Große Träume und tiefe Abgründe – der Konflikt im Jugendleistungssport

Training vor der Schule und nach der Schule. Wettkämpfe am Wochenende. Tabellen und Zeiten, die deinen Wert definieren. Große Träume von Nationalmannschaften und Olympia. Wie kann Leistungssport in jungen Jahren nachhaltig gestaltet werden? 

Der Geruch von Chlor kommt selten allein. Auch andere Gerüche steigen in die Nase. Eine Note von Sonnencreme und Pommesfett liegt in der Luft. Vor dem inneren Auge: Warme Sommer mit Freund*innen im Freibad. Eine sorgenfreie Zeit. Auch die 19-jährige Bianca Wettel denkt dabei an ihre Kindheit. Ihre Erinnerungen sehen jedoch anders aus. Sie ist Leistungssportlerin. Seit über zehn Jahren trainiert sie jeden Tag im vitusbad in Mönchengladbach. Für sie bedeutet der Geruch lange Trainingseinheiten, den Drang, sich ständig verbessern zu wollen und dabei dem nächsten Turnier entgegenzufiebern.

Wie Sport in jungen Jahren Lebensqualität sichert

Bewegung ist wichtig. Ein Satz, der oft gesagt wird. Egal ob von der WHO, den Eltern oder in irgendeiner TV-Dokumentation. Sport bindet in ein soziales Umfeld ein. Ein Aspekt, der auch für Bianca entscheidend war: “Mein Schwimmverein war von Anfang an wie eine Familie für mich und ist es immer noch. Ich hatte meine Clique da, ich habe Freunde fürs Leben beim Schwimmen gefunden und deswegen wollte ich einfach nicht weg.” Einer der Gründe, warum sie Angebote von Sportinternaten ablehnte. Aber nicht nur das soziale Umfeld wird durch Sport gestärkt, führt Jana Beckmann aus. “Jugendliche finden in dieser Zeit ihre Identität. Lernen aus eigener Kraft auch schwierige Situationen zu meistern.” Beckmann koordiniert die Initiative mentaltalent an der Deutschen Sporthochschule in Köln, welche sportpsychologische Beratung für junge Spitzensportler*innen anbietet.

Dr. Gregor Berrsche vom Deutschen Gelenkzentrum in Heidelberg erklärt, wie Sport außerdem auf den jungen Organismus wirkt: Alles baut auf dem Reiz-Reaktions-Prinzip auf. Das bedeutet: Wird ein Reiz gesetzt, beispielsweise eine gewisse Bewegung und damit eine Belastung verbunden, reagiert der Körper darauf. Durch dieses Prinzip wächst und lernt der menschliche Körper lebenslang. “Wenn ich mich viel bewege und gezielt Sport betreibe, bilden sich die entsprechende Körperpartien und die Muskulatur dort kräftiger aus.”Auch das Herz-Kreislauf-System verändert sich, die Knochendichte erhöht sich und die Sehnen passen sich an. Das hat den Vorteil, dass der Mensch durch all diese Anpassungen besser für die sportliche Belastbarkeit gerüstet ist. Sport bereitet also auf mehr Sport vor. Besonders wichtig: Man weiß, dass diese Effekte sehr lange anhalten. Wer also in seiner Kindheit und Jugend aktiv war, spürt die positiven Auswirkungen davon auch noch im Alter.

Die Dosis macht das Gift – gibt es zu viel Sport?

Auch wenn Sport viele Vorteile mit sich bringt, sollte die Ausübung nicht komplett unkritisch betrachtet werden. Besonders im jungen Alter. Wie bei vielen Dingen, ist auch hier alles eine Frage des Maßes. Leistungssport hat einen Zielkonflikt, so nennt es Dr. Berrsche. Junge Athlet*innen sollen möglichst früh gute Leistungen erbringen und müssen dementsprechend trainieren. Gleichzeitig wächst der Körper und darf unter dieser Doppelbelastung nicht frühzeitig verschleißen.

