Zoos sehen sich als Bildungseinrichtungen. Vor allem Kinder sollen darin wichtige Dinge über Tiere und die Natur lernen. Funktioniert dieses System? Was lernen Menschen von Tieren, die außerhalb ihres natürlichen Lebensraums in Gehegen leben?
„Was fressen hier die Affen?“, fragt Kevin Roolf in die Runde. Vor ihm stehen um die 20 Kinder. Sie scheinen die Antwort zu wissen. „Bananen natürlich“, rufen sie. „Falsch“, sagt Kevin Roolf. „Die Bananen, die wir kennen, sind viel zu süß für die Affen. In der Natur sind sie bitterer.“ Kevin Roolf ist 31 Jahre alt. Seit 2016 arbeitet er im Zoo Dortmund und gibt dort Führungen. „Ich kam schon immer gut mit Kindern aus, Tiere fand ich auch schon immer toll. Jetzt kann ich mit beiden zusammenarbeiten“, sagt Roolf.
Ob Zoos ethisch vertretbar sind, wird schon lange diskutiert. Dürfen Menschen Tiere einsperren? Sie ausstellen, wie Bilder in einem Museum? Und zu welchem Zweck? Zoos haben auf die letzte Frage eine klare Antwort. Sie verfolgen ein Vier-Säulen-Modell. Es ist das Selbstverständnis jedes modernen Zoos in Deutschland. Die vier Säulen sind Erholung, Artenschutz, Forschung und Bildung. Das sollen Zoos leisten. Sie müssen es laut Bundesnaturschutzgesetz sogar: „Zoos sind so zu errichten und zu betreiben, dass die Aufklärung und das Bewusstsein der Öffentlichkeit in Bezug auf den Erhalt der biologischen Vielfalt gefördert wird“, heißt es in dem Gesetz.
Unterschiedliche Studienergebnisse
Zoos müssen also bilden. Inwiefern tun sie das wirklich? Studien haben darauf unterschiedliche Antworten. Laut einer Studie der University of Warwick aus 2014 haben mehr als die Hälfte der befragten Kinder durch einen Besuch im Londoner Zoo nichts gelernt. Es gibt aber auch Untersuchungen, die einen Lerneffekt durch Bildungsprogramme in Zoos nachweisen. So hat zum Beispiel Dr. Sebastian Daniel Grün in seiner Dissertation an der Universität Flensburg ein höheres Fachwissen von Besucher*innen nach einem Zoobesuch aufgezeigt.
Bildungsprogramme in Zoos, das sind zum Beispiel Führungen oder Informationstafeln an Tiergehegen. In der Realität bleiben aber wenige Besucher*innen an den Tafeln stehen oder nehmen an einer Führung teil. Für viele ist der Zooausflug Unterhaltung. Ob Menschen auch durch den Besuch mit der Familie, mit Freund*innen oder auf Kindergeburtstagen etwas lernen, ist unklar. „Es gibt nicht viele Studien darüber, was dieser normale Zoobesuch ausmacht. Meistens sind es spezielle Bildungsprogramme, die die Forschung betrachtet“, sagt Paul Dierkes. Er ist Professor für Biologiedidaktik an der Goethe-Universität in Frankfurt und forscht unter anderem zu außerschulischen Lernorten wie dem Zoo. Laut Dierkes bleibt auch beim Schlendern durch den Zoo zumindest eine Naturnähe hängen. Für ihn sind Zoos wichtige Orte, um Kinder für die Natur zu begeistern.
Die Soziologin Reingard Spannring sieht das anders. Sie forscht an der Universität Innsbruck unter anderem zu Umweltbildung und dem Verhältnis von Mensch und Tier. Spannring glaubt nicht an einen großen Lerneffekt durch Zoos. „Wenn ich etwas unmittelbar von der Infotafel ablese, habe ich natürlich einen Lerneffekt. Die Langfristigkeit dieser Effekte möchte ich aber stark bezweifeln.“ Ob Menschen nach einem Zoobesuch umweltbewusster handeln, ist laut Spannring unklar.
