Videospiele können süchtig machen. Auch die WHO hat Anfang 2022 Gaming Sucht als Krankheit anerkannt. Expert*innen werfen den Spieleentwickler*innen schon seit Jahren vor, bewusst Suchtfallen in ihre Spiele einzubauen. Die Branche wehrt sich dagegen.
Der Regen prasselt gegen das Fenster. Dicke graue Wolken bedecken den ganzen Tag den Himmel. Es ist einer der Tage, an denen das Wetter nicht dazu einlädt, rauszugehen. Auch Nils (Name geändert) verlässt seine Wohnung heute nicht mehr. Er sitzt auf seiner kleinen Couch und schreit den Fernseher an. „Das ist normal bei FIFA“, sagt er. „Ausrasten gehört in der Community dazu.“
Nils studiert im ersten Semester. Während sich Kommiliton*innen in Bars oder im Café treffen, spielt er fast jeden Tag die Fußballsimulation FIFA. Wenn er nicht gerade online gegen andere Gamer*innen zockt, feilt er an seiner Teamaufstellung. „Denn egal, wie gut die Spieler sind, im Team muss die Chemie stimmen. Das braucht Zeit.“
Mit dem „Squad Building“ verbringt Nils die meiste Zeit, wenn er vor der Konsole hockt. Er befindet sich fast nur im Ultimate Team Modus. Hier kann er sein eigenes Team mit Spielern aus der ganzen Welt zusammenstellen. Im normalen Spielmodus ist das nicht möglich. Dort kann er nur mit den realen Kadern von über 700 Vereinen aus den weltweiten Top-Ligen spielen. Eine solche Partie spielt er eher selten. Freundschaftsspiele gegen den Computer erst recht nicht.
Das Geschäftsmodell FIFA Ultimate Team
Nils ist kein Einzelfall. Auch die bekanntesten Gamer*innen der Szene sind selten auf dem virtuellen Fußballplatz anzutreffen. Statt selbst zu spielen, verbringen sie ihre Zeit hauptsächlich mit den sogenannten Pack Openings. Auf der Plattform Twitch öffnen Streamer*innen wie MontanaBlack88 oder EliasN97 stundenlang FIFA-Packs. Dabei schauen ihnen Tausende von Menschen zu – darunter auch Nils. In diesen Packs sind digitale Sammelkarten von Fußballspielern, mit denen er sein Ultimate Team zusammenstellen kann. Welche Spieler darin sind, weiß er vorher nicht. Darüber entscheidet der Zufall. Auf den ersten Blick wie Panini-Bilder in Videospielform.
Nils kann sich die Packs zwar kostenlos erspielen – das erfordert aber Zeit und Mühe. Der FIFA-Betreiber Electronic Arts (EA) lockt alternativ mit einem bequemen Angebot: ein Kauf mit echtem Geld. Der Preis hängt vom Durchschnittsrating der Spieler in einem Karten-Set ab. Nils muss kurz nachdenken, wie viel die teuersten Packs kosten. Er kann bei Ultimate Team nämlich nicht mit normalem Geld, sondern nur mit FIFA-Coins bezahlen. Bevor er ein neues Pack öffnen kann, muss er diese Coins im EA Store kaufen. Die Coins sind eine In-Game Währung – eine eigene Währung, die nur im Spiel einen Wert hat. Die Wechselkurse von Euro zu Coins können verwirren und verschleiern den wahren Preis der Sammelkarten. Diese Erfahrung musste der Student auch machen. „Du bezahlst über PayPal. Dann denkst du dir: Ach komm, für 40 Euro lade ich mal meine FIFA-Coins auf. Das merke ich ja im Portemonnaie gar nicht. Und nach einiger Zeit verlierst du den Sinn dafür, wie viel Geld manche Spieler kosten können.“
