Medizin und Ozeanforschung: Auf der Spur neuer Wirkstoffe und Diagnoseverfahren

Anton Eisenhauer forscht seit Jahren zur Geschichte des Ozeans. Er ist Professor für Marine Umweltgeochemie und arbeitet am Geomar-Helmholtz-Institut für Ozeanforschung in der Arbeitsgruppe für Marine Isotopensysteme. Er sagt: „Alles, was im Meer relevant ist – die ganzen biochemischen Prozesse –, läuft auch im Kleinen in unserem Körper ab.“ Eisenhauer und andere Expert*innen wollen diese Analogien nutzen: Mit ihrem Wissens über das Meer sowie dessen Lebewesen wollen sie die Medizin voranbringen und neue Therapiemethoden und Medikamente entwickeln.

Sie und Ihre Kolleg*innen übertragen Erkenntnisse aus der Ozeanforschung auf die Medizin. Wie ist die Idee entstanden?

Prof. Dr. Anton Eisenhauer (GEOMAR) hat, mithilfe von Parallelen zwischen Knochen und Korallen, neue diagnostische Ansätze in der Medizin gefunden.

Ich habe jahrzehntelang an Methoden geforscht, mit denen wir die Klima- und Umweltbedingungen der Vergangenheit rekonstruieren können. Wir konnten zum Beispiel die Temperatur des Meerwassers aus fossilen Korallen bestimmen. Außerdem können wir untersuchen, wie sich die steigenden Meerestemperaturen auf die Korallen-Gesundheit auswirken. Immer mal wieder ist dabei die Frage aufgekommen, ob es Möglichkeiten gibt, dieses Wissen, diese Technologien und Methodiken in der Humanmedizin anzuwenden. Denn alles, was im Meer relevant ist – die ganzen biochemischen Prozesse – ,läuft auch im Kleinen in unserem Körper ab. Das haben wir der Evolution zu verdanken. In einer langen Nacht mit Kollegen in einer Kneipe haben wir dann tatsächlich überlegt, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede Menschen und Korallen haben. Vor allem beim Knochenwachstum sind uns Ähnlichkeiten aufgefallen. So ähnlich wie wir anhand der Korallen Messdaten erhalten, geht das auch mit Knochen. Statt der Meerestemperatur erhalten wir dann eben Hinweise darauf, ob der Patient möglicherweise unter Calciumverlust leidet. Das weist auf die Krankheit Osteoporose hin.

Inwiefern haben Sie den Ansatz danach weiterverfolgt?

Wir haben das Forschungsbündnis „BlueHealthTech“ als Plattform für weitere Entwicklungen in dieser Richtung gegründet. Da forschen wir aber nicht nur an Osteoporose, sondern versuchen generell Techniken und Methoden der Meeresforschung auf die Medizin zu übertragen. Wir gehen auch der Frage nach, welche bioaktiven Substanzen aus dem Meer als Wirkstoffe in der Medizin angewandt werden könnten.

Legen Sie dabei den Fokus auf bestimmte Krankheiten?

Wir fokussieren uns auf die Diagnostik der sieben häufigsten chronischen Krankheiten: Das sind Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen, Stoffwechselkrankheiten, psychische Erkrankungen, Bluthochdruck und neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer. Den Fokus haben wir auch deshalb, weil er für das deutsche Gesundheitssystem sehr relevant ist.

Warum?

Deutschland gibt allein für die Behandlung dieser Krankheiten jedes Jahr ungefähr 221 Milliarden Euro aus. Forschungsgelder sind dort noch nicht inbegriffen. Selbst, wenn wir auf Dauer durch unsere Forschungsergebnisse nur zehn Prozent der Behandlungskosten einsparen könnten, wäre das schon eine riesige Summe. Der Anspruch ist es, Methoden zu entwickeln, bevor Symptome auftreten. Im heutigen Gesundheitswesen werden Krankheit meistens erst dann behandelt, wenn das Symptom da ist. Das ist aber oft schon zu spät. Wir wollen jetzt mit Technologien, die ursprünglich aus den Meereswissenschaften kommen, neue Diagnosetools entwickeln. Marine analytische Methoden sind sehr sensitiv und können Veränderungen schon sehr früh erkennen.

