Thomas Zigahn erschafft aus vermeintlichem Müll einzigartige Upcycling-Produkte: Gürtel aus Fahrradreifen, Ringe aus Besteck oder Notizbücher aus alten Buchcovern. In seinem chaotischen Atelier gibt es keine Deko, sondern nur Praktisches.
Thomas Zigahn öffnet die Tür seiner kleinen Arbeits-Wohnung in der Rheinischen Straße im Dortmunder Zentrum. Der Mann mit freundlichem Blick, grauen Haaren und angedeutetem Irokesenschnitt setzt sich an seinen Schreibtisch. Sein Auftreten wirkt bedacht und zurückhaltend. Auf dem Plakat im Arbeitszimmer steht „sexistische Kackscheiße“. Die Wände sind voll mit Regalen und dort wiederum stehen schon Kisten bereit für die Kreativmesse in Frankfurt. Verschiedenes Material liegt auch auf den Tischen und auf dem Boden: Buchumschläge, Kicker-Männchen, Briefmarken.
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Wie in einem Kinderzimmer mit Legosteinen auf dem Boden müssen sich die Füße einen Weg bahnen, ohne auf etwas zu treten. Den Künstler stört das Chaos nicht. Ganz im Gegenteil, hier hat alles seinen Platz. „Ich will kein größeres Atelier, das würde nach zwei Wochen genauso vollstehen“, erklärt er. Thomas Zigahn macht sich einen Kaffee. Er ist entspannt. Ihm ist nicht anzusehen, dass er gerade von einer elftägigen Messe in Solingen kommt, wo er täglich acht Stunden lang am Stand verkauft hat.
Upcycling aus Überzeugung: Tanz auf Ruinen
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Unter dem Namen „Tanz auf Ruinen“ bietet er seit etwa zwölf Jahren Upcycling-Produkte an; etwa Gürtel aus Fahrradreifen, Gitarren-Plektren aus alten Bankkarten und Ringe aus Besteck. Er fährt damit auf Messen und Märkte. Zusätzlich macht er Kunstwerke, gibt Workshops und betreibt einen Online-Handel. Er verkauft Amulette aus Münzen, Flaschenöffner aus Tischkicker-Figuren und Schlüsselbretter aus Schlüsseln. Die Materialien für seine Projekte waren nur noch für die Mülltonne oder zumindest für den Dachboden bestimmt. Auf seiner Website ruft Thomas Zigahn dazu auf, ihm Wegwerfprodukte wie alten Nagellack, Briefmarken und Kicker-Figuren zu überlassen. Thomas Zigahn erklärt: „Ich versuche, das kaputte Material umzunutzen. Wenn man Dinge länger nutzt, kann man Ressourcen und Geld sparen.“ Schon als Kind reparierte er mit seinem Vater Fernseher und Radios. Löchrige Hosen schmiss die Familie nicht weg, sondern flickte sie.
Für den Upcycling-Ring putzt Thomas Zigahn eine Gabel, schneidet sie in der Mitte durch und schleift das Ende ab. Er verarbeitet die ganze Gabel, bei diesem Ring aber sind die Zähne der Gabel nicht dabei. Die Ringe sind Maßanfertigungen. Dafür braucht Zigahn einen Ringmaßstab. Das Material biegt er so lange, bis er die richtige Ringgröße erreicht hat. Thomas Zigahn muss mit einem Hammer nachhelfen. Der fertige Ring erinnert nur noch entfernt an seinen Ursprung.
Vom Jugendzentrum zur Selbstständigkeit
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Der 43-Jährige arbeitet bis 2013 im Jugendzentrum. Dort leitet er Projekte zum Thema Müll. Die Idee, Upycling-Produkte anzufertigen, kam ihm in Berlin auf einem Flohmarkt. „Ich habe dort jemanden gesehen, der aus Fahrradreifen Gürtel gemacht hat. Da habe ich mir gedacht: Das kann ich auch. Aber die ersten zehn Gürtel sahen katastrophal aus.“ Thomas Zigahn besorgt sich professionelles Werkzeug, probiert aus und wird besser.
