Trigger-Warnung: Dieser Artikel thematisiert Erkrankungen mit den jeweiligen Symptomen und Folgen.
Krebs ist für die meisten Menschen Mitte 20 kein relevantes Thema in ihrem Leben. Für Melisa Merve Gülen schon. Sie hatte bereits zwei Tumore in ihrem Kopf. Bis heute hat Melisa mit den Folgen ihrer Krankheit zu kämpfen.
Uni, Sport, Zeit mit Freund*innen verbringen – für junge Menschen ist das Alltag. Auch für Melisa Merve Gülen. Sie und ihre beiden besten Freundinnen Jessica und Lena gehen gerne zusammen ins Fitnessstudio, am Phoenix-See spazieren oder essen dort ein Eis. Hier haben sie sich auch oft nach Melisas Tumor-Behandlung verabredet. Vor zwei Jahren ging sie dort wieder ihre ersten Schritte.
Bereits zwei Mal in ihrem Leben hat die 23-jährige Dortmunderin gegen einen Hirntumor gekämpft. Mit den Folgen ihrer Erkrankung hat sie jeden Tag zu tun.
Kurz nach Melisas drittem Geburtstag wurde ein bösartiger Tumor in ihrem Kopf entdeckt. Ihre Mutter habe schon in den Wochen zuvor vermutet, dass etwas mit Melisa nicht stimmt: „Sie war immer ein lebendiges, aufgewecktes Kind, das gerne in Bewegung war. Auf einmal wurde sie viel stiller und wollte sich mehr ausruhen“, sagt Nurcan Gülen. Sie und ihr Mann leben mit Melisa und zwei weiteren Kindern in Dortmund-Aplerbeck. „Melisa hatte immer mal wieder Fieber. Das kam mir sehr merkwürdig vor.“ Eines Morgens Anfang Juli 2002 fiel ihr beim Frühstück auf, dass ihre Tochter schielte. Sie ging mit dem kleinen Mädchen zum Augenarzt, der nichts feststellte und davon überzeugt war, dass das Schielen keine schwerwiegende Ursache hatte.
Doch Melisa hörte nicht mehr auf zu schielen. Im Juli 2002 wurde sie in einer Augenklinik untersucht. Durch eine Computertomographie (kurz: CT) wurde festgestellt: Melisa hatte einen bösartigen Tumor mit einem Durchmesser von zehn Zentimetern auf der rechten Seite ihres Kopfes. Melisa musste mehrere Monate lang verschiedene Therapien machen, bis der Krebs vollständig weg war.
18 Jahre später, an ihrem 21. Geburtstag, erhielt Melisa das zweite Mal die Nachricht, dass sie einen Tumor in ihrem Kopf hat. Schon ein paar Monate vorher hatte sie ein unruhiges Gefühl: „Es vibrierte in meinem Kiefer und ich konnte oft nicht einschlafen.“ Melisa machte einen Termin zur Magnetresonanztomographie (MRT). Danach bekam sie die Diagnose. „Ich habe geschrien, geweint, zu Hause alles umgeschmissen. Ich war weg“, erzählt sie. Der Tumor in ihrem Kopf war zweieinhalb Zentimeter groß, aber gutartig und somit nicht lebensbedrohlich. Diese Art von Tumor entwickelt sich relativ langsam und verursacht erst spät Symptome wie Kopfschmerzen. Sie ist zwar gut behandelbar, kann jedoch zu jeder Zeit wieder zurückkehren. Melisas Freundin Jessica erinnert sich: „Melisa hatte vorher schon so eine Vorahnung. Ich sagte ihr, dass es nicht so sein wird, weil ich sie aufbauen wollte. Als ihr Anruf kam, dass sie wieder einen Tumor im Kopf hat, wusste ich nicht so richtig, wie ich reagieren sollte, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass es so ist.“
Noch heute leidet Melisa unter den Folgen ihrer Tumore und deren Chemo- und Strahlentherapien. Seit ihrem achten Lebensjahr bekommt sie jeden Tag Hormonspritzen. Zudem spürt sie an den meisten Stellen in ihrem Gesicht, in ihrem Mund und an ihren Lippen nichts mehr. Dadurch bemerkt sie nicht, wenn etwas Essen an ihrem Mund hängt oder etwas Speichel aus ihrem Mund entweicht. Auch ihre Gesichtshälften sind asymmetrisch und die junge Frau hatte starke Probleme bei der Knochenbildung sowie Wachstumsstörungen: „Ich wäre deutlich größer geworden, wenn ich keine Strahlentherapie gemacht hätte.“ Ihre Freundin Lena sagt: „Ich habe sehr viel Mitgefühl mit Melisa. Sie hat es nie leicht gehabt. Ich habe sie immer als einen sehr starken Menschen wahrgenommen.“
Oft fällt es Melisa auch sehr schwer, sich zu konzentrieren. Zuweilen beeinträchtigt sie das in ihrem Studium an der TU Dortmund. Dort ist sie für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben. Melisa kann nur wenige Stunden am Stück lernen, da ihr Gehirn bereits nach kurzer Zeit nicht mehr aufnahmefähig ist. Seit ihrer Operation vor zwei Jahren musste sie sich viele Dinge wieder neu aneignen. „Ich habe einige Tätigkeiten, zum Beispiel, wie man lernt, verlernt und muss mir aktuell alles wieder selbst beibringen“, sagt Melisa. Das kostet sie viel Zeit. Noch heute ist sie dabei, Schritt für Schritt wieder zu lernen, wie man sich in bestimmten Situationen verhält. Außerdem hat die Studentin Schwierigkeiten beim Sprechen. Sie strengt sich oft an, sich nicht zu versprechen.
Ihre langjährigen Freundinnen haben sie unterstützt, wo sie konnten, ihr Mut zugesprochen und sie verteidigt. Ihrer Freundin Jessica sei es immer wichtig gewesen, für Melisa da zu sein: „Ich stand immer hinter ihr, auch wenn andere versucht haben, sich über Melisa lustig zu machen. Ich habe immer versucht, sie zu bestärken“, sagt sie. Melisa wurde von ihren Mitschüler*innen gemobbt, zum Beispiel, wenn sie wegen ihrer Erkrankung eine Augenklappe tragen musste.
Auch heute wird Melisa aufgrund ihres Aussehens von anderen Menschen auffällig angeschaut. Sie hat ein sehr schmales Gesicht mit einem sehr kleinen Mund. Ihr Gesicht wirkt kindlich. Das erregt bei den Menschen Aufsehen. Die eine oder andere Person, die an ihr vorbeiläuft, schaut sie mit einem starren und zugleich fragenden Blick an. Die junge Frau regt sich sehr über die Blicke und manchmal darauffolgenden Kommentare anderer Menschen auf. Sie versteht nicht, warum Leute sie nur aufgrund ihres Aussehens durchgehend anstarren. Früher hat das oft an ihrem Selbstbewusstsein gekratzt. Heute versucht sie, es zu ignorieren oder spricht die Menschen konkret auf ihr Verhalten an. Fast immer bekommt sie einen fragenden und peinlich berührten Blick zurück. Trotzdem gibt es immer noch Situationen, in denen es Melisa wegen ihres Aussehens schwerfällt, selbstsicher zu sein. Daran möchte sie weiterhin arbeiten. Ihr Ziel ist es, eine erfolgreiche Frau zu werden, die es nicht interessiert, was andere Menschen über sie denken oder sagen.
Beitragsbild: Jil Bastian