Auf der Jagd nach Stadien: Groundhopper Dennis Böbel reist für den Fußball um die Welt

Ekstase. Der niederländische Verein Twente Enschede zieht ins Finale ein. Das Stadion explodiert förmlich. 30.000 Menschen, ein Meer aus rot, ein Meer aus Emotionen. Einer feiert nicht. Das Ergebnis ist ihm egal. Er ist für das Stadion hier.

Von Stadion zu Stadion. Dennis Böbel ist Groundhopper. Er besucht möglichst viele Fußballstadien (engl. Grounds) im Jahr. Er springt also von „Ground“ zu „Ground“, von Spielfeld zu Spielfeld. Ob Kreis- oder Erste Liga: Das ist ihm dabei nicht wichtig. Ob Deutsch- oder Ausland: ganz egal. Hauptsache Fußballplatz. Der Sozialarbeiter sammelt Stadien wie andere Briefmarken oder Münzen. „Früher hab‘ ich die Eintrittskarten ganz akribisch abgeheftet. Wegen der Online-Tickets mach‘ ich das jetzt nicht mehr“, sagt er. Bei Instagram folgen ihm knapp 24.000 Menschen, bei Facebook etwa 29.000. Er postet unter dem Namen Groundhopping-Germany Stadien und Spiele, die er besucht. Wie ein eigenes Tagebuch. Nur, dass alle mitlesen können. „Da steckt vor allem der Community-Gedanke dahinter. Leute zusammenbringen“, erklärt er. Groundhoppen, das ist nicht nur das Spiel. Das ist auch die Anreise. Das Miteinander. Die Atmosphäre Die Stadion-Wurst.

Zu den Spielen fährt Dennis meist mit dem Auto. Flexibler.

Heute will der Sozialarbeiter zum Spiel Twente Enschede gegen SC Heerenveen. Eredivisie, erste niederländische Liga. Play-Offs. Wer sich durchsetzt, zieht ins Finale ein. Wer das gewinnt, spielt nächstes Jahr europäisch. „Das ist für die natürlich das Spiel des Jahres“, sagt Dennis.

Er kann das Stadion heute abhaken, die werden in der Szene Ground genannt. Er war einmal in Twente im Stadion, aber nie bei einem Spiel. Erst dann gilt der Ground aber als abgehakt und es gibt einen Punkt. Dennis hat sich nicht über die Kader informiert. „Ich schaue schon auf die Tabelle, Ausgangslage und sowas, aber soo genau mach‘ ich das nicht“, erklärt er.

Möglichst schnell, möglichst viel

Kurz hinter der niederländischen Grenze sind es noch etwa 20 Minuten bis zum Stadion. „Holland ist als direktes Nachbarland super für’s Groundhoppen. Belgien oder Luxemburg genauso. Und in Tschechien sind die Preise niedrig und es gibt viele alte Buden“, erzählt Dennis. Möglichst schnell, möglichst viel – einigen Groundhopper*innen gehe es nur um Zahlen. „Wenn dann manche 1000, 2000 Grounds besucht haben, ist das beeindruckend, klar“, erklärt Dennis. Er selbst nehme das heute nicht mehr so ernst. „So viel Zeit wie früher ist nicht mehr da, wenn man Job und Familie hat.“ Dazu kommt: Groundhopping kostet. Anreise, Tickets, teils Übernachtung. „Aber das ist ja bei jedem Hobby so“, sagt sagt der 43-Jährige.

Das Twente-Stadion “De Grolsche Vest” in Enschede.

Dennis kommt aus Hannover. Er ist häufig umgezogen: Kassel, Köln, jetzt Ostfriesland. Seine beiden Töchter sind Köln-Fans. Da hat Papas Einfluss nicht gereicht. „Ich bin 96er“, sagt er und lächelt. Hannover also. Geht das überhaupt? Fan sein und dann so oft zu anderen Clubs? „Wenn ich zu 96 geh‘, will ich das Spiel sehen. Beim Groundhopping bin ich vor allem wegen der Stadien“, sagt er.

Es ist 13.50 Uhr, noch 40 Minuten, bis das Spiel startet. Sackgasse. „Wäre Mist, wenn ich jetzt zu spät komme.“ Dennis Blick pendelt vom Navi zur Fahrbahn und wieder zurück. Er fährt zügig und offensiv. „Bei 96 bin ich oft schon ‘ne Stunde vorher am Stadion. Aber nicht beim Groundhoppen.“ Er scheint sich trotzdem zu ärgern.

Zu viel herzlose 0815-Dinger

„Früher konnte man in Deutschland häufig schon die Flutlichtmasten sehen und wusste: ‚Ey geil, da ist ein Stadion“, sagt der 43-Jährige. Neubauten wie das Stadion in Gladbach findet er ganz schlimm. Das ehemalige Gladbacher Stadion Bökelberg sei alt, nostalgisch, aber eben tot. Den neuen Borussia-Park findet er modern, groß, aber eben austauschbar. „Das sind so herzlose 0815-Dinger. Mich reizt vor allem auch dieses Abgewrackte.“ Fußball-Romantik wie im Lehrbuch.

