Die Rückkehr der Götter: Germanisches Heidentum in der heutigen Zeit

Noch einmal kurz “den Hund lüften”, dann geht es los. Während seine Frau mit Dackel Morpheus noch eine Runde dreht, packt Carsten Dahlmann schon den Rucksack. Er nimmt ein Tuch vom Altar im Schlafzimmer und wickelt drei Figuren darin ein: Thor, Freyr und Odin. Dann noch eine Flasche Met, den Klapptisch-Altar und selbstgebackene Kekse in Form von Thors Hammer. “Meine Frau hat extra eine neue Backform gekauft”, erzählt Carsten begeistert.

Der 41-jährige beschreibt sich selbst als “den nicht typischen Studenten”. Auf dem zweiten Bildungsweg studiert er Germanistik und Linguistik im Master. Seinen Geschichts- und Latein-Bachelor hat er vor kurzem abgeschlossen. Aber nicht nur auf diesem Weg lebt er seine Begeisterung für alte Sprachen und Quellen aus. Carsten glaubt an das Heidentum und opfert den alten germanischen Göttern. So auch kurz vor Weihnachten. Genauer gesagt zur Wintersonnenwende oder auch Julfest, dem kürzesten Tag des Jahres.

Es heißt nicht: An wen glaubst du? Sondern, wem opferst du?

Carsten Dahlmann mit Dackel Morpheus (Foto: Gabriele Klusemann)

Am Nachmittag bricht er mit seiner Frau und Hund Morpheus auf nach Radevormwald in der Nähe von Wuppertal. Dort treffen sie sich mit Freunden, einige sind extra für das Ritual, das sogenannte Blót, angereist. Sie alle sind Polytheisten, die meisten von ihnen Ásatrú: Germanische Neuheiden. Der Begriff Ásatrú bedeutet “den Asen treu”. Als Asen bezeichnet man in der Mythologie das nordische Göttergeschlecht, zu dem unter anderem Odin und Thor gehören. “Im germanischen Heidentum sagt man gern: Es heißt nicht, an wen glaubst du? Sondern, wem opferst du?”, erklärt Carsten.

Als es beginnt zu dämmern, macht sich die Gruppe auf den Weg. Nur wenige Meter entfernt liegt ein Wald, in dem ein Weg am Flusslauf entlang führt. Der Gastgeber hat bereits einen geeigneten Platz für das Blót ausgekundschaftet. Nach einer Weile weicht er vom Weg ab und alle stapfen hintereinander durch das Unterholz. Es ist schon fast dunkel, als sie das Ufer der Wupper erreichen. Alle sind zufrieden: Es ist ruhig, mitten in der Natur und fernab der Blicke neugieriger oder störender Menschen. Carsten baut den Klapptisch auf und es werden Fackeln angezündet. Auch die Figuren und die “Mjöllnir”-Kekse werden wieder ausgepackt und darauf drapiert. Die Opfergaben der anderen folgen: Äpfel, Nüsse, ein Schmuckstück, Met und weitere Figuren.

Ein Glaube ohne Regeln?

Es gibt keine Priester, keine von höheren Institutionen festgelegten Vorschriften oder Dogmen. Einer der größten Unterschiede zu monotheistischen Religionen ist die Freiheit: Jeder opfert, wie er es für richtig hält. Trotzdem stützen sich die Rituale auf Quellen. Man versucht, die aus Quellen bekannten Bräuche von früher authentisch zu übernehmen. Vieles bleibt aber aufgrund der geringen Quellenlage Eigenkreation.

Woher stammen die Geschichten?
Die wohl bekannteste Quelle für nordische Mythen ist die “Snorra-Edda”, eine Sammlung des isländischen Dichters Snorri Sturluson. Darin liegt auch der Ursprung des zyklischen Weltbildes. Die Wintersonnenwende ist ein Beispiel dafür. Sie bedeutet ein Ende, aber auch einen Neuanfang: Die Tage werden wieder länger, die Natur regeneriert sich und der Frühling kommt. Auch die Götter und ihre Geschichten werden in Snorris „Edda“ beschrieben. Dabei gibt es keinerlei Hierarchien unter den verschiedenen Göttern.
Ob Brot und Milch zu einer guten Klausur verhelfen? (Lararium an der Uni Wuppertal, Foto: Carsten Dahlmann)

Für Carsten ist der Polytheismus der wichtigste Aspekt des Neuheidentums. “Je nach persönlichen Lebensumständen, Bedürfnissen und Berufen bevorzugen die Menschen die unterschiedlichsten Götter”, erklärt er. “Ist jemand Schöffe, so mag Tyr für ihn der wichtigste Gott sein, ist er oder sie Soldat oder sagen wir Polizist, ist es vielleicht Thor, der Beschützer der Menschen.”

