Wie Michael trotz aller Hürden zum Tätowierer wurde

“Im Prinzip kann man sich bei Ebay ein Starterset bestellen und loslegen”, sagt Michael Wedel. Denn in Deutschland kann sich jeder Tätowierer nennen. Der Beruf ist nicht geschützt. Dass der Berufseinstieg umso schwieriger ist, zeigt Michaels Geschichte. 

Um Viertel nach 3 wird Michael Wedel langsam unruhig. In dem senfgelb gestrichenen Raum läuft er immer wieder auf und ab, während aus der Musikanlage zum dritten Mal der selbe Song tönt. Michael setzt sich auf einen Hocker am Fenster und holt sein Skizzenbuch hervor. Die Zeichnung darauf ist längst fertig. Er steht auf und beginnt, die metallisch glänzende Lampe neben der Liege mit Desinfektionsspray zu benetzen. Das hat er schon einige Male getan. Und er wird es noch einige Male wiederholen, bis sein Kunde sich durch den Verkehr in der Düsseldorfer Innenstadt gekämpft und es mit einer Stunde Verspätung in das Tattoo-Studio geschafft hat, in dem Michael arbeitet.

Mit jeder Minute, die verstreicht, und damit jeder Minute, die der Tattoo-Termin näher rückt, steigt die Nervosität. Nicht bei dem Kunden, in dessen Haut tausende Nadelstiche eingehen werden. Sondern bei Michael, der diese Nadel führen muss. Das Motiv, das in wenigen Stunden als schwarze Tinte unter der obersten Hautschicht seines Kunden verewigt sein wird, wollen die beiden noch absprechen. Michael hat mehrere Zeichnungen angefertigt, die es werden könnten. Oft fällt ihm aber noch ein Detail ein, das er genauer hätte zeichnen können, eine Kleinigkeit, die besser hätte sein können. Dann holt er wieder seinen Skizzenblock hervor, radiert eine Schattierung, zieht eine neue Linie. Die Ideen, die zu spät kamen, verfolgen ihn oft noch tagelang.

Heute, mit 26, kann Michael Wedel endlich als Tätowierer arbeiten.

Im “Berta Brundhilde” hat Michael eine Chance bekommen

Der Termin an diesem Nachmittag ist erst Michaels zweiter in dem neu eröffneten Studio „Berta Brunhilde“. Und der Mann, auf den er wartet, sein zweiter offizieller Kunde. Erst vor einer Woche wurde das Studio eröffnet. Es ist das erste, das Michael eine Chance gegeben hat. Für den Job ist er extra nach Düsseldorf gezogen. In seiner Heimat, Leipzig, hatte kein Tätowierer eine Ausbildungsstelle für ihn. Also hat Michael stattdessen Skizzenblöcke gefüllt, auf Orangenschalen geübt, Freunde tätowiert. Und seine Zeichnungen auf die eigenen Oberschenkel gestochen.

Im Prinzip kann man sich ein Starterset bestellen und loslegen. Das ist leider auch das, was einige machen.

Ausbildungsstellen für Tätowierer sind nicht einfach zu bekommen.  Denn eigentlich gibt es sie nicht. Obwohl rund jeder Fünfte Deutsche tätowiert und damit mindestens einmal mit einem Tätowierer in Kontakt gekommen ist, ist der Beruf nicht geschützt. Es gibt keine Zugangsregulierung, keine Qualifikation, keine Ausbildung nach einheitlichen Lehrplänen. „Im Prinzip kann man sich bei Ebay ein Starterset bestellen und loslegen. Das ist leider auch das, was einige machen – ist ja nicht verboten“, sagt Dirk Rödel vom Bundesverband Tattoo. Aus diesem Grund waren die drei größten deutschen Tätowierverbände schon Ende vergangenen Jahres zu Gast im Bundestag. Es ging um die Zukunft des Tätowierens – und wie Verbraucherschutz gesichert werden kann.

Schon lange bevor der Kunde eintrifft, beginnt Michael mit den Vorbereitungen.

Wo notwendige Hygienemaßnahmen nicht eingehalten werden, kann es zu Verunreinigungen kommen. Daher besprüht Michael Wedel die Oberflächen im Studio „Berta Brunhilde“ so oft mit Desinfektionsmittel. Er wickelt Folie um die Lampe, den Tisch, den Schrank. Eine frische Tätowierung auf seinem Unterarm klebt er ebenfalls mit Folie ab. Die Nadeln holt er kurz vor dem Termin aus einer verschweißten Verpackung. Die Farbe wird frisch geöffnet. „Man braucht halt diese kleinen Schritte und Herangehensweisen“, sagt er. Früher hat Michael in der Medizin gearbeitet, erst als Praktikant im Krankenhaus, dann zwei Jahre als Pflegehelfer. Schon dort hat er gelernt, wie wichtig Hygiene ist und wie er sie in kleinen Schritten sichert.

Ob Friseur oder Tattoo-Studio – das Gesundheitsamt macht keinen Unterschied

Wenn es nach dem Bundesverband Tattoo geht, sollte jeder Tätowierer Hygienekenntnisse ähnlich wie Michaels vorweisen können. Einen Befähigungsnachweis über Fachkenntnisse im Tattoogewerbe nennt das

Damit alles steril bleibt, werden die Oberflächen mit Folie eingewickelt.

der Verband. Momentan aber gibt es je nach Bundesland höchstens Auflagen des Gesundheitsamts, die Tattoo-Studios erfüllen müssen. In Nordrhein-Westfalen unterliegen Studios den Auflagen der „Verordnung zur Verhütung übertragbarer Krankheiten“. Kurz: Hygiene-Verordnung. Meldet ein Tätowierer ein Gewerbe an, ist sogleich auch das Gesundheitsamt informiert und kontrolliert regelmäßig die Einhaltung der Auflagen. Die gleichen Bestimmungen gelten auch für Friseursalons, Kosmetik- und Fußpflegestudios. Orte, an denen Verletzungen vorkommen und verunreinigt werden könnten. In Tattoostudios können Verletzungen aber nicht nur vorkommen, sie sind notwendig, jeden Tag entstehen offene Wunden. Einen Unterschied in den Auflagen macht das nicht. Kontrolliert werden die Räume – nicht die Fachkunde der Tätowierer.