Dennis parkt schräg zwischen zwei Autos. „Ich mache das jetzt einfach so“, sagt er. Die letzten Meter läuft er. Um ihn herum überall rot. Rote Fischerhüte, rote Trikots, rote Schals, rote Schuhe. Sogar hochrote Köpfe von der strahlenden Sonne. Dennis trägt ein schwarzes T-Shirt, eine dunkelblaue Jeans. Neutral. „Bei den holländischen Fans musst du etwas aufpassen“, sagt der Hannover-Fan. Er verhalte sich respektvoll. „Dann kriege ich auch kein Problem.“ Vor dem Stadion riecht es nach Bier und Zigarettenrauch.

Richtige Fans haben Vortritt

Dennis scannt sein Ticket unter einem Automaten. Tickets bekommen, das sei kein Problem. „Man kennt immer drei oder vier Leute“, sagt er. Doch er lasse den richtigen Fans den Vortritt. „Nur wenn die Tickets noch über die Webseite zu kaufen sind, schlage ich zu.“ Bei Twente waren sie noch Tage nach dem Verkaufstag zu haben. Zu entscheidenden Spielen wie dem Dortmunder Meisterschaftsspiel oder der Hamburger Relegation geht er nicht.

14.25 Uhr. Geschafft, Dennis ist pünktlich im Stadion. Auf der linken Seite erstreckt sich ein Dach über die Tribünen, auf der rechten Seite ist das Stadion nach oben offen. „Das macht’s richtig besonders“, schwärmt Dennis. Er geht eine Treppe zu seinem Sitzplatz hoch. Ganz oben, direkt unter dem Dach. Durch zwei runde Fenster neben ihm strahlt die heiße Sonne, aber er hat freie Sicht auf’s Spielfeld, sitzt genau zwischen zwei massiven grauen Stahlträgern. Von hier oben sehen die Spieler auf dem Feld klein aus, lassen sich aber erkennen. An Nummer, an . Durch die Lautsprecher dringt „Twente Ole“, die Fans stehen auf und singen mit. Dennis sieht mehr vom Stadion als vom Spielfeld. Ihm gefällt’s, dafür ist er hier.

Groundhopper Dennis Böbel.

Die Spieler stehen alle schon auf dem Feld, Dennis holt sein Handy heraus. Content für Insta. Danach öffnet er die App „Futbology“. „Das ist für Groundhopper. Damit krieg ich alle Infos zum Spiel oder beispielsweise Spiele in der Nähe angezeigt.“ „Futbology“ ist Dennis digitales Sammelalbum. „Hier kann ich mich für das Spiel einloggen.“ Über 115 andere Groundhopper*innen haben das auch gemacht. „Und ganz viele gehen auch ohne die App ins Stadion“, sagt er. 115 von 29.000. „Jetzt könnte ich noch mit denen connecten, Freundschaftsanfragen senden“, sagt er. Wirklich organisiert ist die Szene sonst außer in Foren und Sozialen Medien nicht. Es gibt keinen Dachverband und keine Informationen, wieviel Groundhopper*innen in Deutschland leben. Und auch die Regeln, wann ein „Ground“ gesammelt ist, werden unterschiedlich ausgelegt.

„Steh auf, wenn du von Twente bis“

Ein Pfiff. Das Spiel geht los. Nach vier Minuten köpft Cerny den Ball von links aufs Tor, der Heerenveen-Keeper lenkt ihn ins Torhaus. Die Jungs neben Dennis brüllen, „Ey Schiri, du Schwanz, was ist mir dir!?“ Dennis schaut zu den dreien rüber, bleibt ruhig. Sagt nichts.

1:0 Twente. Cerny passt in den Strafraum, Vlap nimmt den Ball an und schießt ihn rechts aufs Tor Vom Pfosten springt der Ball ins Netz. Das Stadion bebt. Die Jugendlichen Twente-Fans springen auf und klatschen sich ab. Alle singen: „Steh auf, wenn du von Twente bis.“ Der Traum vom Finale zum Greifen nah. Dennis filmt mit dem Handy. Durch den Jubel hört Dennis die drei Jungs neben sich: „Ich habe jetzt drei Länderpunkte.“ Auch sie sind scheinbar Groundhopper.

Vor dem Stadion stehen die Fans Schlange.

Einen Länderpunkt bekommen Groundhopper*innen, wenn sie in einem Land einen „Ground“ besucht haben. Drei Länderpunkte, also in drei Ländern Spiele geschaut. Die Jungs scheinen noch nicht lang dabei zu sein. Dennis weiß nicht genau, wie viele Punkte er hat. „Das müsste ich nachschauen. Ich habe aber auch viele Länder noch nicht besucht, in denen der Fußball groß ist. Zum Beispiel Argentinien.“ Norwegen und Ungarn haben ihm gefallen. Angefangen hat alles als er 16 war. „Da bin ich mit ‘nem Kumpel in London gewesen, bei Arsenal.“ Er fuhr immer öfter mit Freunden zu Spielen. Mit 21 war er vollkommen im Groundhopping-Fieber. Damals habe er sich an alle inoffiziellen Regeln gehalten. Beispielsweise zählten für ihn Spiele unter der 4. Liga nicht. „Irgendwann hab‘ ich gedacht, für wen mach ich das eigentlich? Für mich!“ Seitdem geht Dennis auch zu Amateur-Spielen. „Ich achte mittlerweile mehr auf Qualität, ich geh‘ lieber fünf Mal in ein geiles Stadion als mehr Spiele in schlechten Stadien.“

