2017 wurde der Hannibal 2 evakuiert. Der Grund: Mängel beim Brandschutz. Fast vier Jahre nach der Räumung haben die Sanierungsarbeiten am Hochhauskomplex in Dortmund-Dorstfeld immer noch nicht begonnen. Viele der 753 Ex-Mieter*innen fordern Schadensersatz. Sie sind frustriert, weil ein Gerichtsprozess den Zahlungen im Weg steht. Um ihre Chancen auf Geld zu erhöhen, behalten Einige sogar bis heute ihren Mietvertrag.
Um 18 Uhr klopft ein Mitarbeiter des Räumungskommandos an Dimitar Tachkovs Wohnungstür in Dortmund-Dorstfeld. „In 15 Minuten müssen Sie draußen sein“, sagt er knapp. Tachkov ist damals in Frankfurt am Main auf Messearbeit. Nur seine Cousine befindet sich in der Wohnung. Sie greift sich das Nötigste und verlässt ihr Zuhause in der sechsten Etage des Vogelpothswegs 26. Es ist der 21. September 2017 und die Tachkovs verlieren ihre Wohnung im Hochhauskomplex Hannibal 2.
Schlechter Brandschutz führt zu Evakuierung
So wie Dimitar Tachkov geht es allen anderen Mieter*innen des Hauses: 753 Menschen in 412 Wohnungen leben im Hannibal 2 und müssen nun ihr Zuhause verlassen. Der Grund: Brandschutz. Dieser ist laut Stadt Dortmund nicht mehr gegeben, seit ungenehmigte Umbauarbeiten am Gebäude vorgenommen wurden. Einige Wochen nach der Räumung bezieht der Gebäudebesitzer Lianeo Real Estate (damals: Intown) Stellung: Das Unternehmen gehe davon aus, dass es mindestens zwei Jahre dauern werde, den Hannibal 2 zu sanieren. Bis zum Abschluss der Arbeiten bleibt das Gebäude unbewohnbar. Tachkov sah das bereits kommen: „Wir haben schon vor der Stellungnahme angefangen, nach einer neuen Wohnung zu suchen.“
Heute, fast vier Jahre später, haben die Sanierungen im Hannibal 2 immer noch nicht begonnen. Erst im November 2020 genehmigte die Stadt den Bauantrag. Zuvor hatte sie diesen bereits einmal abgelehnt, weil das Brandschutzkonzept nach wie vor mangelhaft gewesen sei. Doch die Sanierung des Gebäudes ist längst zur Nebensache geworden. Im Vordergrund steht der Prozess zwischen Stadt und Eigentümer Lianeo: Die streiten momentan vor Gericht, wer für die Räumung 2017 verantwortlich ist.
Wer zahlt die Räumung?
Nach Aussage der Stadt liegt die Schuld für die Evakuierung bei Lianeo. Sie will, dass der Konzern knapp die Hälfte der Kosten übernimmt, die aufgrund der Räumung entstanden sind. Diese belaufen sich auf mehr als 1,6 Millionen Euro. Bis heute hat ausschließlich die Stadt gezahlt. Lianeo hält dagegen: Das Unternehmen sagt, die Evakuierung des Gebäudes sei unverhältnismäßig gewesen. Schuld trage die Stadt. Deshalb soll diese auch die vollen Kosten übernehmen. Mittlerweile zieht sich der Prozess bereits über mehr als drei Jahre. Wann es zu einem Urteil kommt, ist unklar. Keiner der Beteiligten äußert sich zum aktuellen Stand des Verfahrens.
Kernproblem des Gebäudes und Grund, warum es 2017 geräumt wurde, sind die 32 Belüftungsschächte im Hannibal 2. Sie verlaufen senkrecht durch das Hochhaus und müssten eigentlich mit speziellen Brandschutzwänden ausgestattet sein, die Rauch und Feuer für 90 Minuten abhalten. So hätten die Bewohner*innen im Ernstfall mehr Zeit, um das Gebäude zu verlassen. Diese Vorgabe wurde nicht erfüllt: Durch die Schächte im Gebäude verlaufen Kabel, in einigen Wohnungen klaffen Löcher in der Wand. Hier kann man einfach in die Schächte hineinschauen. Ein Brand im Hannibal 2 hätte wohl verheerende Folgen gehabt.
Am Tag der Räumung werden die Bewohner*innen deshalb mit Bussen vom Gebäude abgeholt. Alle, die sich kurzfristig keine Bleibe organisieren können, bringt die Stadt in Notunterkünften unter. Zuerst auf Feldbetten in einer Sporthalle, später in Übergangswohnungen und Gemeinschaftsunterkünften. Dimitar Tachkov kommt nach seiner Rückkehr aus Frankfurt im Studentenzimmer eines Freundes unter. „Zum Glück“, sagt der 33-Jährige heute, „die Notunterkünfte fand ich nicht so nice.“
Wohnungsbesuche nach Räumung: „Ein Abenteuer“
Ein Problem hat er trotzdem: Sein gesamter Besitz liegt noch in seiner Wohnung im Hannibal 2. Und auch, wenn er einige Klamotten in Frankfurt dabei hatte, gehen ihm langsam die sauberen T-Shirts aus. Um das Problem zu beheben, organisiert die Stadt Wohnungsbesuche für die Mieter*innen. „Die waren ein ganz schönes Abenteuer“, erzählt Tachkov. Drei Mitarbeiter*innen einer Sicherheitsfirma begleiten ihn bei den Besuchen. „Einer stand unten am Haupteingang, einer wartete am Aufzug und einer kam mit uns bis zur Wohnung.“
Nur eine halbe Stunde pro Besuch hat Tachkov, um seine Sachen aus der Wohnung zu holen. Deshalb muss er öfter kommen. „Am Anfang habe ich nur Klamotten und Kleinigkeiten mitgenommen“, erinnert er sich. Für den Umzug mit Möbeln und Küche vereinbart er mit dem Vermieter einen Termin im November 2017. Statt 30 Minuten darf er sich hier acht Stunden Zeit lassen, um seinen Hausstand aus der Wohnung zu tragen.
