
Vor vier Jahren hat Joyce Oguama im Diskuswerfen ihre Leidenschaft gefunden. Nun steht sie im Deutschlandtrikot im Wurfring. Bei den FISU World University Games hat sie die Chance, sich in ihrem Heimstadion vor Sportler*innen aus aller Welt zu beweisen.
Die Werferinnen laufen gemeinsam in das Stadion ein und Joyce fällt direkt auf. Sie trägt eine knallgelbe Jacke, passend zum gelben Deutschlandtrikot. Dazu eine lange schwarze Leggings und einen schwarzen Rucksack. Ihre Haare hat sie in einen hohen Zopf gebunden. Es ist recht kühl an diesem Sommertag und es regnet leicht. Keine optimalen Voraussetzungen für die Werferinnen. Einige Trainer*innen und Angehörige schauen von der Tribüne aus zu, viel ist nicht los.
Joyce hat noch etwas Zeit bis zu ihrem ersten Wurf. Sie läuft über den Platz und tanzt verträumt zu einem Song von Katy Perry. Vielleicht, um die Nervosität abzuschütteln. „Aus der Perspektive der Athleten ist die Qualifikation fast ein bisschen aufregender als das Finale, weil wir nur die drei Versuche haben“, erklärt Joyce. Die Frauen müssen mindestens 58 Meter werfen oder unter den 12 besten sein, um ins Finale einzuziehen. Drei Durchgänge gibt es dafür in der Qualifikation, der beste Wurf zählt.
Mit den World University Games kam in diesem Jahr das zweitgrößte Multisportevent der Welt ins Ruhrgebiet. Vom 16. bis 27. Juli kämpften rund 8.500 studentische Spitzensportler*innen aus knapp 150 Ländern um Medaillen in 18 verschiedenen Sportarten. Joyce ist eine von ihnen. Für sie ist es das größte Event, an dem sie bisher teilnehmen durfte. Dazu finden die Leichtathletik-Wettkämpfe in ihrer Heimat Wattenscheid statt.
Zuhause in der Halle
In der versteckten Anlage hinter dem Lohrheidestadion in Wattenscheid trainiert Joyce jeden Tag. Sie hat dort Zugang zu einem Fitnessraum, einem Kältebecken, einer Sauna und einer Wurfhalle. Momentan läuft die Wettkampf-Saison der Leichtathletik, weshalb Joyce etwas weniger trainiert. Während dieser Zeit ist sie viel unterwegs, es geht unter anderem nach Den Haag, Barcelona und nach Dresden zu den Deutschen Meisterschaften: „Einmal international anzutreten war immer ein Lebenstraum von mir.“ 2021 hat sie mit dem Diskuswerfen begonnen. Schon 2023 konnte sie sich diesen Traum erfüllen mit der Teilnahme an den U23-Europameisterschaften. Noch im selben Jahr holt sie sich ihren ersten deutschen Meistertitel.

In Joyce` Familie hat Sport einen hohen Stellenwert. Mit ihrer Schwester probiert sie alles aus: Sie spielt Basketball, tanzt Ballett und schließlich entdeckten beide die Leichtathletik für sich. Joyce trainiert viele Jahre im Siebenkampf. Eigentlich eher zufällig kam sie zum Diskuswerfen. Ihre Mehrkampfgruppe löste sich auf. Wegen ihrer Körpergröße und langen Arme sah ihr jetziger Trainer schon damals Potenzial in ihr. Schnell verliebt sie sich in den Sport. Früher hat sie sich als große Frau mit breitem Kreuz oft unwohl gefühlt. Durch das Diskuswerfen lernt Joyce, was ihr Körperbau für Vorteile bringt. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie von ähnlichen Personen umgeben: „Ich habe so viele große und schwere Mädels und Jungs kennengelernt und alle sehen aus wie Superhelden!“
Zwischen Hörsaal und Diskusring
Joyce studiert Sozial- und Religionswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Studium und Sport hängen inhaltlich für sie eng zusammen. In ihrer Bachelorarbeit beschäftigt sie sich mit Ritualen im Leistungssport. Das Studium ist für Joyce keine leichte Zeit. „Ich habe viel mehr Selbstbewusstsein in mein sportliches Ich.“ Beim Sport hat sie die tägliche Routine und damit Sicherheit. An der Uni kämpft sie immer wieder mit Prokrastination und Perfektion, so erzählt sie. Während der Wettkampfsaison im Sommer kann sie kaum Kurse belegen. Auch im Winter hat sie Probleme, Univeranstaltungen und Abgaben mit dem täglichen Training und Trainingslagern zu koordinieren: „Wenn ich mehr gemacht habe für die Uni, dann werden meine Noten da besser. Aber ich werfe halt auch zwei Meter weniger.“
Rückblickend hätte sie sich von beiden Seiten mehr Unterstützung gewünscht: „Ich glaube, die Leute denken, ich gehe so dreimal die Woche ins Gym und habe dann irgendwie das Talent, einen Diskus weit zu werfen. Aber das ist ein Fulltime-Job, der auch mental sehr viel kostet.“ Dieser konstante Stress schlägt bei Joyce auf die Psyche. In schwierigen Phasen kämpft sie mit Panikattacken.

