„Das Theater ist ein Ort, an dem man sich verzaubern lassen kann“

Theaterhäuser sollen auch in Zukunft bestehen bleiben. Der Meinung sind viele junge Menschen. Und das, obwohl die meisten nicht hingehen. Was müssen Theater tun, um das zu ändern? Antworten haben Kulturexpertin Dorothea Gregor und das Theater im Depot in Dortmund.

Frau Gregor, im Mai erschien im Auftrag der Bertelsmann Stiftung die Befragung „Relevanzmonitor Kultur“ des Liz Mohn Centers. Darin legen Sie dar, dass wenige junge Menschen zwischen 18 und 29 ins Theater gehen. Woran liegt das?

Unsere Befragung hat ergeben, dass viele überhaupt nicht wissen, was in den Theaterhäusern angeboten wird. Die Angebote kommen medial nicht dort an, wo die jungen Menschen sind, nämlich auf den Social-Media-Plattformen. Das Theater ist aus meiner Sicht nicht präsent genug in unserer Gesellschaft, so wie das noch vor 30 Jahren der Fall war. Aber wir haben gesehen, dass die grundsätzliche Bereitschaft, ins Theater zu gehen, da ist. Eine andere große Schwelle ist, dass sie nicht wissen, wie sie sich im Theater richtig verhalten sollen oder ob das überhaupt etwas für sie ist. Das sind Dinge, die man nicht den einzelnen Menschen oder dem Umfeld, aus dem sie kommen, anlasten kann. Die Theaterinstitutionen müssen etwas tun, damit sie nicht nur als ein Musentempel wahrgenommen werden. Es geht um eine Öffnung in die Gesellschaft.

Kulturexpertin Dorothea Gregor. Foto: Bezim Mazhiqi

Was geht für junge Menschen verloren, wenn diese die Angebote der Theater nicht nutzen?

Ich denke, dass kulturelle Bildung junger Menschen unglaublich wichtig für ein Demokratieverständnis und für allgemeine Bildung ist. Außerdem geht ihnen ein emotionales Erlebnis verloren, das es so nur im Theater gibt. Das kann man nicht direkt mit anderen pop-kulturellen Angeboten wie Konzerten vergleichen. Das gemeinsame Live-Erlebnis von Stücken, die aktuell sind, die es aber auch schon viele Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte gibt, ist etwas Besonderes. Da haben Menschen einen Raum, um sich emotional ansprechen zu lassen. Ich finde das sehr greifbar, sehr echt. Das Theater ist ein Ort, an dem man sich verzaubern lassen kann. In unserer Befragung haben viele gesagt, dass sie Theatererlebnisse in ihrer Kindheit und Jugend als etwas Positives in Erinnerung haben. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass sie dort in eine andere Welt eintauchen und daraus viel für sich mitnehmen können.

Trotz allem gibt es junge Menschen, die gerne am Theater sind. Eine davon ist Yagmur Cihan. Sie ist 20 und seit zwei Jahren am Theater Dortmund. Angefangen hat sie in einer Improvisationsgruppe, dann folgten einige Theaterstücke im Jugendclub. Im Januar stand Yagmur dann in dem Stück „Die Not steht ihr gut“ zum ersten Mal mit erfahrenen Schauspieler*innen auf der Bühne, von denen sie viel lernen konnte. „Es ist sehr schön, auf der Bühne zu sein. Ich kann mich in andere Rollen hineinversetzen und werde selbstbewusster“, sagt Yagmur. Aber sie sitzt auch gerne im Publikum. Durchs Zuschauen kann Yagmur viel für sich mitnehmen. So verbildlichen viele Theater zum Beispiel Literatur aus der Schule. Aber Theater ist noch mehr für Yagmur. „Das ist ein kreativer Ort. Theater hat eine besondere Ausstrahlung, die ich gar nicht richtig in Worte fassen kann.“ Bald fängt Yagmur an einer Filmschauspielschule in Köln an und kommt so ihrem Traum, Schauspielerin zu werden, ein Stückchen näher.

Welche Funktion hat das Theater allgemein für die Gesellschaft?

Theater sind Orte, in denen Themen auf die Bühne gebracht werden, die eine allgemeine Gültigkeit haben und relevant für viele sind. Es geht um die großen menschlichen Themen wie Liebe, Tod, Freundschaft, Beziehungen. Und es geht um gesamtgesellschaftliche Themen wie das Zusammenleben in allen möglichen Formen, Gerechtigkeit, Moral. Schon Schiller hat sehr viel über das Theater als moralische Anstalt geschrieben. Und das ist es bis heute geblieben. Ich glaube, dass ein Theater heutzutage vor allem die Funktion erfüllt, die vielfältige Gesellschaft, in der wir leben, zu repräsentieren und zusammenzuführen. Letzten Endes machen alle Menschen in ihrem Leben früher oder später ähnliche Erfahrungen. Es ist wichtig, einen Ort zu haben, der sich künstlerisch und auf hohem Niveau damit befasst. Außerdem ist das Theater ein Ort, an dem man sich in Figuren hineinversetzen kann. Das stärkt die Empathiefähigkeit. Man weitet seinen Blick auf andere Menschen und nimmt unterschiedliche Perspektiven ein.