Umgerechnet bis zu 25 Euro bezahlen Gamer*innen für ein solches Pack. Die Wahrscheinlichkeit, einen guten Spieler wie Ronaldo oder Messi zu ziehen, ist verschwindend gering. Solche Wundertüten, in denen die Gamer*innen per Zufall virtuelle Gegenstände zugelost bekommen, heißen Loot Boxen. Die digitalen Beutekisten stehen schon seit Jahren in der Kritik, gehören mittlerweile jedoch zu fast jedem Videospiel. Bei Ego-Shooter-Spielen wie Call of Duty oder Counter Strike erhalten die Spieler*innen in einer Loot Box Rüstungen, Tarnungen oder Waffen. Auch hier können sie sich die Boxen kostenlos erspielen, jedoch nur mit utopisch langen Spielzeiten. Besonders bei FIFA ist die Loot Box in Form der FIFA-Packs ein essenzieller Teil des Spiels. Die können FIFA zu einem sehr teuren Hobby machen. Viele Streamer*innen geben bis zu 10.000 Euro im Jahr für ihr Ultimate Team aus. Nils hat sich vorgenommen, weniger zu kaufen. Letztes Jahr steckte er in einem Monat fast 400 Euro in sein Team. Für ihn als Studierender viel Geld. „In das neue FIFA 2022 habe ich bis jetzt 40 bis 50 Euro investiert. Mehr will ich nicht ausgeben. Meine Suchtphase vom letzten Jahr soll sich nicht wiederholen.“
Der Suchtfaktor im Gaming
Dass Videospiele süchtig machen, zeigen nicht nur Einzelfälle. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im neuesten ICD-Bericht, in dem sie alle anerkannten Krankheiten katalogisiert, die „gaming disorder“ als Verhaltenssucht anerkannt. Für viele Expert*innen nur noch eine Formalie. Schon seit Jahren debattieren sie immer wieder über Suchtfallen oder glücksspielähnliche Mechanismen bei Videospielen. Eva Harlake ist Leiterin des auxilium reloaded, einer Facheinrichtung für Jugendliche mit riskantem Medienkonsum in Dortmund. Sie warnt davor, alle Spieler*innen zu pauschalisieren: „Videospiele haben ganz klar Suchtpotential. Aber nicht jeder Spieler wird süchtig“, sagt Harlake. Sie spricht lieber von einem riskanten Konsum. Harlake will die Jugendlichen in ihrer Einrichtung nicht stigmatisieren. Die Bewohner*innen des auxilium reloaded-Hauses in Dortmund Aplerbeck sind meist noch sehr jung. Im Durchschnitt zwischen 14 und 16 Jahren. Bei einem riskanten Konsum über einen Zeitraum von durchschnittlich zwei Jahren von einer Abhängigkeit zu sprechen, sei etwas viel, findet Harlake.
Nichtdestotrotz vergleicht die WHO Gaming mit anderen Süchten. Harlake unterstützt diese Entscheidung: „Im Prinzip treffen alle Kriterien, die es in anderen Suchtbereichen gibt, auf Gaming zu. Das hat auch die WHO erkannt.“ Die Sucht zeigt sich besonders in den Symptomen. Die Betroffenen vernachlässigen Schule und Ausbildung. Grundbedürfnisse wie Ernährung, Sport oder soziale Netzwerke werden häufig zweitrangig. In Gesprächen mit ihren Patient*innen fällt Eva Harlake auf, dass die Betroffenen Gaming oder andere Medien nutzen, um schlechte Gefühle oder Streit mit der Familie zu kompensieren. Oft kämen die Patient*innen bis zu dem Punkt, dass sie nicht aufhören können, auch wenn sie sich den negativen Auswirkungen bewusst sind.
Bei Loot Boxen sieht Harlake eine akute Gefahr für die Betroffenen. „Die Gamer setzen zehn Euro und wissen am Ende nicht, was dabei rumkommt. Das Spiel suggeriert mir aber, dass ich die Packs kaufen muss, um weiterzukommen. Das kann für Jugendliche mit riskantem Konsum weitreichende Konsequenzen haben.“ EA hält sich bedeckt zu den Umsätzen, die sie mit den FIFA-Packs einnehmen. Forscher*innen der Universität Plymouth und Wolverhampton haben herausgefunden, dass für die Hälfte des Umsatzes durch In-Game-Käufe nur knapp fünf Prozent der Spieler*innen verantwortlich sind. Ein beträchtlicher Teil davon ist minderjährig. Eine frühere Untersuchung aus Großbritannien hat ergeben, dass 93 Prozent aller Kinder Videospiele nutzen und 40 Prozent davon schon eine Loot Box gekauft haben. Laut den Befragten handelt es sich dabei meist um FIFA-Packs.
Ist das schon Glücksspiel?
