Drei Jahre ist es her, da erschütterten Tweets unter dem Hashtag “MeToo” die glänzende Welt von Hollywood. Hunderte Frauen und Männer aus der Filmbranche gingen mit Anschuldigungen über sexuelle Belästigung, Ausbeutung und Schlimmerem via Twitter an die Öffentlichkeit. Nun treten potenzielle Opfer aus einer anderen Branche aus dem Schatten: Computerspiele.
Am 11. März 2020 wurde der amerikanische Filmproduzent Harvey Weinstein wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung von einem amerikanischen Gericht zu 23 Jahren Gefängnis verurteilt – ein Richtspruch, der einer mehrjährigen, vielschichtigen Aufarbeitungsphase folgte. Die Anschuldigungen gegenüber Weinstein dienten damals als Startimpuls für eine unüberschaubare Kettenreaktion ähnlicher Vorwürfe gegenüber verschiedenen Vertretern der Filmbranche. Was das öffentliche Bild von Hollywood weltweit nachhaltig zerstört hat, ist nun offenbar auch im Begriff, die Gaming-Szene zu erschüttern.
Über 200 Personen, die ihr Geld in irgendeiner Form mit Computerspielen verdienen, zum Beispiel mit Entwicklung, Vermarktung, Streams und E-Sports, haben in den vergangenen zwei Wochen ihre Erfahrungen mit Sexismus, Übergriffen und schwerer Belästigung geteilt – die meisten stammen von Frauen. Immer mehr potenzielle Opfer folgen ihrem Beispiel und beschuldigen die mutmaßlichen Täter teilweise auf direktem Weg. Die Streamerin Jessica Richey sammelte die Anschuldigungen und kompilierte sie in einer Tabelle, um einen Überblick zu verschaffen. Die Berichte der potenziell Betroffenen, die man dort findet, sind teilweise sehr direkt geschrieben.
Ein in den Anschuldigungen wiederkehrendes Druckmittel gegenüber Frauen ist die unproportionale Verteilung von Männern und Frauen in der Branche. Über 70 % aller Angestellten ist laut statista männlich. Frauen haben es offenbar häufig schwerer, in der Industrie Fuß zu fassen. Ein prominentes Beispiel für den mutmaßlichen Missbrauch dieser Situation ist der Vorwurf von Molly Fender Ayala, Community Managerin beim Branchenriesen Blizzard Entertainment, gegenüber Szeneveteran Omeed Dariani. Dieser soll ihr seine Unterstützung in der Industrie gegen sexuelle Gefälligkeit geboten haben und im Falle der Ablehnung mit sogenanntem „blacklisting“, also generellem Ausschluss, gedroht haben. Dariani bekannte sich daraufhin teilweise zu den Anschuldigungen und trat wenig später von seinem Posten als CEO bei der Online Performer Group (OPG), einer Art Talentagentur für Streamer, zurück. Da war der Schaden jedoch offenbar bereits angerichtet: Mehrere Mitarbeiter von OPG sollen gekündigt haben und auch unter Vertrag stehende Streamer bekannten sich zu Fender Ayala und sollen ihr Verhältnis mit der Agentur umgehend aufgelöst haben.
Weibliche Streamer sind deutlich unterrepräsentiert
Bei den Streamern findet sich ein ähnliches Bild: Unter den Top 50 Streamern – gemessen an der Zahl der Follower – auf der Plattform Twitch ist mit Imane Anys – Rang 7 – gerade einmal eine Frau vertreten. Auch hier dominieren die Männer die Szene. Entsprechend häufen sich unter den Anschuldigungen Geschichten über Abhängigkeiten von aufstrebenden weiblichen Streamern gegenüber bereits etablierten männlichen Streamern. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch aus mutmaßlichen Erlebnissen rund um die E-Sports Branche feststellen. Während einige Beschuldigte die Anschuldigungen kommentierten, hielten sich andere bis heute zurück. Die Lager sind gespalten, viele Anschuldigungen sind kaum mehr nachzuvollziehen. Die große Menge und sich schematisch überschneidende Geschichten werfen jedoch weiterhin Fragen auf.
Twitch ließ nicht lange auf sich warten und veröffentlichte am Sonntagabend ein Statement via Twitter, in dem versichert wird, dass das Thema Ernst genommen und mit rechtlichen Mitteln aufgearbeitet werde. Der frühere Vizepräsident des Unternehmens, Justin Wong, nahm dieser Aussage daraufhin bei Twitter den Wind aus den Segeln mit der Behauptung, dass sexuelle Belästigung auf der Plattform jahrelang heruntergespielt worden sei und dass sich CEO Emmet Shear seiner Verantwortung diesbezüglich entziehe. Dieser veröffentlichte einen Tag später eine E-Mail, die er unternehmensweit herumgeschickt habe und mit der er der Problematik den Kampf ansagte.
Die Vorfälle haben in der Szene hohe Wellen geschlagen, das Thema wird stark diskutiert. Viele Streamer auf dem Portal Twitch starteten darufhin eine Aktion unter dem Namen “#TwitchBlackout”, bei der sie für 24 Stunden ihren Stream offline ließen, um auf die Problematik aufmerksam zu machen. Manche nutzten die Aktion jedoch auch gezielt für Aufklärungsgespräche mit ihren Zuschauern oder Charity-Aktionen im Namen der Gleichberichtigung.
Immer mehr potenziell Betroffene trauen sich, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Das Problem liegt demzufolge offensichtlich tief verwurzelt, und die Aufarbeitung wird, ähnlich wie in Hollywood, vermutlich Zeit brauchen. Bis dahin wird nun erst einmal genauer hingeguckt – die Szene steht auf dem Probestand.
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