Der Körper von jungen Athlet*innen darf unter der Doppelbelastung des Wachstums und des Sportes nicht verschleißen. Foto: Unsplash/Massimo Sartirana

Was bei Kindern bedacht werden muss: Sie befindet sich im Wachstum. Dementsprechend weich und formbar sind beispielsweise ihr Gewebe und ihre Sehnen in der Zeit. Wird der Körper in dieser Phase sehr einseitig belastet, entwickelt er sich auch einseitig. Durch Anpassungsreaktionen entwickeln Tennisspieler*innen beispielsweise einen längeren Arm, Fußballer*innen O-Beine oder Turner*innen einen kürzeren Unterarm. Dr. Berrsche empfiehlt daher, während Wachstumsschüben das Training zu reduzieren.

Nicht jedes Kind entwickelt sich gleich schnell. In Vereinen werden Mannschaften jedoch typischerweise in Altersklassen organisiert. Besonders im Jugendfußball, wird daher vermehrt der Ansatz des Bio-Banding eingesetzt. Dr. Berrsche erklärt: „Hier wird anstatt auf das kalendarische Alter auf den wirklichen Reifegrad des Körpers geschaut.“ Es wird also beispielsweise auf die Körpergröße und das Gewicht, aber auch auf die Entwicklung des Skeletts geguckt. Je nach Reifegrad werden die Kinder dann unterschiedlich trainiert. Durch Bio-Banding können einerseits Verletzungen vorgebeugt werden, aber auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wird gestärkt.

Playing Hurt – wenn der Schmerz Teil des Spiels wird

Ein zu früher Beginn mit sportartspezifischem Training birgt die Gefahr, dass es zu Überlastungen kommt. Daher sollten im Grundschulalter die Sportarten zunächst noch breit gestreut werden. Eine Festlegung auf einen Sport ist erst zwischen zehn und zwölf Jahren zu empfehlen, sagt Dr. Berrsche. So war es beispielsweise bei Lisa. Sie ist wie Bianca 19 Jahre alt. Lisa heißt eigentlich anders, um sich zu schützen, tritt sie hier nicht mit ihrem echten Namen auf.

Gewinnen und Verlieren gehört im Sport einfach dazu. Foto: Pexels/Karolina Grabowska

Der Sport war seit Lisas drittem Lebensjahr fester Bestandteil in ihrem Leben. Damals probierte sie Vieles aus: Fußball, Leichtathletik, Reiten. Nur der Handball blieb immer eine Konstante. Bis vor vier Jahren war sie im Leistungssport aktiv. Auf diesem Niveau trainierte sich jedoch erst mit zwölf Jahren. Dann wurde das Training intensiver und der Druck höher. Lisa trainierte beim einem Bundesligaverein. „Da ging es nicht wirklich um Spaß. Sobald du in den Jugendmannschaften in einer höheren Klasse gespielt hast, war klar, dass sie dich später in der 1. Mannschaft sehen wollen.“

Viel zu trainieren gehört zum Leistungssport einfach dazu. Für Schwimmerin Bianca sind es sechs Stunden pro Tag. Dreimal in der Woche steht sie dafür um 5 Uhr morgens am Beckenrand. Das kann dem Körper schnell zu viel werden. Ist der Körper überstrapaziert, sendet er klare Signale. Oft in Form von Schmerzen oder einem generellen Unwohlsein. Das sind natürliche Schutzmechanismen. Mechanismen die laut Dr. Berrsche manche Sportler*innen jedoch nicht wahrhaben wollen. Das liegt auch daran, dass gesellschaftlich vermittelt wird: Schmerzen gehören eben einfach dazu, wenn man in den obersten Ligen dazu gehören möchte.

Der Medikamentenschrank

Auch Lisa hat sich im Handball von kleinen Verletzungen nicht aufhalten lassen: „In dieser Zeit habe ich sehr wenig Kontakt zu mir und meinem Körper aufgenommen. Wenn ich mal einen Kapselriss hatte, dann war es halt so: Okay, ich habe einen Kapselriss. Aber Scheiß drauf, ich kann trotzdem Handball spielen.”