Durch sein Lateinstudium hat er sich auch mit den römischen Gottheiten beschäftigt. Im Lateintrakt der Universität gibt es mittlerweile sogar ein Lararium, einen römischen Hausaltar. “Dort finden sich immer wieder kleine Opfergaben”, erzählt Carsten. “Es muss wohl ein polytheistischer Student angefangen haben, in den Abendstunden, wenn kaum noch jemand an der Uni anzutreffen ist, an diesem Altar zu opfern und für das gute Bestehen einer Klausur zu bitten.” Auch ein eigenes Lararium sei ein Projekt, dass Carsten gern in naher Zukunft umsetzen möchte.

Eins mit der Natur

Auf dem Altar an der Wupper finden sich zahlreiche Opfergaben. (Foto: Lydia Münstermann)

Auf dem Altar an der Wupper findet so auch eine Figur der Aphrodite ihren Platz. Carsten legt außerdem noch ein Trinkhorn neben den Altar. Im Halbkreis stellen sich alle um den Gabentisch, mit dem Blick auf die Wupper. Langsam werden alle still, die Fackeln flackern und werfen warmes Licht auf die Opfergaben. Der Gastgeber und gleichzeitig auch Ritualleiter beginnt zu sprechen. Er richtet sich an die Wupper und begrüßt den Fluss. Ein Windstoß zieht über das Wasser, Dackel Morpheus winselt leise. Ein Zeichen der Götter? Für die Anwesenden könnte es so sein.

Nachdem er einige Worte an die Natur und die Götter gerichtet hat, ist das Blót eröffnet. Der Reihe nach treten die Anwesenden vor, sprechen ein Gebet oder blicken still und in Gedanken auf den Fluss. Die Opfergaben werden in die Wupper geworfen, gegossen oder in einen zerfressenen Baumstamm gelegt. Das Heidentum ist eine naturverbundene Religion. Somit wird auch bei den Opfergaben darauf geachtet, dass beispielsweise kein Eichhörnchen Bauchschmerzen von den Keksen bekommt. Auch Räucheropfer sind daher üblich. Lebewesen würden jedoch niemals geopfert. Unter den Heiden gibt es sogar einige Vegetarier und Veganer.

Gibt es bald einen heidnischen Tempel in Deutschland?
Carsten ist seit Kurzem auch der Vorsitzende eines neuen Vereins. Der “Heidnische Tempelbau e.V.” möchte die erste heidnische Kultstätte in Deutschland aufbauen. Im besten Fall wäre dies ein Tempel. Island ist hier ein Vorbild: Dort wird nach über tausend Jahren zum ersten Mal wieder Thor und Odin ein Tempel gewidmet. “Aus Kostengründen wird es aber wahrscheinlich eher ein Ritualplatz ohne Gebäude”, meint Carsten.

Aber wie kommt man überhaupt zum germanischen Heidentum? Carsten interessiert sich schon lange für den Polytheismus und lernte dann durch einen Freund Christian Derksen kennen. Christian Derksen ist Mitglied im Verein Eldaring e.V., der gelebtes germanisches Heidentum in Deutschland betreibt. In den einzelnen Bundesländern gibt es verschiedene “Herde”, die sich einmal im Monat treffen. Christian Derksen leitet den Herd im Ruhrgebiet. Durch das monotheistisch geprägte Weltbild entstehe nach Derksens Meinung oft eine Hemmschwelle. Aber durch Serien, Filme und Comics finden die Götter auch immer wieder einen Weg in die Popkultur. Ist das nicht so, als ob es Jesus-Comics gäbe? “Gibt es auch”, sagt Matthias*, der ebenfalls Mitglied im Eldaring e.V. ist, mit einem Grinsen. Oft seien die Charaktere aber Karikaturen ihrer nordischen Vorbilder. Carsten findet, es ist “Fluch und Segen zugleich. So werden viele Leute neugierig, es gibt aber auch viele Klischees.” Man müsse die Leute daher auffangen.

