Gegen den Stillstand: Friedensaktivisten auf Zypern

Rund um die Pufferzone stehen immer wieder beschädigte Gebäude am Straßenrand.

Zypern ist wegen gewalttätiger Konflikte in den 1960er-Jahren in Norden und Süden geteilt. Politisch scheint eine Lösung weit entfernt. Aktivist:innen setzen daher auf ein Miteinander in der Gesellschaft und versuchen, über Kultur und Sport beide Seiten der Insel zusammen zu bringen. Ein Besuch vor Ort.

Hayrire Rüzgar war selten so hoffnungsvoll wie im Jahr 2003. Sie besuchte damals eine Mittelschule im Norden von Zypern und verfolgte aufgeregt auf die Friedensverhandlungen: Der türkisch-zyprische Norden verhandelte mit dem griechisch-zyprischen Süden. Die beiden Seiten versuchten zu vereinen, was seit Jahrzehnten gespalten ist.

1960, als sich Zypern von Großbritannien unabhängig zeigte, ringten die griechische und türkische Bevölkerung um die Kontrolle der Insel. Der Höhepunkt des Konflikts war 1974, als ein griechischer Militärputsch scheiterte, der Zypern an Griechenland binden sollte. Türkische Truppen besetzten als Reaktion daraufhin die Insel, was Zypern langfristig territorial und politisch in zwei Stücke teilte – in Norden und Süden. 2024 jährt sich die Teilung zum fünfzigsten Mal.

Die Verhandlungen scheitern

Knapp drei Jahrzehnte später schien eine Lösung nahe. Die Bewohner:innen beider Seiten mussten der Wiedervereinigung nur noch zustimmen. Doch dann scheiterten die Friedensverhandlungen. Die Bevölkerung im Norden stimmte zu, der Süden lehnte ab. Eine Mehrheit im Süden kritisierte das Abkommen als ungerecht und pro-türkisch. Die Verhandlungen des politischen Südens wurde kurz vor der Abstimmung destruktiv. Die nahende EU-Mitgliedschaft des Südens sollte für bessere Verhandlungsbedingungen sorgen. Das gelang nicht, die internationale Staatengemeinschaft kritisierte das Scheitern.

Hayrire Rüzgar arbeitet beim Home for Cooperation in der UN-Pufferzone Zyperns,

Deswegen war das Jahr 2003 für Hayrire prägend. Als Kind hatte sie keinen Einfluss auf die Abstimmung. Ihre Familie sprach über ihre Erfahrungen der Kämpfe in den 1960er und 70er Jahren, über Menschen, die vor ihren Augen starben. „Aber sie haben nie die Menschen an sich dafür verantwortlich gemacht“, so Hayrire. „Das hat mich sehr beeinflusst, dass sie da unterscheiden konnten.“ Ihr Familie lebte vor der Teilung mit griechischen Zyprioten zusammen und erzählten, dass keine Probleme miteinander gab. Zu diesem Gemeinschaftsgefühl will Hayrire wieder hin.

Im April 2024 sitzt sie mitten in der UN-Puffer-Zone in der zyprischen Hauptstadt Nikosia. Die Häuser um sie herum wirken wie Geisterhäuser. Ruinen als steinerne Zeugen eines blutigen Konflikts. Bei einem Haus aus gelbem Stein sind die Fenster mit Sandsäcken verbarrikadiert. Handgroße Einschusslöcher überziehen die Wände. Ein Vogel sitzt auf dem Fenstersims, Pflanzen wachsen im Inneren. Das Gebäude sieht aus, als könnte es jederzeit in sich zusammenfallen. Ein Veteran, gezeichnet von den bewaffneten Kämpfen zwischen griechischen und türkischen Zypriot:innen in den 60er und 70er Jahren.

Ein Symbol für den Frieden

Der Ort ist eine Sperrzone, teils wenige Meter, teils viele Kilometer breit. Es ist UN-Niemandsland. Der Norden, das ist die sogenannte Türkische Republik Nordzypern. Eine De-Facto-Regierung, die nur von der Türkei anerkannt wird. Der Süden, das ist die Republik Zypern. Seit 2004 ist sie EU-Mitgliedsstaat. Mitten in der Sperrzone liegt zwischen diesen beiden Seiten das Home for Cooperation (H4C). Ein Gemeindezentrum für alle, die auf der Suche nach Begegnung zwischen Norden und Süden sind. Ein Symbol für den Frieden. Denn das Projekt ist einzigartig, es hat eine Sondererlaubnis der UN, um in der Pufferzone zu agieren. Es soll die beiden Seiten über Kulturveranstaltungen zusammenbringen. Die Arbeitsräume sind auch für Non-Profit-Organisationen und Privatpersonen geöffnet, die sich für den Frieden einsetzen.

Hayrire arbeitet seit 2015 für das Home for Cooperation. Sie plant die Veranstaltungen und managt Social Media Inhalte. „Wir sehen, dass unsere Aktivitäten funktionieren. Wir organisieren kulturelle Events, weil sie mehr Menschen erreichen als andere Veranstaltungen.“ Gerade Musikveranstaltungen des H4C besuchen Menschen aus Norden und Süden. Sie kommen wegen der Kultur – und bleiben möglicherweise wegen des Miteinanders. Hayrire verbringt einen Großteil ihres Tages damit, Menschen zusammenzubringen.