Dass Athlet*innen durch den Schmerz hindurch spielen, ist nicht selten. Eine Umfrage von Forschenden des Deutschen Gelenkzentrums bei jungen Basketballer*innen hat ergeben, dass knapp 40 Prozent auch noch spielen würden, obwohl sie sich körperlich nicht fit fühlen. Und wenn man sich nicht so gut fühlt oder die Achillessehne doch schon wieder zwickt, kommt es schnell dazu, dass mal eine Ibuprofen vor dem Spiel eingeworfen wird. Dr. Berrsche weist hier auf ein großes Problem hin: Viele Schmerzmittel sind nicht verschreibungspflichtig. Athlet*innen können also selbst entscheiden, ob und wie viel sie einnehmen wollen – ohne jegliche ärztliche Beratung.

Quelle: Schneider et. al: Gelenkschmerzen und Analgetikakonsum bei jungen Leistungssportlern. Bundesweite Daten aus dem Jugendbasketball.

Check-Ups beim Arzt – Hauptsache der Körper funktioniert

Sportorthopäde Dr. Berrsche plädiert für Tauglichkeitsuntersuchungen. Besonders wichtig findet er diese, vor der Spezialisierung auf eine Sportart. Wird bei einem Kind frühzeitig eine Skoliose diagnostiziert, lässt sich eine Karriere als Rudersportler*in ausschließen. Ärgerlich ist das nur, wenn es erst festgestellt wird, nachdem die Spezialisierung stattgefunden hat. Ein wichtiger Teil der Vorbeugung sind regelmäßige Check-Ups. Bianca und ihr Team werden alle halben Jahre ärztlich untersucht. Schwimmen ist zwar eine recht gelenkschonende Sportart, trotzdem wird hier beispielsweise die Lunge beansprucht.

Auch Lisa ging während ihrer Zeit im Leistungssport zweimal im Jahr zum Arzt. Auf Mangel geschaut wird bei diesen Untersuchungen hauptsächlich körperlich. Eine verpflichtende psychologische Untersuchung gibt es nicht. Während Bianca Zugriff auf sportpsychologische Angebote hat, wurden in Lisas Team diese Themen nicht angesprochen. Generell schätzen junge Athlet*innen diese Angebote zwar als gut ein. Nutzen Sie jedoch eher weniger (siehe Grafik).

Quelle: Deutsche Sporthochschule: NRW-Athlet*innen for future. Lebenssituation, Ressourcen und Perspektiven von NRW-Kaderathlet*innen. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage 2022/23.

Sport und psychische Krankheiten – Wenn der Druck zu viel wird

Leistungsdruck ist oft sehr verrufen. Dabei ist er prinzipiell erstmal nichts Schlechtes. Das sieht auch Jana Beckmann von mentatalent so. „Es kann auch etwas total Bereicherndes sein, unter Druck zu stehen und dann bestimmte Erfolgserlebnisse zu haben und selbst zu spüren, ich kann diesem Druck standhalten“, sagt sie und fügt hinzu: „Und wenn ich die Leistung nicht erbringen kann, lerne ich, Niederlagen einzustecken. Daraus kann ich auch für andere Bereiche im Leben lernen.”

Schwierig wird es dann, wenn der Druck dauerhaft zu hoch ist und die Ressourcen nicht da sind, um damit umzugehen. Dann steigt auch das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen.

Besonders Sportarten wie Eiskunstlauf können das Risiko für gewisse psychische Krankheiten fördern. Foto: Unsplash/Kelli McClintock

Gewisse Sportarten hegen zusätzliche Risiken, erklärt Jana Beckmann. „Besonders Sportarten wie Ski springen, Eiskunstlaufen und Turnen können die Entstehung von Essstörungen begünstigen“. Das war auch der Grund, warum Lisa nach über zehn Jahren aus dem Leistungssport ausstieg. Handball wurde in jungen Jahren schnell zu ihrem Lebensinhalt. Etwas, über das sie sich und ihren Selbstwert definierte. Ihr Ziel war die Nationalmannschaft. Neben Training und Schule schlich sich jedoch noch etwas anderes in ihren Alltag. Sie nahm immer mehr ab. Nach etlichen Untersuchungen und Krankenhausaufhalten vermutete ihre Ärztin eine Essstörung. Lisa hatte in ihr Kontrolle und Routine gefunden, etwas, das ihr zu der Zeit im Handball fehlte.

