Rund 24 Millionen Deutsche sind psychisch erkrankt. Doch einen Platz beim Psychotherapeuten zu bekommen, ist nicht so einfach, Hilfesuchende müssen oft monatelang warten. Das will Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit einem neuen Entwurf zum Terminservice- und Versorgungsgesetz ändern. Seine Idee stößt aber nicht nur auf Zustimmung.
Depressionen, Essstörungen, Angstzustände oder Suchtprobleme – es gibt viele Gründe, warum Menschen sich psychologische Beratung suchen. Wer tatsächlich einen Platz beim Therapeuten bekommt, soll in Zukunft allerdings ein Gutachter entscheiden. Das sieht der neue Entwurf des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) von Gesundheitsminister Jens Spahn vor, der Mitte Dezember im Bundestag in einer ersten Lesung besprochen wurde. So soll schneller entschieden werden, wer tatsächlich einen Therapieplatz braucht, um die langen Wartezeiten zu verkürzen.
Zermürbendes Warten
Emilia* hat selbst erfahren, wie schwierig es ist, einen Therapieplatz zu bekommen. Die 25-jährige TU-Studentin litt fünf Jahre unter Magersucht, bevor sie 2013 entschied, sich Hilfe zu suchen. Ausschlaggebend für sie war das verpflichtende Auslandssemester, das sie für ihr Studium der angewandten Sprachwissenschaften absolvieren musste. “Ich dachte mir, wenn ich ins Ausland gehe und immer noch die Verhaltensweisen habe, wie ich sie in Deutschland durch meine Krankheit hatte, dann werde ich da todunglücklich.”
Mithilfe der psychologischen Studienberatung der TU Dortmund suchte sie nach einem Psychotherapeuten. Acht Monate lang. “Ich habe den Platz damals nur bekommen, weil gerade eine neue Psychotherapeutin angefangen hat.” Sie weiß noch, wie schwer es damals für sie war: “Dieses Warten auf einen Platz hat mich so fertig gemacht, ich bin fast durchgedreht.”
Damit Hilfesuchende wie Emilia schneller ein erstes Beratungsgespräch bekommen, müssen Psychotherapeuten seit 2017 eine Sprechstunde für gesetzlich Versicherte anbieten. Einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) aus dem April 2018 zufolge warten Betroffene in NRW durchschnittlich allerdings immer noch 5,7 Wochen auf einen Platz in der Erstberatung.
Besonders problematisch ist dem Bericht zufolge die Lage im Ruhrgebiet, weil dort in der Bedarfsplanung besonders wenig Psychotherapeuten vorgesehen sind. So kommen auf 100.000 Einwohner nur zwischen 18 und 20 Psychotherapeuten.
Aus einem Erstgespräch in der psychologischen Sprechstunde ergibt sich außerdem nicht automatisch ein Therapieplatz. Gut die Hälfte der Patienten, denen eine Therapie empfohlen wird, muss sich danach wieder auf die Suche machen, weil der Psychotherapeut, bei dem sie in der Sprechstunde waren, keine Kapazitäten frei hat. Im Ruhrgebiet müssen Hilfesuchende aktuell mit mehr als sieben Monaten Wartezeit rechnen.
Gesetzesentwurf soll für schnellere Termine sorgen
Genau da soll das neue Gesetz Abhilfe schaffen, verspricht der Gesundheitsminister. Geschulte Ärzte und Psychotherapeuten sollen als Gutachter vorgeschaltet werden und entscheiden, welcher Patient überhaupt eine Therapie benötigt und wer nicht.
„Diese Regelung ist unsinnig, weil sie am Problem vorbei geht“, sagt Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW. „Da schwingt die implizite Annahme mit, dass Psychotherapeuten nur die leichten Fälle behandeln würden. Aus Statistiken der Bundeskassenärztlichen Versorgung geht hervor, dass das nicht stimmt. Außerdem können nur Psychotherapeuten und Psychiater eine korrekte Einschätzung von Patienten durchführen, was sie ja im Rahmen eines Erstgesprächs auch tun. Fachfremde Ärzte, selbst wenn sie in diesem Bereich geschult werden, können das nicht.“
Auch Mareike hat persönlich erfahren, wie schwer es ist, einen Therapieplatz zu bekommen. Die 29-Jährige studiert Kultur- und Literaturwissenschaften an der TU und leidet seit früher Jugend an Depressionen. Sie hat nach einem kurzen stationären Klinikaufenthalt als Schülerin lange versucht, selbst mit ihrer Situation zurecht zu kommen. Anfang 2018 ging es ihr aber wieder so schlecht, dass sie zum Telefonhörer griff, um sich Hilfe zu suchen.
„Alle Psychotherapeuten, zu denen man als Kassenpatient gehen kann, sagten mir: ‘Keine Chance, rufen Sie in einem halben Jahr nochmal an.’ Die meisten konnten mir noch nicht einmal einen Ersttermin geben.“ Mareike suchte in einem großen Umkreis um ihren Wohnort, wurde aber immer wieder abgewiesen. Schließlich entschloss sie sich, zu einer privaten Psychotherapeutin zu gehen. „Das geht natürlich ins Geld. Wenn ich nicht finanziell unterstützt würde, wüsste ich nicht, wie ich das bezahlen soll.
Der Entwurf geht an der Realität vorbei
Die vorgeschlagene Gesetzesänderung sieht Mareike kritisch: „Dass ein Gutachter bei einem Treffen bewerten soll, ob jemand eine Therapie braucht, geht für mich an der Realität vorbei. Häufig braucht es mehrere Sitzungen, um überhaupt zum eigentlichen Problem vorzustoßen, weil psychische Erkrankungen sehr komplex sind.“
Emilia findet es grundsätzlich nicht falsch, dass Patienten mit einer schweren Krise schneller einen Platz bekommen. Andererseits möchte sie auch niemandem den Anspruch auf eine Behandlung absprechen. Außerdem gibt sie zu bedenken, dass viele psychisch kranke Menschen sich selbst einreden, ihnen gehe es gar nicht so schlecht. „Ich selbst habe meiner Therapeutin gesagt, dass dieses und jenes nicht so schlimm sei, dabei war es das schon“, erinnert sie sich. „Gerade diese Menschen würden wahrscheinlich besonders unter einer Vorbeurteilung leiden.“
Eine Frage des Geldes
Gerd Höhner zufolge gibt es nur eine Lösung für das aktuelle Problem: „Wir brauchen mehr Kassensitze, also niedergelassene Psychotherapeuten, die gesetzlich krankenversicherten Patienten Leistungen anbieten können.“ Dass es die nicht gibt, ist seiner Aussage nach hauptsächlich eine finanzielle Frage: „Der Gemeinsame Bundesausschuss legt fest, wie viel Bedarf für eine bestimmte Leistung da ist. Und mehr Kassensitze bedeuten für die Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen hauptsächlich höhere Kosten.“
Gesundheitsminister Jens Spahn ist dagegen nicht der Meinung, mehr Psychotherapeuten würden die Situation verbessern, denn das sei in den letzten Jahren ja bereits geschehen, ohne dass die Wartezeiten kürzer geworden seien. Nachdem es in der ersten Lesung des Gesetzesvorschlags Kritik von Opposition und Verbänden sowie eine Petition mit über 200.000 Unterschriften gegen die geplanten Änderungen gab, ist er aber bereit, nachzubessern. Im Januar will er sich mit Verbänden und Interessenvertretern treffen, um mögliche Alternativen zu diskutieren.
*Name von der Redaktion geändert
Hinweis der Redaktion:
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