Sport für den Frieden

Die Stille der Pufferzone durchbricht ein Lachen. Nur einige Meter entfernt sitzen im Schatten eines Sonnenschirms junge Menschen, trinken Cola und unterhalten sich. Weite kurze Hosen, Sonnenbrillen, breites Grinsen. Die Mittagssonne heizt die Straße vor dem Home for Cooperation auf. Von dort das Gebäude zu betreten, fühlt sich an, wie die Tiefkühltruhe im Hochsommer zu öffnen. In der unteren Etage liegen Seminarräume und ein Café mit Holztischen sowie einem Bücherregal, das sich über die ganze Wand zieht. Im zweiten Stock reihen sich Büros aneinander. Das Licht ist gedämmt, in vielen Räumen sind die Fenster verdunkelt. Am Ende eines Flures liegt das Büro von Stephanie Nicolas.

Stephanie Nicolas ist Gründerin von Peace Players Cyprus. Die Organisation möchte Norden und Süden über Sport verbinden.

Stephanie kommt aus dem südlichen Teil der Insel und wohnt in Nikosia, nahe der Puffer-Zone. Vor etwa einem Jahr hat sie Peace Players Cyprus gegründet. „Es ist hart, es ist anstrengend, aber es ist auch lohnenswert“, sagt sie. Peace Players ist eine gemeinnützige Organisation. Stephanie und ihre 20 Helfenden bringen einmal im Monat Kinder von der ganzen Insel in der Puffer-Zone zusammen. Dort treiben die Kinder zusammen Sport. Immer im Wechsel: zwei Stunden Sport, zwei Stunden theoretische Friedensbildung. „Sport bringt Menschen aus verschiedenen Kulturen und Communities zusammen, die gemeinsam als Team etwas erreichen wollen“, sagt Stephanie. „Das schafft eine eigene Identität.“  Die 34-Jährige hat als Jugendliche selbst Basketball in einem bikommunalen Sommercamp gespielt. Damals war sie 15 Jahre alt. Über den Sport lernte sie die andere Seite der Insel kennen und mit ihr auch ihre Familie.

„Ich bin überzeugt, wenn die Politiker herkommen würde und sehen würde, was wir hier machen, würden sie verstehen“ – Stephanie Nicolas

Die beiden Aktivistinnen Hayrire und Stephanie geben weiter, was sie in jungem Alter lernten. Sie entschieden sich nicht allein, die andere Seite kennenzulernen. Ihnen wurde geholfen, die – wie Hayrire sie nennt – Barriere im Kopf zu durchbrechen. Hayrire wurde von der politischen Lage beeinflusst. Stephanie öffnete sich, weil sie sah, was gesellschaftliches Engagement erreichen kann. „Ich bin überzeugt, wenn die Politiker herkommen würde und sehen würde, was wir hier machen, würden sie verstehen“, sagt Stephanie.

Der Politikwissenschaftler Hubert Faustmann leitet seit das Büro der Friederich-Ebert-Stiftung auf Zypern.

Hubert Faustmann ist anderer Meinung. Der Politikwissenschaftler leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung auf der Insel und doziert seit 25 Jahren an der Universität Nikosia. Beide Seiten sind offen destruktiv, sagt er. Die politische Führung im Norden setze um, was die Türkei wolle. „Die griechisch-zyprische Seite ist aber auch nicht besser“, sagt Faustmann. Der derzeitige Präsident der Republik Zypern, Nicos Christodoulides, werde von Hardliner-Parteien unterstützt, die gegen eine Wiedervereinigung seien. „Das Schlimmste, was ihm innenpolitisch passieren könnte, wäre die Wiederaufnahme der Gespräche“, erklärt Faustmann. Öffentlich kommuniziert werde diese Haltung nicht. „Selbst die größten Hardliner sagen, wir wollen eine Wiedervereinigung der Insel. Man wäre ein Verräter, wenn man die verlorenen Gebiete im Norden aufgeben würde. Es ist ein sehr eingeschränkter und verlogener Diskurs.“ Es gebe einen völligen Stillstand. Der Präsident der türkischen Republik Nordzyperns, Ersin Tatar, lehnte Anfang April Verhandlungen ab, solange der Norden nicht als unabhängiger Staat anerkannt werde. Es sei unmöglich, die Verhandlungen von 2017 dort weiterzuführen, wo sie aufgehört haben, heißt es. Politisch scheint also keine Veränderung in Sicht.