Nils würde sich nicht als videospielsüchtig, sondern als glücksspielaffin bezeichnen. FIFA Ultimate Team sowie die Packs erinnern ihn häufig an Glücksspiel. „Ich würde FIFA schon mit einer Spielothek vergleichen. Ich weiß, die Bank gewinnt immer, aber ich gehe trotzdem rein. Denn es könnte ja sein, dass ich heute Glück habe.“
Diese Position vertritt auch Richter des Berliner Verwaltungsgerichts Lars Klenk: „Das Glücksspielrecht hat im Wesentlichen zwei Zwecke: Suchtbekämpfung und Jugendschutz. Wenn wir uns anschauen, was Loot Boxen sind und wo sie zum Einsatz kommen, spricht daher einiges dafür, sie als Glücksspiel einzuordnen.“ Um von Glücksspiel sprechen zu können, müssen zwei Kriterien erfüllt sein: Die Spieler*innen müssen gegen Geldwert etwas gewinnen und der Erfolg muss vom Zufall abhängen. Für Klenk trifft beides auf Loot Boxen zu. Die Mehrheit der Jurist*innen argumentiert aber dagegen. Die Spieler hätten in der realen Welt keinen Geldwert, schon deshalb sei es kein Glücksspiel.
Die rechtliche Lage ist undurchsichtig. Bislang gibt es in Deutschland keine bekannten Urteile gegen die Spielehersteller. Anders als in Belgien: Hier gelten die Loot Boxen mittlerweile als verbotenes Glücksspiel. Das heißt, Gamer*innen können sich die Packs zwar noch erspielen aber nicht mehr für Echtgeld kaufen. In den Niederlanden gab es seit 2018 eine ähnliche Gesetzesregelung. Nach erfolgreicher Klage von EA vor dem niederländischen Verwaltungsgericht sind seit März 2022 dort FIFA-Packs aber wieder erlaubt. Für Lars Klenk ist es jedoch nicht die Gesetzgebung, sondern die Politik, die den Kampf gegen Loot Boxen verlangsamt. „Wenn Loot Boxen unter Glücksspielrecht fallen würden, würde das erstmal wenig ändern“, argumentiert Klenk. Da es im Internet schwierig sei, gesetzliche Regelungen durchzusetzen, erfordere es einen starken politischen Willen. Lars Klenk ist der Meinung, dass es den Spieleentwicklern recht egal sein kann, ob Loot Boxen Glücksspiel sind oder nicht, solange der Staat nicht eingreift.
Die Branche wehrt sich
Die Videospieleindustrie wächst schnell. Gaming ist mittlerweile der größte Markt in der Unterhaltungsbranche. Im vergangenen Jahr nahmen Videospielfirmen über 200 Milliarden US-Dollar an Umsätzen ein. Damit übersteigt Gaming andere Unterhaltungsmärkte wie Musik, Film und Sport um ein weites.
Alleine Loot Boxen machen rund acht Prozent des Umsatzes aus. Das geht aus einer Studie des norwegischen Verbraucherschutzrates hervor. Es überrascht daher nicht, dass Publisher wie EA und andere Spielehersteller sich vehement gegen den Glücksspielbegriff und die Regulierung von Loot Boxen wehren. Auch der Arbeitgeberverband der deutschen Gaming-Branche, game, möchte Loot Boxen nicht mit Glücksspiel gleichsetzen. Ihr Argument: Mit dem eingesetzten Geld erhalten die Gamer*innen, anders als beim Glücksspiel, immer einen Gegenwert. Hinzu kommt, dass Loot Boxen den Spieler*innen laut game keinen Spielvorteil verschaffen.
Neues Spiel, neues Glück
Nils sieht das anders. Ein Weltklasse-Spieler im gekauften Pack kann den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen. Für ihn der Grund, warum die Packs überhaupt so beliebt sind. „Wer viel und gerne zockt, möchte der Beste sein. Wenn ich das nur mithilfe von Spielern aus den Packs erreichen kann, fang ich vielleicht irgendwann an, mehr Geld als nötig dafür auszugeben.“
Der Beste möchte Nils nicht sein. Er hat erkannt, wie gefährlich die FIFA-Packs für ihn sein können und wie viel Geld er damit aus dem Fenster schmeiße. Deshalb möchte er weniger in sein Ultimate Team investieren. Gerade dann, wenn im Herbst das neue FIFA rauskommt. Fortschritte aus dem alten Spiel lassen sich nämlich nicht auf das neue Spiel übertragen. Das heißt: Egal, wie teuer das letzte Ultimate Team war, kauft Nils sich das neue FIFA, startet er wieder bei null.
Bild: Jan Vasek; Pixabay
Hey Maximilian
Liest sich super.
Zum Glück hat sich FIFA und Co bei mir mit dem älter werden herausgewachsen 😉
Gruß
Marcel Karsch
P.S. Deinen Geburtstag weiß ich immernoch