Berufsausbildung in der Krise: Was geht schief bei der Ausbildung?

Holz wird bearbeitet

Für Noah waren Überstunden von Anfang an normal. Er zog seine Ausbildung trotzdem durch. Immer mehr Auszubildende machen das jedoch nicht mit und lösen ihre Verträge vorzeitig. Die Gründe unter anderem: enttäuschte Erwartungen, Konflikte oder Ausnutzung.

Es ist 6 Uhr morgens. Noah steigt in sein Auto, um zur Arbeit zu fahren. Eine Stunde dauert die Fahrt zu der Tischlerei, die sich in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen befindet. Noah ist frisch ausgebildeter Tischler. Seine Gesellenprüfung – die Abschlussprüfung – hat er mit 1,0 bestanden. Sein Chef war von seiner Arbeit begeistert. So begeistert, dass er ihn nach seiner Ausbildung übernommen hat. Ein Happy End, könnte man meinen. Und tatsächlich ist dieser Tag für Noah ein Ende, denn er fährt das letzte Mal zur Tischlerei. Er kündigt seinen Vertrag direkt am ersten Tag.

Viele Auszubildende gehen den Schritt vom heute 28-jährigen Noah schon früher und brechen ihre Ausbildung ab, bevor sie endet. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) veröffentlicht jedes Jahr eine Quote, die angibt, wie viele der Auszubildenden ihre Verträge vorzeitig lösen. Der Report aus 2024 zeigt, dass diese Quote über die Jahre konstant gestiegen ist: 2022 lag sie bei 29,5 Prozent – zehn Jahre zuvor bei 24,4 Prozent. Damit hat 2022 fast jeder dritte Auszubildende seinen Vertrag vorzeitig gelöst. Mit einer Abbruchsquote darf diese Quote nicht gleichgesetzt werden. Hier zählt nämlich alles mit rein, weshalb ein Vertrag vor dem Ende der Ausbildung gelöst wird – neben Abbrüchen zum Beispiel auch, wenn Auszubildende den Betrieb während ihrer Ausbildung wechseln. Trotzdem gibt es eine Schnittmenge.

Wie viele Auszubildende gibt es in Deutschland?
Laut dem Statistischen Bundesamt haben 2023 mehr als 1,2 Millionen Menschen in Deutschland eine Ausbildung gemacht. In dem Ausbildungsjahr 2023/24 fanden laut der Bundesagentur für Arbeit mehr als 31.151 Menschen keinen Ausbildungsplatz. Gleichzeitig blieben 69.405 Ausbildungsstellen unbesetzt.

Wieso werden Ausbildungsverträge oft früher gelöst? 

Die Gründe für eine vorzeitige Lösung der Verträge sind vielfältig. Eine Untersuchung des BIBB aus 2020 zeigt: Bei mehr als der Hälfte der Auszubildenden entspricht die Ausbildung nicht ihrem Wunschberuf oder es gibt Konflikte in der Ausbildung. Mehr als jede dritte Person gibt an, dass die Ausbildungsinhalte unzureichend vermittelt werden. Zudem stand bereits 2014 in einer Fachzeitschrift der BIBB, dass sich fast jeder Dritte betroffene Auszubildende in der Ausbildung ausgenutzt fühlt.

Auch Noahs Kündigungsgründe finden sich in seiner Ausbildung. Er erzählt, dass er bereits im ersten Ausbildungsjahr „viel zu viel“ gearbeitet habe: „50 Stunden Minimum die Woche eigentlich. Eher auch mal mehr.“ Dabei rechnet er den einstündigen Weg zur Arbeit nicht mit ein. Noah hat sich gegenüber seinem Arbeitsgeber stark verpflichtet gefühlt, erzählt er. Schließlich habe er ihm das Handwerk gut beigebracht. Noah heißt eigentlich anders. Um ihn zu schützen, steht hier nicht sein richtiger Name.

An einem Tag fühlt er sich nicht wohl. Anstatt sich krankschreiben zu lassen, möchte er Überstunden nehmen und früher nach Hause gehen. Sein Chef habe ihn allerdings nicht gehen lassen. Noah arbeitet weiter – und schneidet sich versehentlich in die Finger. So tief, dass die Wunde heute noch sichtbar ist. Der Arzt schreibt ihn für drei Monate krank. Doch Noah fängt sehr zeitnah wieder an, bei dem Betrieb zu helfen. „Auch wieder aus Verpflichtungsgefühl, und weil ich das Gefühl hatte, dass es mein Fehler war. Dass ich zu doof war und in die Säge gepackt habe.“ Er arbeitet 30 bis 40 Stunden in der Woche und merkt irgendwann, dass er von seinem Arbeitgeber kein Gehalt bekommt. Er bekomme ja Krankengeld, meinte der Arbeitgeber. Noah sagt: „Irgendwie fühlte ich mich verarscht und ein bisschen hintergangen. Und beklaut, was meine Zeit angeht.“

