken?

Obwohl Streamingdienste und Videotheken zunächst wie grundverschiedene Angebote aus unterschiedlichen Generationen wirken, sind die Grenzen zwischen analoger und digitaler Welt fließend. 2014 kam Netflix auf den deutschen Markt, im selben Jahr startete auch Amazon Prime Video in Deutschland. Beide haben eines gemeinsam: Vor ihrem Start als Streaming-Plattform bauten sie ihre Strategien auf dem ursprünglichen Erfolgsrezept der Videotheken auf. Denn zunächst haben Amazon und Netflix Filme und Serien über den Versand von DVDs und Blu-rays verliehen. Auch heute verleiht Netflix allerdings nur in den USA – in verhältnismäßig kleinem Umfang DVDs an Kunden. Amazon hatte in Deutschland einen ähnlichen Dienst 2011 aufgekauft, 2017 aber wieder eingestellt.

Wichtiger ist für alle Anbieter heute der Geschäftsbereich Video-on-demand. Hier spielen mittlerweile neben Netflix und Amazon zudem Apple und seit heute (24. März) auch Disney mit. Dabei haben Kunden verschiedene Möglichkeiten, Filme oder Serien digital “auszuleihen”: Zum einen gibt es das sogenannte Subscription-Video-on-Demand (SVoD), bei dem Nutzer monatlich oder jährlich eine Pauschale zahlen, um zu den ausgewählten Inhalten eines Streamingdienstes Zugang zu bekommen. Was genau verfügbar ist, ändert sich ständig. Alternativ bieten einige Dienste auch an, eine Leihgebühr pro Film zu zahlen. Das wird dann als “Transactional-Video-on-Demand” (TVoD) bezeichnet. Der Vorteil: Nutzer können gezielt den Inhalt ausleihen, für den sie sich interessieren; die Leihgebühr ist aber im Vergleich zur Abogebühr bei SVoD meist eher hoch. Vor allem die Nutzerzahlen bei SVoD sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, während Film- und Serienfans in Deutschland kaum noch physisch Medien ausleihen. Sterben Videotheken also aus?

Das Videothekensterben? Eine “Self-fulfilling prophecy”

Fragt man Dr. Tobias Haupts nach dem “Aussterben” von Videotheken, so befindet dieser, es handele sich hierbei um eine Art “Self-fulfilling prophecy” – also eine Art Vorhersage, die ihre Erfüllung selbst bewirkt. Haupts ist Filmwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Promoviert hat er mit einer Arbeit über die Geschichte und mediale Praxis der Videothek. Schon als er 2009 mit seiner Forschung begann, sei ihm regelmäßig die Frage gestellt worden, warum er sich mit der Videothek beschäftige – schließlich gebe es diese doch bestimmt eh nicht mehr lange. “Man kann nicht aus der Geschichte heraus fragen, ob Geschichte antizipierbar ist”, sagt Haupts. Er verweist unter anderem auf Plattenläden, die auch heute noch Bestand hätten.

Videotheken haben in der Vergangenheit schon einiges durchstehen müssen. So wurde beispielsweise 1985 das Jugendschutzrecht verschärft: Nach hitzigen Debatten mussten Videotheken einen Vorhang in ihre Schaufenster hängen, Jugendliche hatten nur noch einen eingeschränkten Zugang zu den angebotenen Filmen. Das hat laut Haupts dazu geführt, dass die Videotheken so noch eher in die Nähe von Wettbüros und ähnlichen Lokalen gedrängt wurden – und eher distanziert zu zentralen Lagen. Auch Pornos spielen eine große Rolle, sagt Haupts: “Pornos haben Videotheken groß gemacht, aber gleichzeitig in Verruf gebracht”. Dieses Angebot werde auch heute noch genutzt  größtenteils allerdings von der älteren Generation, während die jüngere Generation auch zu diesem Zweck ins Internet abwandert.

Die Nische erhalten: Videotheken als Filmarchiv

In der Kölner Innenstadt hat Florian Prasser gerade seinen Dienst begonnen. Er fährt den PC hoch und säubert die Kaffeemaschine, begrüßt Laufkundschaft. Florian Prasser arbeitet in der Traumathek. Sie versteht sich als Programmvideothek: Weniger Mainstream, mehr Filmkunst. 1994 wurde sie gegründet. Das Ziel: Independent- und Alternatives Kino aus der ganzen Welt zu unterstützen. Florian Prasser war zunächst ein Stammkunde der Traumathek. Seit sechs Jahren arbeitet er jetzt in verschiedenen Funktionen für die Videothek. Heute Abend steht ein Film-Screening im eigenen kleinen Ladenkino auf dem Programm, für die Florian Prasser jetzt die letzten Vorbereitungen trifft.

Florian Prasser arbeitet in der Traumathek Köln.

Die aufstrebenden Streamingdienste haben die Kundschaft in der Traumathek verändert. “Früher kamen die meisten Leute aus dem Viertel, das ist mittlerweile nicht mehr so”, erklärt er. “Das Publikum ist gemischter geworden.”. Der Fokus bei Streamingdiensten sei ein anderer, sie seien mehr eine Art Fernsehsender mit eigenem Angebot, während die Traumathek den Anspruch habe, eine kuratierte Sammlung mit historischem Fokus zu bieten. “Wie es sich im Moment scheint, ist das der Weg, in den der DVD- und Blu-ray-Markt einbiegt”, sagt Prasser, “dass es sich mehr an ein interessiertes Laien- oder Experten-Sammler-Publikum richtet”.

Wir fahren jetzt in Grunde genommen dreigleisig: Der Verleih, der Café-Bereich, das Ladenkino.“

Trotzdem geht die Entwicklung der Branche nicht an den Programmvideotheken vorbei. Auch die Traumathek habe Zeiten, in denen weniger ausgeliehen wird. “Wir fahren jetzt im Grunde genommen dreigleisig: Der Verleih, der Café-Bereich, das Ladenkino”, sagt Florian Prasser. Neben den klassischen Ausleihen kommt so über das Café im vorderen Bereich der Videothek oder aber über Vorführungen im Ladenkino mit nur 30 Plätzen zusätzliches Geld in die Kasse.

Gibt es also noch Hoffnung für die letzten verbliebenen Videotheken in Deutschland? Ist die Nachfrage für die Nische groß genug? Prasser sieht es eher nüchtern: “Es ist am Ende eine Frage, wie sehr die Leute filmkulturell interessiert sind. Weil das, was solche Läden zu bieten haben, findet man sonst tatsächlich nirgendwo”.

Beitragsbilder/Grafiken: Maik Haubrich

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