Er merkt: Mit dieser Arbeit kann er Geld verdienen. „Irgendwann wollten Freunde etwas von den Produkten kaufen, dann haben Freundesfreunde gefragt und Freundes-Freundesfreunde und so weiter.“ Seinen Job im Jugendzentrum kündigt er, schreibt einen Businessplan und bereitet seine Selbstständigkeit vor. Lehrgänge zur Buchhaltung gehören auch dazu. In den ersten Jahren nach der Gründung von „Tanz auf Ruinen“ gibt es große Probleme, so erzählt es Thomas Zigahn. Er muss sich zunächst ein Netzwerk aufbauen. „Das passiert ja nicht nur weil ich jetzt sage: Hey, mich gibt es jetzt. Kommt alle zu mir! So läuft es nicht.“ Bei der Akquise ist er auf sich allein gestellt, die Umsätze bleiben aus. Er muss jede Chance ergreifen, dabei sein, reisen. Hin und wieder helfen ihm Freund*innen am Stand. Doch die Umsätze bleiben aus. 2013 erfährt Upcycling einen medialen Aufschwung. „In dem Jahr gab es ganz viele Neugründungen im Themenbereich Upcycling. Die gibt es heute fast alle nicht mehr.“
“Die häufigste Aussage am Stand ist: Das kann ich ja selbst machen”
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„Tanz auf Ruinen“ bleibt, wird ein Jahr später offiziell zur Marke und zu einer sicheren Einnahmequelle. Bei Workshops können sich Gruppen jeden Alters im Upcycling ausprobieren. Hin und wieder fragen Firmen einen Workshop an. Denen sagt Zigahn nur dann zu, wenn er sich sicher ist, dass kein Greenwashing betrieben wird. „Wenn da irgendeine Tabakfirma anfragt, dann sage ich halt: Ey sorry Leute, ihr könnt keinen Nachhaltigkeits-Workshop machen, weil euer Betrieb überhaupt nicht nachhaltig ist.“
Thomas Zigahn möchte die Menschen dazu motivieren, aktiv zu werden. „Die häufigste Aussage am Stand ist: Das kann ich ja selbst machen. Ich denke mir: Ja, du kannst alles selbst machen. Du machst es aber nicht.“ In den Workshops vermittelt er den Teilnehmer*innen, dass sie einfach anfangen müssen. „Beim ersten Mal wird es nicht perfekt aussehen. Das ist es aber nie, wenn man mit etwas anfängt.“
Freiheit und Zufriedenheit im Minimalismus
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Thomas Zigahns Leben ähnelt seinem früheren Alltag als Student. Er wohnt in einer WG und besitzt kein Auto. Er kauft sich kaum neue Dinge. Das meiste bekommt er aus Umsonstläden und Tauschregalen. Er steht auf, wenn er aufwacht und arbeitet so lange, bis die To-Do-Liste abgearbeitet ist. Dabei plant er sein Leben nicht weit im Voraus. „Ich weiß, was ich an diesem Wochenende mache. Nächste Woche habe ich keine Termine. Da werde ich entweder neue Produkte herstellen oder frei nehmen.“
Die Möglichkeit, sein Leben frei zu gestalten, erfüllt ihn. „Ich muss halt Geld verdienen, damit ich meine Miete zahlen kann.“ Zigahn kann mittlerweile gut einschätzen, wie viel er für welches Produkt verlangen kann und wann das Honorar für einen Workshop zu gering ist. „Das ist kein Job, mit dem man viel Geld verdient, aber es reicht. Ich muss davon existieren und mir vielleicht auch mal einen Urlaub oder ein Paar neue Schuhe gönnen können.“
Für ein Upcycling-Notizbuch verwendet Zigahn alte Buch-Cover. Einige davon waren einmal Romane von Karl May. Die meisten Cover sind von Kinder- und Jugendbüchern. Alle haben ein eigenes Motiv. Er misst die Maße des Buchumschlags und schneidet recyceltes Papier zu. Anschließend stampft er Löcher in Papier und Buch-Cover und legt die Draht-Spiralbindung an.