Während der Bachelorarbeit geht es Joyce besser. Es erleichtert sie, keine festen Seminar- oder Vorlesungstermine zu haben und sich ihre Zeit freier einteilen zu können. Trotz des vollen Terminkalenders möchte sie ihre Arbeit noch vor den World University Games abgeben. Wochenlang arbeitet sie auf beides hin und plant jeden einzelnen Tag akribisch durch. Sie sitzt pünktlich um 8 Uhr zum Schreiben in der Uni und führt Interviews zwischen Trainingseinheiten. Doch dann: Eine Woche vor ihrem Qualifikationswettkampf wird Joyce krank. Eine Mandelentzündung mit Fieber zwingt sie zum Stopp. Die University Games starten mit der Opening-Ceremony, einer riesigen ausverkauften Eröffnungsfeier in Duisburg. Mit Lichtshows, Tänzer*innen und großen Musikacts werden die Teilnehmenden aus aller Welt begrüßt. Joyce muss zuhause bleiben. Damit sie zum Wettkampf wieder fit ist, nimmt sie Antibiotika. „Ich bin froh, dass ich Werferin bin und keine Langstreckenläuferin oder so, sonst hätte ich die Games absagen müssen“, gibt sie zu.
Alles muss sitzen
Ihre Bachelorarbeit gibt Joyce nur wenige Tage vor den großen Wettkämpfen ab. Feiern wird sie diesen Meilenstein erst später. Ihr Qualifikationswettkampf ist am Mittwochmorgen, das Finale am Donnerstagabend. Die Tage zuvor nimmt sich Joyce Zeit für ihre Vorbereitung. Nicht nur auf sportlicher Ebene, sondern auch mental. Für Joyce bedeutet das, am Montagmorgen in das Hotel der deutschen Sportler*innen zu ziehen. Sie verbringt den Tag mit Antonia Kinzel, die ebenfalls als deutsche Diskuswerferin an den University Games teilnimmt. Die beiden kennen sich und teilen sich ein Zimmer.
Am Nachmittag begleitet Antonia Joyce dabei, sich die Wimpern machen zu lassen. „Das ist auch Teil meines Rituals, dass ich mich schick mache für den Wettkampf.“ Auf dem Platz steht sie konstant im Rampenlicht – Freund*innen, Familie, Vereinsmitglieder, Fans und Journalist*innen mit großen Kameras werden sie auf Schritt und Tritt begleiten.
Der Weg zum „Q“
Joyce wirft am Mittwochmorgen als dritte ihrer Gruppe. Sie steht mit dem Rücken zur Wurfbahn und atmet tief durch. Im Stadion ist es ruhig. Sie geht leicht in die Knie, breitet ihre Arme aus, holt ein paar Mal aus, bevor sie sich zu drehen beginnt. Das Publikum wird laut. Joyce` Fanbase lässt sie nicht im Stich. Mit ausgestreckten Armen schleudert sie den Diskus in die Ferne. „54,88 Meter“ strahlt es wenige Sekunden später auf dem Display. Joyce verlässt den Wurfring und läuft entspannt in Richtung Trainer.