Zoos als „Zuhause“ oder „Normalisierung von Gefangenschaft“?
Zoolotse Kevin Roolf ist bei dem Känguru-Gehege angekommen. Die Kinder stehen in einem Halbkreis um ihn herum. Inzwischen sind Grüppchen entstanden. Manche bilden am Rand einen eigenen Kreis, unterhalten sich und essen Nutella-Crêpes. Andere stehen in der ersten Reihe vor Roolf und hören gebannt zu. „Es ist immer so: Manche haben Bock und manche von Anfang an nicht“, erklärt der Zoolotse.
Ursprünglich kommt Roolf aus der Telekommunikationsbranche. Das hat er schnell aufgegeben. „Leute verarschen“ sei nicht so seins. Jetzt möchte er im Zoo seiner Heimatstadt Dortmund alt werden. Von pädagogischen Konzepten wie dem Schweigefuchs halte Roolf nichts. „Ich bin lieber Kumpeltyp“, sagt Roolf und kaut entspannt auf einem Kaugummi herum. Hinter ihm liegen Kängurus und sonnen sich. „Warum springen die nicht über den Zaun?“, fragt er. Die Kinder überlegen. Manche glauben, die Kängurus könnten nicht so hoch springen. Roolf klärt auf: „Sie könnten, wenn sie wollten. Aber die fühlen sich hier wohl, das ist deren Zuhause.“ Die Kinder staunen.
Für Reingard Spannring ist die „Normalisierung der Gefangenschaft von Tieren“ ein Problem von Zoos. „Die Besucherinnen und Besucher lernen, dass es in Ordnung ist, Tiere einzusperren. Zu unserem Vergnügen“, kritisiert die Soziologin. Kevin Roolf hält das für Unsinn. „Die Tiere sind hier nicht eingesperrt. Das ist ja kein Knast“, meint er. Sie hätten auch in der Natur ein Revier. „Das ist hier nur deutlich kleiner, weil sie nicht den Zwang haben, auf Nahrungssuche zu gehen.“
Erleben von Tieren als Faktor
Am Giraffengehege stehen die Kinder vor Tieren, die bis zu viermal so groß sind wie sie selbst. Kevin Roolf erklärt ihnen, dass zwei verschiedene Arten in dem Zoo leben. Und er erzählt, wie Giraffen kämpfen. „Hier entscheidet: Wer hat den dicksten Po?“, sagt er. Die Kinder lachen. „Mit reinen Infos komme ich nicht an. Es geht darum, mit lustigen Sachen Interesse zu wecken und darauf aufzubauen“, erklärt der Zoolotse. Ein Junge hält sich plötzlich die Nase zu und fragt: „Warum stinkt es hier so?“ Roolf grinst und antwortet: „Wir sind im Zoo, hier riecht es halt nach Tieren.“
Dieses „Lernen mit allen Sinnen“ ist laut Biologiedidaktiker Paul Dierkes ein großer Vorteil von Zoos. Besucher*innen können die Tiere nicht nur sehen, sondern sie auch riechen, hören und manchmal sogar anfassen. „Das Erleben der Tiere ist etwas ganz anderes, als sie nur im Fernsehen zu sehen“, meint Dierkes. Reingard Spannring glaubt nicht, dass diese Erfahrung wichtig für die Naturbildung ist. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen nachhaltigen Effekt hat, wenn ich am Elefanten-Gehege vorbeigehe, den Elefantenmist rieche und das Trompeten höre“, sagt sie. Es sei zwar eine Dimension mehr, aber die Besucher*innen nehmen die Tiere nicht als fühlende und handelnde Lebewesen wahr, die „Bedürfnisse haben und in sozialen Gefügen agieren“. Das gehe in Zoos komplett verloren.