“Die Grenze ist in deinem Kopf, nicht in meinem.”
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Der Kunsthandwerker hat kein Lieblingsprodukt. Auf die Artikel mit möglichst hohem Gebrauchswert ist er besonders stolz. „Meine erste Regel ist: keine Deko. Ich finde es besser, wenn Dinge wie die Fahrradreifengürtel eine Gebrauchsfunktion haben und wirklich funktionieren. Dann ist das ein geiles Produkt.“ Dabei stößt Zigahn an Grenzen. Sind Ohrringe aus Fahrradkettenteilen nicht auch Deko? Hinzu kommt, dass er nicht aus jedem Wegwerfprodukt etwas Sinnvolles designen kann. „Was soll ich zum Beispiel aus einer alten CD-Hülle machen? Die kannst du nur als Aufbewahrungsding benutzen.“ Er hat nicht den Anspruch, perfekt zu sein. „Ich habe nur den Anspruch, das umzusetzen, was irgendwie geht.“
Was irgendwie geht, ist für ihn eine vegane Ernährung seit 15 Jahren. Er sagt: „Die Grenzen der Nachhaltigkeit sind für jeden woanders und das kann ich akzeptieren. Ich habe die Fakten und weiß, warum ich vegan lebe. Andere haben die Fakten auch, aber ändern nichts an ihrer Lebensweise. Aber das bringt mich nicht zum Verzweifeln, ich kann es ja nicht ändern. Die Grenze ist in deinem Kopf, nicht in meinem.“
Von der Werkbank auf den Markt – der letzte Auftritt des Jahres
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Der Designgipfel im Depot Dortmund ist für Zigahn der letzte Termin 2024. Er hat die Tische nah am Eingang aufgebaut. Während im Atelier viel Material für die Verarbeitung ausliegt, hat er auf dem Markt die fertigen Produkte dabei. Dazu hat Zigahn zu jeder Produktart Schilder vorbereitet, auf denen die Käufer*innen Infos zu den Materialien erhalten. Ein Paar Ohrstecker trägt die Unterschrift: „Ich bin aus Fahrradkette und Nagellack. An mir ist neu: der Ohrstecker (nickelfrei).“
Mit einem freundlichen, zurückhaltenden Lächeln begrüßt er die Kundschaft. Wenn jemand etwas zum Produkt erfahren möchte, erzählt er gerne. In Zigahns Gesicht zeichnet sich Stolz auf die eigene Arbeit ab. Gleichzeitig freut er sich, dass er nach dem Designmarkt für dieses Jahr nicht mehr am Stand stehen muss. „Jetzt wird´s erst einmal entspannter. Nächstes Jahr mache ich dann neue Sachen“, erzählt er. „Ich möchte jedes Jahr mindestens zwei bis drei neue Produkte entwickeln, die im Verkauf oder im Workshop landen, damit ich nicht immer dasselbe mache.“
Freiberuflichkeit – Fluch und Segen
Thomas Zigahn weiß, wie er sein Leben verbringen will. „Ich habe halt wirklich immer noch Bock, mich hier in diesen Raum zu setzen und Dinge zusammenzubauen. Auch nach zwölf Jahren, das hört nicht auf. Ich mache das und ich will auch gar nichts anderes machen.“ Er arbeitet 60 Stunden in der Woche. Am liebsten würde er viel mehr Zeit damit verbringen, Produkte fertigzustellen. Aber das macht gerade mal ein Zehntel seiner Arbeitszeit aus, sagt er. Die meiste Zeit verbringt er mit Buchhaltung.
Trotz der Herausforderungen kann Thomas Zigahn mit Sicherheit sagen, dass die positiven Seiten überwiegen. „Ich habe die Möglichkeit, dauernd neue Dinge auszuprobieren. Und ich kann meinen Freiheitsgedanken hier ausleben.“ Der Künstler kann sich sein Leben selbst einteilen und schätzt das sehr: „Ich stehe morgens auf, wenn ich Bock habe. Ich kriege heute Abend noch Besuch, keine Ahnung wie spät es wird. Aber es ist auch vollkommen egal.“
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Fotos: Emilia Huhn