Trotz der ärztlichen Untersuchungen durfte sie zunächst weiterspielen. Doch es wurde nicht besser. Sie kam ins Krankenhaus, wurde stationär behandelt und musste zwangsernährt werden. Nachdem es ihr dadurch körperlich etwas besser ging, war der nächste Schritt eine spezielle Klinik für Essstörungen. Auch in dieser Zeit war alles, was sie wollte, Handball spielen. Sie hatte das Gefühl, ihr wurde etwas weggenommen. Es war ein langer Prozess, bis sie merkte, „dass vielleicht etwas in diesem Sport nicht gestimmt hat und ich einfach nur funktioniert habe“. Als sie reflektierte, dass alles in ihrem Leben auf Handball aufbaute, musste sie sich zwei Fragen stellen: „Was mache ich mit meinem Leben? Ohne Handball ist doch alles irgendwie sinnlos?”

Wenn alles andere auf der Strecke bleibt

Bis heute kann Lisa die Lücke, die der Handball in ihrem Leben hinterlassen hat, nicht füllen. Als sie wieder aktiv sein durfte, hat sie sich in anderen Sportarten ausprobiert. Badminton und Volleyball, Hauptsache aktiv sein. „Ich könnte mich nicht hinsetzen und sagen: Puzzlen ist mein neues Hobby.“ Doch es fühlt sich falsch an, das Training als Hobby zu sehen. Sie ist damit groß geworden, dass Sport nicht Spaß machen, sondern Leistung erbringen soll.

Mit diesem Mindset ist es für Kinder oft klar, dass eine Karriere als Athlet*in ihre Zukunft sein kann, sagt Beckmann. „Die Initiative mentaltalent unterstützt junge Athlet*innen auf diesem Weg“. Alles auf eine Karte zu setzen, ist mit viel Risiko verbunden. Eine Verletzung oder ein misslungenes Turnier können die sportliche Zukunft gefährden oder sogar ganz beenden. Oft ist es in der Pubertät schwer, das bereits zu sehen. Die Träume sind groß, und nichts scheint unerreichbar. Die Schule hatte weder für Bianca noch Lisa Priorität. Der Sport war es, der im Fokus stand. Ein Thema, das viele Athlet*innen beschäftigt. Eine repräsentative Umfrage der Deutschen Sporthochschule Köln aus 2023 ergab, dass sich besonders in der Altersgruppe der 16- bis 17-Jährigen viele im Alltag nicht gut unterstützt fühlen.

Quelle: Deutsche Sporthochschule: NRW-Athlet*innen for future. Lebenssituation, Ressourcen und Perspektiven von NRW-Kaderathlet*innen. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage 2022/23.

Bianca hat die rosarote Brille irgendwann abgesetzt: „Ich würde niemals alles allein aufs Schwimmen setzen. Irgendwann ist man reif genug im Kopf, dass man weiß: Okay, ich werde halt vielleicht bis zu einem gewissen Punkt kommen. Aber weiter nicht.” Träume und Ziele hat sie trotzdem. Ab Oktober beginnt sie mit einem Sportstipendium in den USA, studiert dort BWL und schwimmt in der Division One. Wenn alles klappt, hat sie die Chance, in die Nationalmannschaft zu kommen. Auch Lisa studiert. Sie macht ein Fernstudium im Bereich Ernährungspsychologie. Wohin es sie genau treibt, weiß sie noch nicht. Auch Sportpsychologie findet sie sehr spannend. Gerne würde sie all diese Dinge irgendwann vereinen.

 

Beitragsbild: Pixel/Jim De Ramos 

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