Überstunden über Überstunden

Mehr als ein Drittel der Auszubildenden leistet Überstunden – das geht aus einem Report der Deutsche Gewerkschaftsbund-Jugend (DGB-Jugend) hervor. Laut Volker Born sind Überstunden in bestimmten Fällen unausweichlich, zum Beispiel auf Montage. Born leitet den Bereich „Berufliche Bildung“ bei dem Zentralverband des Deutschen Handwerks, welcher die Ausbildungsbetriebe repräsentiert. Er meint aber auch, dass diese Überstunden ausgeglichen werden müssen. Aus dem oben genannten Report geht jedoch hervor, dass jede zehnte Person, die Überstunden nicht ausgeglichen bekommt. Für den Report werden jährlich mehr als 1.000 junge Auszubildende befragt.

Julian Uehlecke von der DGB-Jugend
Julian Uehlecke von der DGB-Jugend. Foto: Julian Uehlecke

Julian Uehlecke von der DGB-Jugend erzählt, dass dieser Report Jahr für Jahr verdeutliche, dass ein Teil der Auszubildenden mit schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert sind. „Das kann zweifelsohne dazu führen, dass sie sich ausgenutzt fühlen“, sagt Uehlecke.

Im Report werden weitere Zahlen genannt, die seine Aussage stützen. Demnach geben 15,3 Prozent der Auszubildenden an, „immer“ oder „häufig“ Sachen machen zu müssen, die nicht Teil der Ausbildung sind – etwa private Botengänge für Vorgesetzte oder ständiges Kaffee kochen. Uehlecke findet, dass das eine Form der Ausnutzung ist. Für die Ausbildungsinhalte fehle so die Zeit. „Am Ende fällt Ihnen das bei der Prüfung auf die Füße.“ Außerdem betont er, dass laut dem Berufsbildungsgesetz ausbildungsfremde Tätigkeiten illegal sind.

Machtgefälle in Betrieben sind oft ein Problem 

Uehlecke findet, dass in Deutschland teilweise ein falsches, veraltetes Bild von der Ausbildung herrscht. „In einigen Ausbildungsbetrieben scheint die Losung „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ leider immer noch nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet zu sein“, beklagt er.

Auch Noah hat in seiner Ausbildung gemerkt, dass er auf seinen Arbeitgeber angewiesen ist – vor allem bei der Gesellenprüfung. Die besteht aus mehreren Teilen und schließt mit dem Gesellenstück ab – ein Werk, worauf die meisten Tischler*innen ihr Leben lang stolz sind, erzählt Noah. Der erste Schritt ist es, das Gesellenstück zu zeichnen und die Zeichnung vor einem Prüfungsausschuss vorzustellen. Auf einem A1 Blatt – das ist so groß wie acht A4 Blätter – zeichnet Noah jedes kleinste Detail eines Weinschranks. Das wird sein Gesellenstück sein. Seine Zeichnung hat er allein gemacht, erzählt er. Dabei hätte er sich die Unterstützung seines Chefs gewünscht. „Das hat mich dann auch ein bisschen frustriert. Ich habe so viel Zeit in diese Firma gesteckt und nicht einmal ein bisschen Zeit von denen zurückbekommen.“ Obwohl der Chef ihm nicht geholfen hat, ist Noah trotzdem auf ihn angewiesen. Er muss seine Zeichnung vor der Prüfung unterschreiben lassen.

An dem Tag, an dem er seine Zeichnung vorstellen muss, kommt Noah um sieben Uhr zur Arbeit. Er bemerkt, dass die Zeichnung vom Chef noch nicht unterschrieben ist. Die Prüfung beginnt kurz nach 9 Uhr. Noah wird die Unterschrift vorher zugesichert. Morgens schickt sein Chef ihn und einen jüngeren Auszubildenden noch auf eine Baustelle. „Ich war sehr gestresst und vielleicht in dem Moment nicht so nett zu dem Azubi im ersten Lehrjahr“, erinnert sich Noah. Auf der Baustelle sind sie um acht Uhr fertig. Als sie eine halbe Stunde später im Betrieb ankommen, ist die Zeichnung immer noch nicht unterschrieben. „Da war ich natürlich schockiert.“ Knapp vor der Prüfung ist die Unterschrift dann doch da. Dennoch fährt Noah gestresst zu der Prüfung: „Dass ich mich so gut an diesen Ablauf erinnern kann, zeigt, wie sehr mich das mitgenommen hat“, sagt er.