Tiere sind außerhalb ihres natürlichen Lebensraums
„Wir müssen jetzt arbeiten“, sagt Kevin Roolf den Kindern. Sie stehen vor einem großen Gehege mit zwei Häuschen, Seilen, die in der Luft hängen und einem kleinen Wassergraben. Vor einem Häuschen sitzen zwei Affen. Die sollen jetzt beschäftigt werden. Roolf legt ein paar Nüsse in Kartons. Die Kinder müssen sie verstecken. Eifrig rupfen sie Gras aus der Wiese, legen es in die Kartons und verstecken die Nüsse darin. Die Affen kommen immer näher und klettern ungeduldig hin und her. Roolf wirft die Kartons zu ihnen und die Affen trennen die lästigen Gräser von den leckeren Nüssen. Ein Schauspiel, das die Kinder gespannt verfolgen. Für Kevin Roolf ist es eine Win-Win-Situation. Er kann etwas vermitteln und die Tiere sind beschäftigt. „Wir müssen die Freizeit der Tiere positiv gestalten“, sagt er.
Denn im Zoo können die Affen nicht auf Futtersuche gehen. Die Zoobewohner*innen können nicht jagen, keine großen Strecken zurücklegen und sich neue Freund*innen suchen. Laut Reingard Spannring sehen Besucher*innen nur routinisiertes Verhalten. „Man sieht, wie die Tiere auf ihr Futter warten und gefüttert werden. Wenn es darum geht, Tiere differenzierter zu betrachten, scheint mir das als Erkenntnis recht mager zu sein.“
Zoos versuchen, die echten Lebensräume der Tiere so gut es geht nachzubauen. Mit weniger Zäunen und mehr Landschaft. Dennoch wird ein Zoo niemals die Realität widerspiegeln können. Das weiß auch Zoolotse Kevin Roolf. Er warnt aber davor, die Natur zu romantisieren. Sie sei ein harter Kampf ums Überleben. „Wenn ich ein Tier wäre, würde ich mir wünschen, im Zoo zu leben. Ich werde älter, ich werde umsorgt und muss nichts machen.“ Spannring sieht das anders. Sie sagt: „Ich würde nicht gerne in einem Zoo-Käfig sitzen wollen. Auch nicht mit vielen Beschäftigungsmöglichkeiten. Ich möchte rausgehen können und mein Leben leben können. Ich denke, das sollten wir den Tieren auch zugestehen.“
Dokumentationen als Alternative?
Am Löwengehege liegt ein Löwe auf einem Stein. Der andere wandert entlang eines Zauns hin und her. Die Kinder werden ganz aufgeregt. Ein Junge ruft: „Ich habe noch nie einen Löwen in echt gesehen“ und klebt nahezu an der Scheibe. Kevin Roolf meint, Löwen seien eigentlich langweilig, weil sie nur herumlägen. Die Kinder würden nur so reagieren, weil es ein sehr bekanntes Tier sei.
Wie wichtig sind solche Begegnungen wirklich für das Lernen, für die Verbindung zu den Tieren und der Natur? Immerhin begeistern sich Kinder auf der ganzen Welt für Dinosaurier, ohne je vor einem gestanden zu haben. Reingard Spannring glaubt, diese Erfahrung sei nicht notwendig. Man müsse sich viel mehr Gedanken über Alternativen machen. „Wenn wir lernen, mit Hunden und Schweinen anders umzugehen und mit Bären und Wölfen zusammenzuleben, dann spielt das gar keine Rolle, ob ich den Löwen hinter Gittern gesehen habe oder nicht“, sagt sie.