Ergebnisse der Befragung „Relevanzmonitor Kultur“
Angebote in Theaterhäusern sollen für kommende Generationen erhalten bleibenAngebote in Theaterhäusern
sind ein wichtiger Teil meines Lebens
Die meisten Angebote in Theaterhäusern richten sich nicht an Menschen wie michIch weiß nicht, wie ich mich in Theaterhäusern richtig verhalten soll

Ihre Studie hat gezeigt, dass sich zwei Drittel der Befragten zwischen 18 und 29 wenig für Theateraufführungen interessieren. Trotzdem ist es einem Großteil der Befragten wichtig, dass kulturelle Angebote in Theaterhäusern erhalten bleiben. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Ich glaube, das ist ein bisschen wie: „Umweltschutz ist wichtig, aber ich möchte trotzdem weiter Autofahren.“ Die Menschen finden es gut, aber es hat letzten Endes keine Auswirkung auf den Alltag. Wir wissen nicht genau, was die Ursachen sind, aber finden es gut, dass diesen Angeboten überhaupt noch so eine große Wichtigkeit zugeschrieben wird. Irgendwo gibt es wahrscheinlich eine Sehnsucht nach diesem gemeinschaftlichen Ort, an dem sich die Menschen begegnen, an dem sie sich austauschen können und etwas erleben.

Stimmen Sie dem Eindruck der jungen Menschen zu, dass viele Theater selten an die junge Zielgruppe denken?

Das kann ich so nicht sagen. Es gibt viele Angebote für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene und viele Theater machen damit gute Erfahrungen. In den meisten Theaterhäusern gibt es inzwischen Personal für Vermittlung und Education. Meiner Meinung nach müssen diese Menschen mehr zu sagen haben und in Spielplan-Entscheidungen einbezogen werden. Sie sind schließlich diejenigen, die am nächsten an der Zielgruppe dran sind. Es passiert schon viel, aber es könnte noch viel mehr passieren, vor allem auf eine weniger pädagogische Art. Wenn Menschen von etwas total begeistert sind, dann verbreitet sich das, indem ihre eigene Begeisterung auf andere überschwappt. Die Theater müssen jetzt ihre Hausaufgaben machen und gute Angebote für alle schaffen, sodass die Menschen Lust haben, hinzugehen. Und irgendwie sollten sie auch ein bisschen cooler werden.

Das Theater im Depot in Dortmund hat seine Hausaufgaben schon gemacht. Das Programm orientiert sich sehr an der jungen Zielgruppe. Bernhard Siebert, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit, sagt, dass die Arbeit mit jungen Menschen schon immer Teil des Konzeptes des Hauses war, aber bei der Neustrukturierung im Jahr 2021 noch stärker in den Vordergrund gerückt ist. Das Theater stehe in engem Austausch mit Vertreter*innen von Kitas und Schulen. „Wir wollen den Austausch jetzt noch offener gestalten. Dass sie sogar mitbestimmen können, nicht nur bei Themen, sondern auch bei Formaten.“ Statt mit einem festen Konzept zu arbeiten, hat das Theater es Stück für Stück entwickelt. So konnte es schauen, was die Zielgruppe wirklich braucht und will. Dass hauptsächlich junge Menschen zu ihnen ins Theater kommen, hat nach Bernhard Siebert aber noch andere Gründe. Die Gruppen, die im Theater auftreten, sind meist selbst sehr jung, wie zum Beispiel das Queere Theater Kollektiv. Das ist für viele etwas Besonderes. Das klassische Sprechtheater gibt es zwar noch, aber viele Gruppen machen „eher ein Theater, was ein bisschen fresher daherkommt“, sagt Siebert. Manche Stücke seien experimenteller und wilder, andere ruhiger. Auch Tanzstücke sind im Programm. Eine bunte Mischung.

Welche Möglichkeiten haben Theater konkret, um junge Menschen für sich zu begeistern?