Medizin aus dem Meer: Kein blaues Wunder, sondern Realität.

Können Sie dafür ein Beispiel aus der Praxis nennen?

Zum Beispiel die Früherkennung von Osteoporose. Wir schauen uns dabei den Calcium-Gehalt im Blut und im Urin an. Dieser ist ein direktes Maß dafür, ob in das Skelett mehr Calcium rein-, als rausgeht. Der Calcium-Stoffwechsel ist ein dynamischer Prozess: Jeden Tag wird in den Knochen etwas angelagert und löst sich dann aber auch wieder auf. Verliert eine Person über einen langen Zeitraum mehr Calcium, als sie aufbaut, mündet der Prozess in der Krankheit. Das heißt, bei Menschen, die noch gar nicht über Osteoporose nachdenken, ist schon Jahre vorher erkennbar, ob sie die Krankheit später bekommen werden oder auch nicht. Meine Utopie ist, dass es die Krankheit Osteoporose nicht mehr geben muss, wenn man vorsorglich einen Test macht.

Wie sieht das denn mit Arzneimitteln aus: Gibt es schon Stoffe aus dem Meer, die Potential für einen pharmazeutischen Wirkstoff gezeigt haben?

Ja, gerade bei Fucoidanen – Stoffe, die in Braunalgen zu finden sind – gibt es viele Hinweise auf eine entzündungshemmende Wirkung. Die sind allerdings noch nicht als Medikament zugelassen, weil sie noch nicht umfangreich genug untersucht wurden. Darauf wollen wir aufbauen. Aber gerade in neuen Forschungsbereichen ist die Weiterentwicklung von Wirkstoffen und Therapiemethoden nicht so leicht. Man muss sehr viele rechtliche Rahmenbedingungen beachten und es ist nicht einfach, an Fördermittel zu kommen. Hier wollen erreichen, dass die marinen Wirkstoffe in ein Stadium kommen, die sie dann für größere Pharmaunternehmen interessant machen.

Wie sind die Erwartungen und Hoffnungen bei Ihrem Forschungsbündnis BlueHealthTech, was die Entwicklung von Arzneimitteln angeht?

Die größte Hürde ist – und da setzt BlueHealthTech an – den Schritt zu machen vom „Proof-of-Principle“ hin zu einer klinisch validierten Wirkung. Proof-of-Principle-Studien sind kleinere Studien, in denen ein Stoff seine Wirksamkeit bei einer überschaubaren Studiengröße nachweisen muss. Darauf folgen weitere Phasen von klinischen Studien, die die Wirksamkeit und mögliche Anwendungen im klinischen Alltag aufzeigen sollen. Die sind wiederum notwendig, damit ein Wirkstoff am Zulassungsverfahren für Medikamente teilnehmen kann. Klinische Studien sind allerdings teuer und risikoreich. Das Risiko geht die Pharma-Industrie eher ein, wenn bereits konkrete Wirksamkeitsnachweise vorliegen durch Proof-of-Principle-Studien. Die fehlen aber bei marinen Stoffen häufig. Meistens gibt es dazu nur Studien an Zelllinien, die höchstens einen Trend aufzeigen, aber noch nicht aussagekräftig genug sind, um als Grundlage einer klinischen Studie zu dienen.

Bisher sind kaum Wirkstoffe, die aus dem Meer stammen, tatsächlich als Medikament auf dem Markt. Warum glauben Sie, dass das dieses Mal gelingt?

Die bisherigen Ansätze hatten selten das Ziel, ein Medikament zu entwickeln, sondern dienten meistens dazu, eine mögliche medizinische Anwendung aufzuzeigen. Alles ist auf Zellebene stehen geblieben und Publikationen waren teilweise sogar widersprüchlich. Genau da wollen wir ansetzen und die Wirksamkeit der Stoffe in klinischen Vorstudien wirklich repräsentativ und statisch signifikant testen, um dann den Daumen zu heben oder zu senken. Im ersten Fall ist das Medikament zwar auch noch nicht da, das Risiko für ein Pharmaunternehmen, in weitere klinische Studien zu investieren, ist aber dann schon deutlich geringer als vorher.