Zurück in der Sperrzone. Gegenüber des Home for Cooperation steht ein Hotel. Fünf Stockwerke ragen die gelben Mauern hoch. Ornamenten zieren die Fenster. 200 Schlafzimmer, zwei Bars, Cafés, ein Pool. Tourist:innen sind hier trotzdem nicht. Kein Personal geht über die Gänge des Ledra Palace Hotels. Dabei sind es nicht die vielen Einschusslöcher an den Außenwänden, die Tourist:innen fernhalten. Es ist die Lage in der Pufferzone, die es verbietet. Besuchende gibt es trotzdem. Friedenstruppen der UN wohnen in dem ehemaligen Luxus-Hotel. Seit vielen Jahren ist es außerdem Treffpunkt für bikommunale Friedensverhandlungen, ein Safespace für Aktivist:innen, eine Art Vorgänger des Home4Cooperation. Jahrzehnte der Hoffnung, der Begegnung.

“Aus Paphos war da noch niemand.”

„Kommunalen Friedensaktivisten fallen sich um den Hals und haben das Problem intern schon zehnmal gelöst“, sagt Hubert Faustmann. Es gelinge ihnen nicht, in die Masse der Bevölkerung auszustrahlen. Der Politikwissenschaftler ist überzeugt: Der Mainstream folge politischen Führern, denen sie mehr vertrauten. Laut Faustmann müsse Zypern rausbrechen daraus, dass bikommunale Friedensaktivisten die Zivilgesellschaft repräsentieren. Es müsse Vertreter aus der Bevölkerung nach dem Zufallsprinzip geben, um ein breites Bevölkerungsspektrum abzubilden. Ähnlich eines Konzepts der Gesellschaftsräte. „Friedensaktivisten sind wichtig, aber nicht entscheidend.“ Die Zivilgesellschaft müsse eine andere Dynamik in den Prozess bringen. Es müsse von unten Druck aufgebaut werden.

Nicht nur auf Zypern wird die Situation genau beobachtet. Thomas Diez von der Universität Tübingen forscht seit Jahren zum Konflikt auf der Insel. Die politische Situation auf Zypern ist einer seiner beruflichen Schwerpunkte.  Zum Friedensaktivismus in der Puffer-Zone sagt er: „Es gibt den Spruch ‚aus Paphos‘ war da noch niemand‘“. Die Stadt Paphos liegt am westlichen Rand der Insel, weiter entfernt von Nikosia geht’s auf Zypern kaum. Dennoch: „Ich glaube diese Aktivitäten sind unglaublich wichtig, um eine Infrastruktur für eine Lösung zu schaffen.“

Das Home of Cooperation liegt in der Pufferzone Nikosias.

Politische Bewegung im Zypernkonflikt gibt es seit Anfang des Jahres von außerhalb der Insel. UN-Generalsekretär António Guterres bestimmte die Kolumbianerin María Angela Holguín Cuéllar im Januar zu seiner Persönliche Entsandten für Zypern. Sie soll nach einer Grundlage für das kommende Vorgehen suchen und Guterres in der Zypernfrage beraten. „Ich möchte den Menschen und der Zivilgesellschaft zuhören. Ich erkenne all die Bemühungen der Vergangenheit an. Jetzt lasst uns gemeinsam in die Zukunft blicken“, sagte Cuéllar bei ihrer Ankunft auf Zypern.

Auch 50 Jahre nach der Teilung sieht Faustmann keine gemeinsame Zukunft. Er schätzt: „Es gibt einen Fortbestand des Status Quo.“ Die Zeit laufe für die Teilung. Immer mehr Türk:innen ziehen auf den nördlichen Teil der Insel. Der Anteil der türkischen Zyprioten wird weniger. Das macht laut Faustmann eine Wiedervereinigung für den Süden unattraktiver. „Die Normalität der Teilung wird mit jeder Generation weitervererbt“, sagt der Politikwissenschaftler.

“Die Dinge ändern sich sehr schnell auf Zypern“ – Hayrire Rüzgar

Natürlich herrschte Müdigkeit und es mangele am Glauben an eine Lösung, sagt Hayrire. „Es ist klar, dass es nicht so bleiben wird. Es kann nicht. Es wird eine Lösung geben.“ Ihre Motivation liege in den kleinen Momenten. Was sie gelernt habe, sei auf ihre Kapazität zu achten. „Wir sind nicht diejenigen, die das Friedensabkommen auf den Tisch bringen. Aber wir sind hier, um die Forderung der Gemeinschaften nach Frieden zu wecken.“

Für Stephanie kann das erst funktionieren, wenn die Politik den Friedensaktivismus unterstützt. „Wenn man tatsächlich einen kleinen Schritt in diese Richtung macht, dann bin ich schon ein bisschen hoffnungsvoller“, sagt sie. Hayrire sieht die Zukunft pragmatischer. „Die Dinge ändern sich sehr schnell auf Zypern“, sagt sie. Ihr ideales Szenario seien ein Friedensabkommen und eine Föderation. Dann sei das Ziel nicht mehr Barrieren zu überwinden und Menschen zu helfen, die Grenze zu überschreiten, sondern Versöhnung von einem strukturellen Standpunkt aus. „Es wäre utopisch zu sagen, dass wir uns in zehn Jahre zumindest auf eine Föderation geeinigt haben. Aber: Man kann nie zu utopisch sein.“

Fotos: Raphael Balke

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