Eine Alternative zu Zoos sind Dokumentationen. Sie zeigen die natürlichen Verhaltensweisen der Tiere. „Auch längere Zeiträume können zu einem kompakten Film zusammengeschnitten werden“, erklärt Biologiedidaktiker Paul Dierkes die Vorteile. An einem Gehege würden Besucher*innen maximal zehn Minuten stehen und könnten nicht alle Verhaltensweisen sehen. Dennoch sei es etwas anderes, „ein Tier vor sich zu sehen, als es auf einem kleinen Monitor zu betrachten“. Daher sieht er Dokumentationen auch kritisch. Sie würden nicht immer die natürlichen Verhaltensmuster der Tiere zeigen. „In Löwen-Dokumentationen sieht man nicht, wie der Löwe den ganzen Tag rumliegt und schläft. Oft werden nur spannende Ausschnitte aus dem normalen Tagesablauf gezeigt. Zum Beispiel wie ein Beutetier gefangen wird.“ Diese Ausschnitte könnten möglicherweise das Bild natrürlichen Verhaltens verfälschen.
Funktionieren Bildung und Unterhaltung zusammen?
Einige Minuten lang stehen die Kinder noch am Löwengehege, dann ist Pause angesagt. Kevin Roolf schickt sie auf den großen Spielplatz. Die Kinder rennen los, sie klettern und schaukeln. „Aus meiner Sicht geht mir der Spielplatz auf den Keks. Aber das sind Kinder. Die wollen spielen, toben und sollen auch mal runterkommen“, sagt Roolf.
Zoos sollen bilden. Aber nicht nur. Die Besucher*innen sollen auch unterhalten werden und sich erholen. Für Paul Dierkes gehört das dazu. Für die durchschnittlichen Zoobesucher*innen gebe es eine Drittel-Regelung. „Ein Drittel wird damit verbracht, die Tiere anzusehen. Ein Drittel damit, nur die Wege zu gehen. Das dauert auch seine Zeit. Und das andere Drittel ist mit sozialen Aktivitäten gefüllt. Man geht auf den Spielplatz, isst eine Pommes oder Ähnliches“, erklärt Dierkes.
Der pädagogische Aspekt werde in Zoos immer wichtiger. „Vor 20 Jahren hat das noch keine große Rolle gespielt“, sagt er. Heute seien gewisse Bildungsstandards verpflichtend. Zum Beispiel, dass die pädagogischen Abteilungen in Zoos weiter ausgebaut werden müssen. In Deutschland gibt es keine spezielle Ausbildung für Zoopädagog*innen. Menschen, die in dem Bereich arbeiten, kommen meistens aus der Biologie oder dem Lehramt. Eine eigene Ausbildung für Zoopädagog*innen hält Dierkes nicht für nötig. „Lehrkräfte gehen oft sehr pädagogisch vor. Biologen achten eher auf die Besonderheiten der Tiere. Ich finde diese Mischung sehr interessant.“
Zwischen Lerneffekt und Gefangenschafts-Normalisierung
Die Führung ist vorbei. Die Kinder bekommen ein Eis, dann geht es nach Hause. Kevin Roolf sagt: „Am Esstisch heute Abend sollen die erzählen, wie cool es im Zoo war.“ Ihm ist wichtig, dass jedes Kind für sich etwas mitnimmt.
Mitgenommen haben sie etwas. Sie haben gelernt, was Affen im Zoo fressen, wie groß Kängurus werden und wie Giraffen kämpfen. Sie haben die Zootiere in echt gesehen, sie gerochen und gehört. Aber: Wieviel davon werden sie behalten? Und handeln Besucher*innen nach einem Zoobesuch wirklich umweltbewusster? Die Kinder haben schließlich auch gelernt, dass Kängurus gerne bei den Menschen leben. Sie haben Tiere außerhalb ihres natürlichen Lebensraums gesehen. Und sie haben gelernt, dass es okay ist, Tiere bei sich zu halten. Eventuell sogar, sie einzusperren. Kevin Roolf sagt: „Es ist total gut für die Kinder, ihnen Tiere zu zeigen, die in menschlicher Obhut leben.“ Reingard Spannring findet hingegen: „Man muss sich über andere Kontexte Gedanken machen. Es hätte einen viel stärkeren Effekt auf das menschliche Lernen, die Tiere so zu sehen, wie sie sind. Mit eigenen Bedürfnissen, Verhaltensweisen und Freiheiten.“
Fotos: Theo Steinbach