Seitdem wohnt Tachkov mit seinem Bruder und seiner Cousine in Dortmund-Huckarde. Der Hannibal 2 sorgt bei ihm trotzdem noch für Stress. Denn der Prozess zwischen der Stadt und dem Besitzer Lianeo betrifft auch die ehemaligen Mieter*innen des Gebäudes.
Tachkov hofft auf Abfindung
„Die Mieter sind momentan in der Zwickmühle: Sie fordern Schadensersatz, können sich aber an niemanden richten, weil der Eigentümer auf die Stadt und die Stadt auf den Eigentümer verweist“, erläutert Markus Roeser, wohnungspolitischer Sprecher des Mietervereins Dortmund und Umgebung. Die ehemaligen Bewohner*innen hätten zum Beispiel für den Umzug und die Einrichtung ihrer neuen Wohnungen Geld zahlen müssen. Solange noch unklar ist, wer für die Räumung verantwortlich ist, können die Ex-Mieter*innen ihre Forderungen allerdings nicht vor Gericht bringen.
Auch Dimitar Tachkov hat noch keinen Schadensersatz erhalten. In seiner neuen Wohnung zahlt er ungefähr 100 Euro mehr als im Hannibal 2. Tachkov hofft, dass ihm ein Teil dieser Differenz bald erstattet wird. Um seine Chancen zu steigern, das Geld am Ende zu bekommen, hat er immer noch seinen Mietvertrag im Hannibal 2.
Damit ist er nicht der Einzige: Circa 8 bis 13 Prozent der ehemaligen Bewohner*innen haben laut Schätzungen des Mietervereins ihren Mietvertrag noch nicht gekündigt. Da sie momentan nicht im Hannibal 2 wohnen, zahlen sie keine Miete. Einige wollen in ihre alte Wohnung zurückkehren, nachdem diese saniert wurde. Die meisten spekulieren allerdings wie Dimitar Tachkov auf Abfindungszahlungen durch den Eigentümer.
Viele Verträge bereits aufgelöst
„Es kann sein, dass der Eigentümer die Leute aus ihren Verträgen rauskauft“, erklärt Markus Roeser vom Mieterverein. Ohne bestehende Mietverträge hätte der Gebäudebesitzer mehr Planungsfreiheit und könnte die Wohnungen nach der Sanierung zum Beispiel teurer weitervermieten.
Die meisten Mieter*innen haben ihren Vertrag allerdings gekündigt. Laut Roeser ist einer der Gründe dafür, dass der Besitzer die Kautionen für die Wohnungen bis zur Vertragsauflösung einbehält: „Viele Leute brauchen das Geld, um eine neue Wohnung mieten zu können.“ Außerdem sei die Option, den Mietvertrag zu behalten, vielen Bewohner*innen einfach nicht bekannt gewesen. Diese Leute hätten zwar keine Chance mehr auf eine Abfindung durch den Eigentümer, behielten allerdings ihren Anspruch auf Schadensersatz.
Neuer Eigentümer verkündet Sanierungsstart
Nachdem die Stadt im November 2020 die Baugenehmigung für den Hannibal 2 erteilt hatte, äußerte sich Lianeo lange nicht, wann die Sanierungsarbeiten beginnen sollen. Erst vor wenigen Monaten gab es Neuigkeiten: Ende Februar verkündete das Unternehmen in einer Pressemitteilung, dass es das Gebäude an die Frankfurter Immobilienfirma Forte Capital verkauft.
Forte besitzt bereits ungefähr 1600 Wohnungen in Dortmund und kündigte an, im zweiten Halbjahr 2021 mit der Renovierung am Hannibal 2 zu starten. Wann genau die Sanierung beginnt und wie lange sie dauern wird, steht noch nicht fest. Ein Vertreter des Unternehmens erklärte am Telefon, dass es genauere Informationen erst im Herbst bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Stadt geben wird.
Skepsis beim Mieterverein
Die Freude über den angekündigten Sanierungsstart ist beim Mieterverein eher verhalten. Geschäftsführer Thomas Scholz erklärte in einer Pressemitteilung, dass Investitionen in Wohnungen von Forte nur „mit langsamer Schlagzahl und begrenztem Umfang“ vorgenommen werden. Das hätten Erfahrungen mit dem Unternehmen gezeigt. Der Mieterverein hoffe, dass Forte sich mit „den Herausforderungen des Gebäudes ausreichend auseinandergesetzt“ habe.
Dimitar Tachkov hat sich in seiner neuen Wohnung mittlerweile eingelebt. Beim Interview per Zoom sind im Hintergrund die Wände seines Zimmers zu sehen, bedeckt mit Weltkarten und BVB-Schals. „Ich bin jetzt glücklicher“, sagt er und lächelt. Die neue Wohnung sei in besserem Zustand. In den Hannibal zurückkehren würde er nur, wenn er eine renovierte Wohnung zum gleichen Preis bekäme. Das hält er allerdings für unwahrscheinlich. Obwohl er sich eine Sanierung wünscht, glaubt er nicht daran, dass diese bald beginnt. Zu oft schon wurden Termine nicht eingehalten: „Ich glaube nicht, dass der Hannibal in den nächsten fünf Jahren wieder bewohnbar ist.“
Beitragsbild: Jakob Schiffer