Die fehlende Regulierung macht den Berufseinstieg umso schwieriger. Was lernt man, wenn nichts verlangt wird? Wo fängt man an, wenn kein Ziel vorgegeben ist? Die Wege in den Beruf sind daher vielfältig. Einige Studios haben die Ausbildung ihrer Tätowierer selbst in die Hand genommen und bieten Ausbildungsstellen an. Formell erlangen die Auszubildenden dadurch keinen berufsqualifizierenden Abschluss. Aber sie können tätowieren.

Üben am eigenen Körper

Michael Wedel hatte nicht das Glück, von einem erfahrenen Tätowierer in das Handwerk eingeführt zu werden. „Ich hab‘ erst in Leipzig gesucht, aber da war halt ein großer Anlauf von Leuten, die angefangen haben. Und viele Studios haben dann gesagt: ‚Probier‘s erstmal aus.‘“ Als seine Suche ihn zu „Berta Brunhilde“ geführt hat, hatte er sich bereits selbst ausgebildet. Hatte Bücher gelesen, die seriösen Informationen im Internet gesucht, Tätowierer ausgefragt und Freunde beim Tätowieren beobachtetet. In Düsseldorf durfte Michael deswegen direkt als Tätowierer anfangen.

Michaels Skizzenbuch ist voll mit seinen Lieblingsmotiven: Augen und Pflanzen.

Das Wichtigste, sagt er, sei das Zeichnen: „Ich habe echt die letzten drei Jahre wie ein Verrückter gezeichnet – vor allem mit Tinte, was halt sehr ähnlich ist.” Menschliche Haut zu tätowieren sei trotzdem noch etwas ganz anderes. Deswegen hat Michael hauptsächlich auf seinen eigenen Oberschenkeln geübt. Er habe sogar einen Bereich, erzählt er, wo er neue Techniken ausprobiere. So kann er beobachten, wie das Ergebnis altert.

Ein Tattoo bleibt für immer, oder ein Leben lang zumindest. Der Verantwortung muss man sich bewusst sein.

Das Wissen darüber, wie die Haut altert, wie das Tattoo sich entwickelt, wenn man tiefer sticht, welche Körperstellen ungeeignet sind, steht nicht in Büchern. Es entwickelt sich mit der Erfahrung. Die hatte Michael noch nicht, als er sein erstes Tattoo gestochen hat. Acht Jahre ist das her. Michael erzählt, wie ein Freund und er die Tätowiermaschine aus einer elektrischen Zahnbürste zusammengebaut haben. „Gerade ein Tattoo bleibt für immer da, oder ein Leben lang zumindest… der Verantwortung muss man sich bewusst sein“, sagt Michael. Deswegen sei er heute nahezu perfektionistisch.

Die eine “gute” Technik gibt es nicht

Mit der Verantwortung ist es so eine Sache. Von verpatzten Motiven, von falschen Farben und Schreibfehlern hat fast jeder schon einmal gehört. Vom Bekannten, dem Partner der Freundin einer Cousine, im Zweifelsfall durch eine eigene Privatfernseh-Sendung für verhunzte Tattoos. Der Bundesverband Tattoo habe auch diskutiert, „ob es im technischen Bereich Prüfungen geben sollte, ob man erheben sollte, inwieweit jemand fähig ist. Das ist aber schwierig, weil es schon so viele Arten von Techniken gibt, dass das ein Fass ohne Boden ist“, sagt Dirk Rödel. Tätowierungen seien nicht zuletzt auch Kunstwerke. Was für den einen wie eine Kinderzeichnung aussehe, sei für den anderen auf abstrakte Weise schön.

Die Freiheit hat auch Vorteile

Auch Michael Wedel schätzt die Freiheit, die sein Beruf ihm bietet. Während er auf seinen Kunden wartet, blättert er noch einmal alle Zeichnungen in seinem Skizzenblock durch. Seine Finger gleiten über krumme Bäume und exotische Blumen. Wenn er von seiner Kunst erzählt, spricht er schneller und lächelt: „Mir ist enorm wichtig, dass ich versuche meinen eigenen Stil zu finden. Gerade in der Kunst… dass ich versuche, mich von dem zu trennen, was es schon gibt, um meine eigene Art und Linienführung zu finden.“

Das ist es letztendlich, wofür seine Kunden bezahlen, wenn sie zu ihm kommen. So wie sein Kunde heute. Um kurz nach vier öffnet sich die Tür des kleinen Studios. Der Kunde kommt herein, grinst etwas verlegen und entschuldigt sich noch einmal. Er und Michael plaudern kurz über das neu eröffnete Studio. Schön ist’s hier geworden. Coole Wandfarbe, sieht ja echt nicht schlecht aus. Michael holt erneut den Skizzenblock hervor und präsentiert seine Zeichnung. Er scheint schon im Begriff, weitere Vorschläge zu machen. Doch dem Kunden gefällt’s. „Ja super, machen wir so“. Vier Stunden später starrt ein Auge von seinem linken Bein in den Spiegel neben der Liege.

Alle Fotos: Alina Andraczek

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