 

Fucoidane

Die Besonderheit der Braunalge

Nicht nur das Forschungsteam von BlueHealthTech interessiert sich für Fucoidane. Auch das Projekt „FucoSan“, hinter dem ebenfalls Forschende aus Kiel stehen, verspricht sich viel von der Substanz.

Diese versteckt sich in Braunalgen und davon gibt es in der Kieler Förde eine ganze Menge. Fucoidane sind langkettige Zuckermoleküle. Sie sollen mitunter entzündungshemmend wirken und bei Knochenbrüchen sowie Augenerkrankungen helfen. Zwar konnten viele Basisstudien tatsächlich eine entzündungshemmende Wirkung zeigen, aber die Lage der klinischen Studien ist noch dünn.

Mögliche Wirkstoffe aus den Meeren
Das Meer hält noch viele Geheimnisse im Verborgenen – auch wirksame Stoffe für die Medizin.

FucoSan wollte in den vorigen Jahren „Voraussetzungen für eine kommerzielle Nutzung der Fucoidane in den Bereichen der Augenheilkunde und der Gewebeersatzmethoden für die Knochenheilung schaffen“. So steht es im Abschlussbericht. Im Projektfilm beschreibt die Projektkoordinatorin Alexa Klettner vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Braunalgen als Schatz, der direkt vor der eigenen Tür liegt. Was ist aus dem Schatz geworden? Ein Medikament für die Makuladegeneration, eine Augenkrankheit, die im Fokus der Forschung stand, gibt es noch nicht. Die Entwicklung eines neuen Medikamentes brauche allerdings auch viele Jahre. Es wäre unrealistisch gewesen, innerhalb von einer dreijährigen Projektlaufzeit ein Medikament entwickeln zu wollen, schreibt Klettner dazu in einer E-Mail. „Wir haben aber Ergebnisse, die uns in die nächste prä-klinische Entwicklungsphase bringen, was genau das war, was wir gehofft hatten.“ Ihr Ziel sei es gewesen, ein bioaktives Fucoidan zu finden, das für eine Weiterentwicklung zu einem Therapeutikum geeignet ist – gefunden haben sie sogar zwei. Mittlerweile bekommen die Forschenden Förderungen für die weitere Entwicklung beider Substanzen. Im nächsten Schritt müssen die Laborergebnisse auf die Situation in lebenden Organismen übertagen werden.

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Eine kleine Schnecke mit großer Wirkung.
Eine kleine Kegelschnecke, die eine große Wirkung haben kann.

Klassischerweise werden in der Schmerztherapie Opioide wie Morphium eingesetzt. Gerade für Patient*innen mit chronischen Schmerzen besteht die Gefahr, abhängig davon zu werden. Einen alternativen Wirkstoff liefert das Gift der im Meer lebenden Zauberkegelschnecke (Conus magus). Seit 2005 ist Ziconotid für die Behandlung von Schmerzen in Europa zugelassen. Das Schneckengift hat einen anderen Wirkmechanismus als klassische Opioide: Die Substanz blockiert den Schmerz bereits im Rückenmark und nicht erst im Gehirn und macht deshalb weniger abhängig. Es wird meist bei chronischen Schmerzpatient*innen eingesetzt und ihnen ins Rückenmark injiziert.

Eine weitere Meeresbewohnerin, die für die marine Medizin interessant ist, ist die Seescheide Ecteinascidia turbinata. Sie liefert den Stoff Trabectedin, der in einem Krebsmedikament enthalten ist. 2007 ließ die Europäische Arzneimittel-Agentur das Medikament zur Therapie von Eierstockkrebs zu. Die Substanz wirkt auf den Zellzyklus und kann so die schnelle Teilung von Krebszellen verhindern und damit das Wachstum des Tumors.

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