Beim zweiten Versuch steht sie selbstbewusst im Ring. Sie schaut in die Menge, hebt ihre Arme und animiert die Zuschauer*innen zum Klatschen. Dann wirft sie, und fast unmittelbar wird eine rote Fahne geschwenkt – ein Fehlversuch. Damit ist Joyce nicht allein, immer wieder fliegen Disken ins Netz oder zu weit nach links oder rechts. „Diskus ist so eine Disziplin, da kann alles passieren“, sagt Joyce.
Ihr dritter Versuch klappt, sie kann ihren ersten jedoch nicht übertreffen. Enttäuscht ist sie nicht, denn sie steht damit auf Platz 6 und hat es ins Finale geschafft. Zeit zu feiern, bleibt nicht, denn Joyce muss am Nachmittag für das Finale trainieren: „Morgen will ich einige Meter drauflegen, vorne mitkämpfen und Spaß haben.“
Finale, ohohoh
Im Finale haben die Werferinnen sechs Versuche, wieder zählt der beste Wurf. Joyce ist ihrer Platzierung entsprechend als sechste dran. Das Publikum feuert sie lautstark an. Sie schafft 57,45 Meter. Das sichert ihr vorerst den zweiten Platz, aber der gestrige Tag hat gezeigt, dass sich das schnell ändern kann. Joyce bleibt ruhig. Sie bespricht sich kurz mit ihrem Trainer, trinkt etwas Wasser und versucht, sich dann vor dem Regen unterzustellen. Am Ende des ersten Durchgangs steht sie noch immer auf Platz 2.

In der zweiten Runde wirft sich eine US-Amerikanerin mit 58,09 Metern auf den zweiten Platz. Kann Joyce sie übertrumpfen? Sie wirft, der Diskus fliegt weit: 58,07 Meter. Joyce trägt es mit Fassung. Den dritten Durchlauf prägen viele Fehlversuche, danach scheiden die letzten drei Werferinnen aus. Im vierten Durchlauf dann plötzlich die Überraschung: Eine Türkin, die bisher im unteren Mittelfeld kaum auffiel, wirft 61,15 Meter. Ein letztes Mal betritt Joyce den Wurfkreis, atmet tief durch und begibt sich mit Schwung in die Drehung. Dabei springt sie von einem auf das andere Bein, wirf den Diskus und fällt etwas nach vorne. Wieder ein Fehlversuch. Damit steht fest, Joyce wird fünfte. Nur 36 Zentimeter fehlen zu Platz drei.
Auswandern
Bereits zwei Wochen nach den World University Games räumt Joyce ihr Schließfach im Vereinsheim leer. In nur wenigen Tagen wird sie für ein Master-Studium nach Alabama ziehen. In Amerika ist die Vereinbarkeit von Studium und Sport erheblich einfacher für Joyce, weil Leistungssportler*innen dort stärker von den Universitäten gefördert werden.
Joyce hat ein Sport-Stipendium erhalten und kann so ein Jahr lang kostenlos auf dem Campus leben, studieren und trainieren. Der Stundenplan wird individuell an das Training angepasst. „Alle sind ein bisschen traurig, aber alle sagen: Joyce, du brauchst das.“ Für immer möchte Joyce nicht in Amerika bleiben: „Ich denke nicht, dass ich so ein „America Girl“ werde“, sagt sie und lacht.
Sportlicher Diamant
Joyce‘ größter Traum ist es, in der Diamond League Diskus zu werfen. Das ist eine der wichtigsten internationalen Wettkampf-Serien, vergleichbar mit der Champions-League beim Fußball. Nur die besten Athlet*innen werden dort eingeladen. Ganz unrealistisch ist dieses Ziel nicht, die Ergebnisse der Frauen beim Diskuswurf liegen in der Diamond League zwischen 60 und 69 Metern. Joyce` Bestweite liegt bei 62,06 Metern.
Trotzdem ist Joyce froh über ihr zweites Standbein durch das Studium: „Ich möchte den Sport auf jeden Fall so lange ausüben, wie er mir Spaß macht. Aber die Zeit nach dem Sport, sagen wir immer, ist länger als die während des Sports.“
Fotos: Pia Steinke