Kommunikation und Marketing sind wichtig, sodass die Zielgruppe die Angebote wahrnimmt. Darauf muss ein viel größerer Schwerpunkt gelegt werden. Theater können zum Beispiel die Programminformationen über Social Media teilen oder, noch besser, eigene Formate für Social Media entwickeln. Einfach dort stattfinden, wo die Zielgruppen sind. Außerdem müssen sie durch ein sozial gerechtes Preisgefüge dafür sorgen, dass alle Menschen sich Theater leisten können. Das wünscht sich auch ein Großteil der Befragten unseres Relevanzmonitors. Dann geht es um partizipative Angebote. Menschen wollen sich nicht nur berieseln lassen, sondern ein Teil des Theaters sein. Theater sollten auch Möglichkeiten für Auftritte von Laien-Orchestern oder -Theatergruppen schaffen und mit Gruppen und Ensembles aus der Freien Szene sprechen, um Synergien zu schaffen. Eine dringende Handlungsempfehlung wäre auch, die Theaterhäuser zu öffnen. Da gibt es viele kreative Möglichkeiten. Das Theater Basel zum Beispiel hat ein tolles Konzept für das Theaterfoyer. Da gibt es Bühnen, auf denen Menschen nicht nur etwas aufführen können, sondern auch Hip-Hop-Unterricht geben können. Oder es gibt mal eine Hausaufgabenbetreuung. Die Menschen können sich dort tagsüber aufhalten, ohne zwangsläufig etwas konsumieren zu müssen wie etwa in einem Café und dazu noch abends ins Theater gehen.

Vieles davon setzt das Theater im Depot um. Um junge Menschen zu erreichen, arbeitet es viel mit Social Media und verlost regelmäßig Tickets. Auch Partizipation ist ein wichtiger Bestandteil. Das Theater im Depot ist ein Koproduktionstheater. Statt eines festen Ensembles treten dort Laiengruppen und Gruppen der Freien Szene auf. Außerdem proben und entwickeln diese im Theater ihre Stücke. Bei Interesse verweist Bernhard Siebert Jugendliche und junge Erwachsene an diese Gruppen. Gerade arbeitet das Theater daran, gemeinsam mit dem Theaterpädagogik-Team Birgit Götz, Steffen Moor und Hannah Löwer regelmäßige Angebote für Jugendliche anzubieten und längerfristige Kooperationen aufzubauen. Auch gehen viele Formate im Theater weg von der klassischen Bühnenshow und laden Menschen dazu ein, sich zu beteiligen, wie die Discofunk Jam, ein Tanzworkshop mit Performances. Regelmäßig findet außerdem ein Abend zum Kochen und Musik hören statt. Im A29, einer umgebauten Garage, können Menschen zusammenkommen und sich austauschen. „Wir haben ein Verständnis von Theater als Begegnungsort“, sagt Bernhard Siebert.

Es gibt also einiges, was Theater verändern können. Wie sieht es mit Handlungsempfehlungen an die Politik aus?

Die Träger der Theaterinstitutionen müssen auch in Zeiten von klammen Kassen die Finanzierung sichern. Meistens sind das Länder oder Kommunen. Außerdem sollten die politischen Entscheidungsträger*innen dafür sorgen, dass in der Kulturpolitik Menschen tätig sind, die verstehen, wie die Institution Theater funktioniert. Das ist ein komplexes System. Die Politik sollte auch Förderkriterien überdenken. Sind Auslastungszahlen wirklich das Nonplusultra, aufgrund derer ein Theater eine Förderung bekommt oder nicht? Zumal Theater diese Zahlen sehr unterschiedlich interpretieren können. Wenn ein Theater einen Rang zumacht, statt 1000 Plätzen nur noch 600 hat und dann 590 Karten verkauft, ist die Auslastung bei fast 100 Prozent. Dabei habe ich 400 Plätze gar nicht angeboten. Natürlich ist es wichtig, zu sehen, ob die Menschen das Angebot annehmen. Aber es ist genauso wichtig, zu gucken, wie divers und partizipativ das Angebot ist oder ob es bestimmte Besonderheiten in der Spielplangestaltung oder in der Führung des Hauses gibt. Das wären für mich hundertmal interessantere Kriterien als reine Auslastungszahlen.

Eine besondere Art der Spielplangestaltung ist im Theater im Depot für das kommende Jahr geplant. Ein Gremium aus Kindern und Jugendlichen soll dann nach und nach mitentscheiden können, was im Haus passiert, und selbst Themen vorschlagen. Aktuell diskutiert das Theater, wie sich so etwas gut realisieren lässt. „Gerade die pädagogisch erfahrenen Leute sagen, es ist nicht so einfach, so eine Verantwortung abzugeben. Das kann ein großer Druck sein“, sagt Bernhard Siebert. Die Jugendlichen müssten selbst viel kennen und viele Stücke gesehen haben, um sinnige Entscheidungen zu treffen.

Was sagen Sie zu einem solchen Ansatz, bei dem junge Menschen am Theater Entscheidungen treffen dürfen?

Grundsätzlich ist die Idee gut. Aber man muss natürlich gucken, wer diese Jugendlichen sind. Aus meiner Sicht geht es nicht nur darum, den Nachwuchs der bildungsnahen Mittelschicht abzubilden, sondern alle Stimmen. Das heißt zum Beispiel auch, in einer Stadt gezielt Leute aus einer migrantischen Community mit reinzunehmen und sie zu fragen, was ihnen wichtig ist und was deren Themen sind. Genauso die LGBTQ-Community. Zu gucken, dass Theater möglichst unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen reinholen, wäre next level. Aber der Ansatz ist super.

 

Beitragsbild: Fabian Linden/Theater im Depot

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