Wieso Noah einen Schlussstrich gezogen hat 

Mann hält Holz
Noah hat viele Überstunden gemacht, um sein Gesellenstück zu bauen. Symbolbild: pexels/cottonbro studio

Nach dieser ersten Prüfung baut Noah sein Gesellenstück. Dabei fasst er jedoch versehentlich in maschinell angetriebenes Schleifpapier und verletzt sich. Der Arzt schreibt ihn zwei Wochen krank. Noahs Chef setzt ihn aber so stark unter Druck, dass dieser mit der Verletzung weiter an seinem Gesellenstück arbeitet. „Das hat natürlich weh getan und war schon unangenehm“, erzählt Noah. Trotzdem macht er viele Überstunden. „Es gibt wenig Azubis, die in der Bauzeit des Gesellenstücks nicht jeden Tag, also sieben Tage die Woche, da sind und das auch mindestens zehn Stunden am Tag.“ Doch schließlich ist es geschafft.

Der letzte Teil der Prüfung ist eine Handprobe – Noah muss in einer bestimmten Zeit eine kleine Sache bauen, zum Beispiel einen Nussknacker oder ein Teekästchen. Dieses Mal erhält Noah nicht einmal kurz vor knapp die notwendige Unterschrift. Er fährt zur Prüfung und denkt, nicht teilnehmen zu können. Doch er hat Glück: Der Prüfer hatte schon einmal Probleme mit seinem Chef und lässt Noah zur Prüfung zu. Und obwohl am Ende alles gut geht, war dies der Punkt, an dem Noah beschloss, nicht länger in der Firma zu bleiben.

Bereits das Schulsystem führt oft zur falschen Ausbildungswahl 

„Eine Ausbildung ist in Deutschland immer noch eines der effektivsten Mittel gegen ein prekäres Erwerbsleben. Wer eine Ausbildung hat, ist deutlich seltener in seinem Erwerbsleben mit schlechten Gehältern oder schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert“, sagt Uehlecke von der DGB – und findet die nicht-optimalen Zustände in vielen Betrieben schade.

Allerdings ist laut ihm die Ausbeutung nicht allein für alle frühzeitigen Vertragslösungen verantwortlich. Manchmal merken die Auszubildenen auch, dass der Beruf nicht zu ihnen passt. „Die Berufsorientierung sollte in allen Schulformen schon im Schulsystem deutlich ausgebaut werden“, sagt Uehlecke. Sein Wunsch: Die Ausbildungsqualität zu steigern und das sowohl in den Berufsschulen als auch in den Betrieben. In Betrieben mit Mitbestimmungsorganen – also wo ein Betriebs- oder Personalrat oder eine Jugend- und Auszubildendenvertretung gewählt wird – seien die Umstände häufig besser. „Da haben dann wir als Gewerkschaften einen Fuß in der Tür und es gibt zum Beispiel weniger Überstunden. Aber es gibt mittlerweile viele Betriebe, die sich der Mitbestimmung entziehen. Leider.“

Was tun, wenn die Zustände in der Ausbildung schlecht sind?

Es sei nicht immer so einfach, direkt einen neuen Ausbildungsbetrieb zu finden, sagt Uehlecke. Hilfe bekommen Betroffene bei dem Betriebs- oder Personalrat, bei der Jugend- und Auszubildendenvertretung oder bei den Gewerkschaften vor Ort. Es könne auch schon hilfreich sein, sich in lokalen Jugendausschüssen gegenseitig über die eigenen Erfahrungen auszutauschen und auf diesem Weg Unterstützung zu suchen.

Wer schließlich als Auszubildender merkt: „Ich bin alle Wege gegangen in dem Betrieb, die ich gehen kann, aber es ändert sich nichts – dann sollte man über einen Wechsel des Ausbildungsbetriebs nachdenken“, meint Uehlecke. „Wir raten aber dazu erst zu kündigen, wenn man bereits einen neuen Betrieb gefunden hat.“

Noah fährt in den letzten Wochen seiner Ausbildung mit Bauchschmerzen in den Betrieb. Er würde seinem früheren Ich gern sagen: „Lass Dich nicht verarschen!“ Heute ist er immer noch Tischler – und liebt sein Handwerk. Wer seine Wohnung betritt, sieht das sofort: Esstisch, Hocker, Regale oder Schlüsselbrett. Überall stehen Möbel, die er selbst gebaut hat.

 

Beitragsbild: pexels/Ono Kosuki

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