Die Stimme der Vernunft: Vereinsarbeit gegen “rechte Spinner”

In der Satzung des Vereins sind die Grundlagen klar festgelegt. Die einzige Zugangsbedingung: “Kein Fascho sein”, meint Derksen. Das könne immer wieder mal vorkommen. Der Verein habe es sich daher auch zur Aufgabe gemacht, das Heidentum “aus der braunen Schmuddelecke” herauszuholen. Viele Symbole seien falsch besetzt, so beispielsweise der Thorshammer, den viele der Mitglieder als Kette um den Hals tragen. Auch Carsten ist nicht nur aufgrund der Gemeinschaft eingetreten: Die germanischen Götter würden heutzutage oft von “rechten Spinnern” missbraucht, sodass es eine “Stimme der Vernunft” bräuchte. Seit 2018 ist er daher auch Teil des Vorstands und übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit des Vereins. Auch auf sozialen Medien wie Facebook und Instagram ist der Eldaring vertreten, um aufzuklären.

Auch Matthias* wurde aufgrund des silbernen Kettenanhänger in Hammersform bereits “verwechselt”: In der Bahn sprach ihn ein Mann an. Er habe recht schnell gemerkt, dass der Mann das Symbol eher anders gedeutet habe. Als er ihn dann aufgeklärt habe, sei der Mann schnell verschwunden. Matthias ist ein gutes Beispiel für die Offenheit des Vereins. Er ist mit einem jüdischen Mann verheiratet und arbeitet als evangelischer Religionslehrer. Viele der Mitglieder kommen aus christlichen Familien oder haben christliche Partner, sodass man Kompromisse eingehen müsse. “Mit anderen Religionen gibt es allerdings viele Überschneidungen, beim jüdischen Chanukka stellt man beispielsweise auch viele Kerzen auf”, erzählt Matthias. Das Chanukka-Fest liegt im gleichen Zeitraum wie das Julfest, bei dem das Licht ebenfalls wichtig ist.

Ein Trunk auf die Götter, die Uroma und neue Vorsätze

Nach dem Opfer in der Natur ist auch der Sumbel, eine Trinkspruchrunde, ein wichtiger Teil des Rituals. Schon bei den Wikingern hatte das Trinken von Alkohol eine wichtige gesellschaftliche Rolle. In den meisten Blótgruppen findet der Sumbel direkt im Anschluss statt, Carstens Gruppe freut sich aber erst auf das Aufwärmen bei Klößen, Rotkohl und Rehgulasch. Nachdem alle gesättigt sind und der Tisch abgeräumt ist, wird ein brauner Kessel darauf gestellt. Man einigt sich auf eine Sorte Met und gießt den Inhalt der Flasche in den Topf. Der Hausherr legt ein Tuch darüber und heiligt den Met. Carstens Frau übernimmt die Aufgabe der Schankmaid. Sie ist somit dafür verantwortlich, dass niemand ein leeres Trinkhorn weiterreicht. Wenn ein Mann die Aufgabe übernimmt, variieren die Bezeichnungen.

Nun beginnt die erste Runde: Man trinkt auf die Götter. Besonders beliebt in dieser Zeit ist Freyr, der als Gott der Fruchtbarkeit für ein gutes neues Jahr sorgen soll. In der zweiten Runde kreist das Horn und man trinkt auf die Ahnen: Auf Philosophen, verstorbene Haustiere oder auch das Lieblingsrezept von der Uroma. Auch in der dritten Runde geht es um persönliche Themen. Jeder in der Gruppe trinkt auf ein Vorhaben für das nächste Jahr oder schwört sogar einen Eid. Dabei geht es nicht nur um die Götter, sondern auch zum Beispiel ums Abnehmen, Produktivität im Alltag oder an der Uni. Im Anschluss an den klassischen Sumbel gibt es auch freie Runden. Dieses Mal haben sich die Mitglieder auf eine vierte Runde geeinigt: Es soll auf gute Lehrer getrunken werden. In der letzten (und auch thematisch komplett freien) Runde sind sich alle einig: Sie bedanken sich für den Abend, die nette Gastfreundschaft und trinken auf das gelungene Ritual. Danach wird der Sumbel geschlossen.

*Name geändert

Ein Beitrag von
Mehr von Lydia Münstermann
Interview: So war das Studium vor 45 Jahren an der TU Dortmund
1973 fing Volkhard Ruppel an, an der TU Dortmund zu studieren. Damals...
Mehr
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert