Wenn Bukarest bebt: Eine Stadt vor dem Zusammenbruch

Die Beben in der Türkei im Februar haben gezeigt, welch katastrophale Folgen ein Erdbeben haben kann. In Bukarest sind danach Diskussionen um Erdbebensicherheit entbrannt. Zu Recht, denn der Stadt droht eine Katastrophe.

Ein kleiner Platz irgendwo im Zentrum von Bukarest. Wohngebäude aus Beton ragen in den Himmel, in der Mitte ein kleines Fleckchen Grün. Vereinzelte Anwohner*innen überqueren die leere Straße. Matei Sumbasacu deutet auf ein Haus. Im ersten Stock an der Ecke ist ein deutlicher Riss in Form eines X an der Fassade zu erkennen; eher behelfsmäßig zugespachtelt. Ein Schaden durch ein Erdbeben.

Woran er das erkennt? Sumbasacu erklärt: Durch die ruckartige Bewegung des Untergrunds bei einem Erdbeben bewegt sich ein Gebäude erst in die eine Richtung – der erste Riss entsteht von rechts nach links. Dann in die andere – der zweite Riss entsteht von links nach rechts. „Bei so einem X-Riss kann man sich zu 99 Prozent sicher sein, dass das ein Erdbeben-Schaden ist.“ Sagt er und schiebt sein Fahrrad weiter in Richtung der Hauptstraße, dieser Riss ist nichts Neues für ihn. Sumbasacu ist Bauingenieur und bei verschiedenen Projekten als Berater tätig, unter anderem bei Projekten der Weltbank. Mit seiner NGO Re:Rise fordert er ein System zur Reaktion auf Erdbeben in Bukarest.

1519 Gebäude als Notfall klassifiziert

Denn das Haus an dem kleinen Platz ist alles andere als ein Einzelfall: Die Stadt Bukarest führt eine Liste mit 2 748 Gebäuden, welche einem Erdbeben womöglich nicht standhalten können. Dabei wird in seismische Risikoklassen eingeteilt, je nachdem wie hoch die Gefahr ist. Einige der Gebäude sind durch einen großen Roten Punkt an der Hauswand gekennzeichnet. Das Haus an dem kleinen Platz ist in der ersten, also höchsten, von drei – vormals vier – Risikoklassen. Gerade einmal 109 vormals gefährdete Gebäude von der Liste wurden erdbebensicher gemacht. Mehr als zehnmal so viele sind als Notfall eingestuft.

Dabei besteht für Bukarest, als am stärksten von Erdbeben gefährdete Hauptstadt der EU, ein deutliches Risiko: „Das nächste Beben ist eigentlich überfällig“, erklärt Radu Vacareanu. „Und dieses Mal könnte der Schaden größer werden als beim letzten Erdbeben, denn wir sind schlechter vorbereitet.“ Der 57-jährige Bauingenieur ist Rektor an der Technischen Universität Bukarest und beschäftigt sich vornehmlich mit den Themen erdbebensicheres Bauen und Risikoeinschätzung.

Zeit für das nächste Beben

Quelle des Risikos ist die Vrancea-Zone in den Karpaten, etwa 180 Kilometer nördlich der rumänischen Hauptstadt. Dort kommt es etwa zweimal im Jahrhundert zu großen Beben bis zu einer Stärke von 8,0 auf der Richter-Skala. Das letzte Mal wurde Bukarest 1977 erschüttert. Ein weiteres Beben aus 1940 ist das zweitstärkste Beben, das in Europa je aufgezeichnet wurde. Die Opferzahlen lagen bei beiden Beben bei etwa 1500 Personen. 46 Jahre ist das letzte her.

Bereits 2016 haben Professor Vacareanu und ein Kollege verschiedene Erdbeben-Szenarien und ihre Folgen analysiert. Das Ergebnis: Je nach Stärke des Erdbebens entstehen Schäden in einer Höhe von 5 bis 13 Milliarden Euro. Zwischen 3.000 und 38.000 Verletzte und Tote. Zwischen 45 und 75 Prozent der Gebäude würden laut den Berechnungen mittlere bis schwere Schäden davontragen.

Alte Wunden

Dass die Stadt so schlecht vorbereitet ist, hat vielfältige Gründe. Ein großes Problem war die Aufarbeitung des Erdbebens 1977. Denn das kommunistische Regime unter Nicolae Ceaușescu hatte kein Interesse daran, die Stadt tatsächlich wieder sicher zu machen. Und auch die folgenden Regierungen kümmerten sich wenig darum, die Stadt widerstandsfähiger gegen Erdbeben zu gestalten.

Das kommunistische Regime unter Ceaucescu
Nicolae Ceaucescu war ab 1967 Vorsitzender des Staatsrates, und ab 1974 rumänischer Staatspräsident. In dieser Position distanzierte er sich von der Sowjetunion und konnte sich durch die Betonung der Unabhängigkeit Rumäniens etablieren. Seine Herrschaft war geprägt von einem starken Personenkult. Ein essenzieller Teil seines Regimes war der Geheimdienst Securitate: Dieser terrorisierte und verängstigte Rumän*innen im In- und Ausland, vor allem jene mit regimekritischer Einstellung.

Im Dezember 1989 entbrannten schließlich regimekritische Proteste, die brutal niedergeschlagen wurden. In Bukarest und weiteren Städten kam es zu Straßenkämpfen. Am 25.12.1989 wurden Nicolae Ceaucescu und seine Frau Elena von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet. Bis heute ist nicht ganz klar, ob diese Dezembertage als Revolution oder als Staatsstreich einzuordnen sind.

Zurück auf dem Spaziergang mit Matei Sumbasacu: Kurz bevor er einen breiten Boulevard erreicht, hält er vor einem heruntergekommenen grauen Häuserblock. Dieses Gebäude sollte nach dem Erdbeben 1977 geretrofittet – also für mehr Erdbebensicherheit umgebaut werden. Das Beben fand im März des Jahres statt. Anfang Juli nahm Gheorghe Ursu, der für den Häuserblock zuständig war, an einer Versammlung teil mit Diktator Ceaucescu und weiteren Bauingenieuren und Architekten. Die Bauarbeiten zum Wiederaufbau der Stadt dauerten Ceaucescu zu lange. Der Fokus verschob sich weg vom Retrofitten. Stattdessen sollten eingestürzte Gebäude wiederaufgebaut, Risse einfach zugespachtelt werden. Sprich: Die Stadt sollte sicher aussehen, ohne dass sie es tatsächlich war.

Mangelnde Aufarbeitung

Die Säule zwischen den Fenstern im ersten Stock wurde verstärkt, um das Gebäude robuster gegen Erdbeben zu machen. Im zweiten Stock wurden die Baumaßnahmen, die das Gebäude sicherer machen sollten, durch das Ceaucescu-Regime beendet.

An dem Gebäude, vor dem Sumbasacu angehalten hat, erkennt man die hastig beendeten Bauarbeiten: Im ersten Stockwerk wurden die Säulen an den meisten Fenstern noch verstärkt – eine Maßnahme für mehr Stabilität. Im zweiten Stock schon nicht mehr. Gheorghe Ursu soll die Entscheidungsträger wiederholt gewarnt haben, dass ein frühzeitiges Ende der Bauarbeiten katastrophale Folgen haben könne. Als niemand auf ihn hörte, wandte er sich an den durch die USA finanzierten Radiosender „Free Europe“, der seine Schilderung der Ereignisse anonym wiedergab. Ursu wurde 1985 verhaftet und in seiner Zelle von einem Mithäftling mit Verbindung zum Geheimdienst Securitate totgeprügelt.

Der halb sanierte Block am Boulevard ist ein Gebäude, an dem Erdbebenfolgen und ihre mangelnde Aufarbeitung unmissverständlich erkennbar sind. Das gilt sowohl für die baulichen Mängel, als auch für die Verbrechen der Ceaucescu-Zeit. Bis heute sind nicht alle Täter im Fall Ursu verurteilt.

„Das ist Beton. Der ist stabil!“

Es wurden auch nach dem Ende des kommunistischen Regimes 1989 nur vereinzelte Gebäude Maßnahmen des Retrofitting unterzogen. Was aus der Ceaucescu-Zeit bleibt, sind viele Fehlannahmen und Mythen. Wohl am Absurdesten: Viele denken, dass ihre Gebäude auf Rollen gebaut sind. Sollte es also zu einem Erdbeben kommen, würde das Haus quasi hin und her rutschen und unbeschädigt bleiben.

Noch fataler: Viele Einwohner*innen Bukarests glauben, dass die Gefährdung ohnehin nicht so groß sei. Ein Gespräch mit Antonio. Das Haus, in dem er wohnt, wurde 1993 als Notfall eingestuft. Wirklich Sorgen macht er sich deswegen nicht: „Wir sterben sowieso alle irgendwann. Und es gab seit mehr als 40 Jahren kein Beben. Warum sollte jetzt auf einmal etwas passieren?“ Er schlägt gegen die Wand: „Siehst du? Beton. Der ist stabil.“

Kaum Problembewusstsein in der Stadt

Eine Straßenecke im Zentrum von Bukarest. Angst vor dem großen Beben haben hier wenige.

Er ist nicht der einzige, der das Problem der Erdbebensicherheit nicht als solches wahrnimmt. Alice Dobrea betreut mit ihrem Unternehmen Urban Admin über 500 Wohnungen in mehr als 20 Gebäuden. In den Eigentümergemeinschaften werde das Thema Retrofitting nicht diskutiert, dabei sind einige Gebäude in niedrige Risikoklassen eingeteilt. Maßnahmen zur energetischen Sanierung oder Fassadenerneuerungen finden währenddessen durchaus statt. Die sind allerdings auch bedeutend günstiger und die Bewohner*innen können währenddessen in ihren Wohnungen bleiben. Während Retrofitting-Maßnahmen stattfinden, ist das in den meisten Fällen nicht möglich. Auch Kredite der Stadt zu günstigen Konditionen ändern daran nichts.

Professor Vacareanu kritisiert die weitverbreiteten Annahmen, dass aufgrund der langen Pause kein Erdbebenrisiko mehr bestehe, oder dass die Gebäude das schon aushalten: „Das ist von Grund auf falsch gedacht. Die Beben von 1940 und 1977 haben die unsicher gebauten Häuser schon beschädigt und dieser Schaden akkumuliert sich. Das ist ein bisschen so wie in einem Boxkampf: Du hältst einen Schlag aus, oder zwei oder drei. Aber wenn du dich dazwischen nicht erholen kannst, brichst du irgendwann zusammen.“

Es fehlt an Überzeugungskraft

Die Stützpfeiler sind eine Retrofitting-Maßnahme. „Hier wurde ein bisschen übertrieben“, meint Matei Sumbasacu, „aber zumindest wurde etwas gemacht.“

Radu Vacareanu und Matei Sumbasacu sind sich einig: Beide sehen, dass die Regierung und die Stadt versuchen, auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Jedoch gelinge es nicht, einen Ton zu treffen, welcher auch bei der Bevölkerung ankommt.

Überzeugungskraft und Aufmerksamkeit sind aber genau das, was gebraucht wird. Denn die meisten Wohnungen in Bukarest sind im Besitz ihrer Bewohner*innen. Das bedeutet auch, dass man in einem Häuserblock oft über 60 Parteien für die Baumaßnahmen gewinnen muss. Die sind nicht nur teuer, in den meisten Fällen wären die Gebäude eineinhalb bis drei Jahre nicht bewohnbar.

Folgen aus sicheren Vorschriften auch sichere Gebäude?

Die Regierung versucht unterdessen mithilfe der Gesetzgebung Gebäude sicherer zu machen: Die Bauvorschriften für Neubauten stammen aus 2013 und werden aktuell überarbeitet. Die Richtlinien für das Retrofitting sind aus 2019. Insgesamt sind es also sehr moderne Vorschriften, die Sicherheit gewähren sollten, erklärt Radu Vacareanu, der selbst an der Entwicklung der Vorschriften beteiligt war.

Wäre da nicht das Problem der Korruption. Während Vacareanu davon überzeugt ist, dass sich in den meisten Fällen an die Vorschriften gehalten wird, ist Matei Sumbasacu eher skeptisch. Einerseits ist Korruption ein großes Problem in Rumänien, andererseits werde in der Baubranche das Ausmaß des Erdbebenrisikos deutlich stärker wahrgenommen als in der Zivilbevölkerung, so Vacareanu. Matei Sumbasacu befürwortet zwar die ständige Überarbeitung der Vorschriften, er ist jedoch unsicher, ob sich in der Realität auch daran gehalten wird. Ein Ausmaß der Schäden wie Anfang des Jahres in der Türkei bezweifelt er, doch ist er eindeutig besorgt über mangelnde Gebäudesicherheit. Eben weil er davon ausgeht, dass viele sich nicht an die Vorschriften halten.

Das nächste Problem: Erdbebenreaktion

Matei Sumbasacu führt durch eine Stadt, von der er befürchtet, dass sie schon bald in Trümmern liegen könnte. Und das ist auch der Grund dafür, dass er 2016 die NGO Re:Rise gegründet hat: „Es wäre naiv anzunehmen, dass das Erdbeben abwartet, bis wir unsere Häuser nachgerüstet haben. Retrofitting sollte Priorität haben, aber wir müssen auch darin investieren die Opfer nach dem Erdbeben so schnell wie möglich erreichen zu können.“ Denn viele der Menschen sterben bei einem Beben nicht unmittelbar, sondern in den folgenden Tagen, weil sie nicht aus den Trümmern gerettet werden können. Berichte aus der Türkei im Frühjahr, von den langsam verstummenden Rufen unter den Trümmern, klingen bis heute nach. Um genau dieses Szenario zu verhindern, können Vorkehrungen getroffen werden.

Abbröckelnder Putz an Bukarests Fassaden ist kein seltener Anblick. Ob ein Gebäude gut gegen Erdbeben gerüstet ist, kann man daran jedoch nicht erkennen.

Sumbasacus NGO Re:Rise fordert unterschiedliche Maßnahmen: Ein Verzeichnis von Kränen und weiteren Geräten, die bei den Rettungs- und Aufräummaßnahmen nach einem Beben benötigt werden. Der Staat dürfe sich diese im Notfall ausleihen, aber wisse überhaupt nicht, wie viele es gibt und wo diese stehen. Mittlerweile gebe es zwar ein Verzeichnis, dieses dokumentiere jedoch keine Unternehmen, sondern lediglich NGOs. Die meisten von denen besitzen aber gar keine brauchbaren Geräte. Es brauche deswegen ein Verzeichnis von Unternehmen, so Sumbasacu. Es gibt auch weitere Vorschläge, welche technisch durchaus realisierbar seien. Umgesetzt werden konnten diese bisher jedoch auch nicht. Das hänge ein Stück weit auch mit mangelndem politischem Willen zusammen. Wenn Sumbasacu von den Ideen erzählt, hat er das Ziel, diese fertig an die Stadt zu übergeben. Er bezweifelt, dass offizielle Stellen selbst einen fertigen Plan sinnvoll umsetzen würden, wie sich schon bei dem Verzeichnis gezeigt hat.

In der Stadtverwaltung gibt es eine eigene Abteilung, die für das Erdbebenrisiko zuständig ist. Mehrere Anfragen blieben bisher jedoch ohne Antwort. Auch Anfragen an die Feuerwehr Bukarest, wie diese sich auf die Folgen eines möglichen Erdbebens vorbereite, blieben unbeantwortet. Das rumänische Äquivalent vom Technischen Hilfswerk verwies an die Feuerwehr.

25 Sekunden für Bukarest

Auch Frühwarnsysteme können die Bevölkerung schützen. In Bukarest gibt es eine Zeitspanne von 25 Sekunden, in denen wichtige Maßnahmen eingeleitet werden können. 25 Sekunden zwischen der Erfassung eines Erdbebens in der Vrancea-Zone und der Ankunft des Bebens in der Stadt. In diesem Zeitraum können simple Schritte ergriffen werden, wie das Öffnen von Toren bei der Feuerwehr, Aufzüge im nächsten Stock anhalten lassen, aber auch Sirenen, welche die Bevölkerung warnen. Solche vermeintlich kleinen Dinge können einen großen Unterschied machen. 25 Sekunden klingt erstmal nicht nach viel, aber es ist genug Zeit, um Leben zu retten.

Welche davon in Bukarest etabliert sind, ist nicht klar. Auch hierzu äußern sich Feuerwehr und Stadt nicht.

 

Fotos: Klara Loser

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