Jagdfieber und Anerkennung: Experte Prof. Guido Fackler über das Sammeln beim Groundhopping

Groundhopper*innen sammeln Stadionbesuche. Andere Sammler*innen beispielsweise Briefmarken, Münzen oder Karten. Sie investieren Zeit, Geld und teilweise viel Platz. Warum? Prof. Guido Fackler hat an der Universität Würzburg das Fach Museologie aufgebaut und ist Experte fürs Sammeln. Er erklärt die Leidenschaft.

Warum sammeln wir?

Sammeln ist ein kulturunabhängiges Phänomen. Die Frage lässt sich philosophisch, psychologisch, pädagogisch oder kulturgeschichtlich angehen. Mit dem Sammeln wollen wir bewahren, was wir erlebt haben. Beim Groundhopping etwa entwickeln sich die Sammler zu Experten und setzen sich über ihr Wissen auch von anderen Fans ab. Sammler sind in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Darüber spüren sie Nähe. Das stärkt auch das Jagdfieber des Sammelns. Wer bekommt beispielsweise die 300 Stadien voll, wer knackt Rekorde? Und zuletzt wollen sich Sammler auch präsentieren. Sie wollen ihre Sammlung zeigen und öffentlichen machen.

Ein Stadion können die Sammler*innen ja nicht mitnehmen. Wie kann man hier dennoch sammeln?

Zum Beispiel durch ein Foto oder eine Sound-Aufnahme. Früher wurden beim Groundhopping beispielsweise Eintrittskarten gesammelt und heute Fotos, etwa vom Stadion oder Eingangstor. Man beweist: Ich war da. Dieser Gedanke, etwas greifbar zu machen, kommt mittlerweile sogar in den Museen an. Museen sammeln eigentlich traditionell Materielles, Dinge die man ausstellen kann. In Museen hat das Sammeln eine Art Institutionalisierung erfahren. Es wurde praktisch professionalisiert. Und inzwischen haben die auch immaterielle beziehungsweisedigitale Ausstellungobjekte.

Wie wichtig ist für Sammler*innen die Größe ihrer Sammlung?

Sammler heben sich durch die Größe ihrer Sammlung ab. Dadurch bekomme sie in der Szene Anerkennung. Ab einem gewissen Punkt kann das Sammeln aber zum Zwang werden. Wenn ich mich hoch spezialisiere, dann zielt das bei manchen Sammlern irgendwann auf Vollständigkeit. Ich möchte alles. Immer mehr. Und ich glaube, das ist so ein Kipppunkt von der Lust am Sammeln zum verbissenen Krampf.

Stadion statt Spiel

Auf dem Platz dominiert Twente seinen Gegner. Robin Propper köpft den Ball im Fünfmeterraum zum 2:0 ein. Alle feiern. Die Jungs vor Dennis klatschen ab. Auch Dennis klatscht. „Läuft super, ne?“ Er steht auf. Das Spiel läuft noch, bis zur Halbzeit sind es noch über zehn Minuten. Aber Dennis ist fürs Stadion hier, nicht nur fürs Spiel. Er zückt sein Handy. „Ich mache jetzt ein paar Fotos.“ Noch mehr Content für Insta.

Auf dem Weg in den Innenraum steigt Dennis die Treppen hinab, vorbei an Reihen feiernder Fans. Er läuft über umgekippte Bierbecher, zerknüllte Servietten. Dabei bleibt er regelmäßig stehen, fotografiert wenige Sekunden lang und weiter geht’s. „Das sind echt schöne Ränge“, sagt er und zeigt auf die andere Seite. „Und die offene Seite, das ist echt geil.“ Er geht weiter, da ertönt lauter Jubel. 3:0. Schlechtes Timing.

Die zweite Halbzeit läuft bereits wieder und er steht noch in der Schlange des Hot Dog Standes. „Nächste Saison will ich die holländische erste Liga komplettieren“, sagt Dennis. „Das ist ja alles nicht weit weg. Boah, ich hab‘ echt nen kleinen Hunger.“ Die Enttäuschung: „Nix mehr da“, sagt die Frau am Stand. Also dann: Mit einem kleinen Bier und einer Cola zurück zu den Plätzen. 61 Minuten gespielt.

„Wir waren mal bei Koblenz gegen Duisburg, dann nach Antwerpen, abends Anderlecht und am nächsten Tag Newcastle gegen Aston Villa. Das war schon geil.“

Auf dem Weg dahin, macht Dennis noch mehrere Videos und Fotos. Er nimmt sich Zeit, schickt Fotos direkt per WhatsApp weiter. Währenddessen fällt das 4:0 für Twente. „Na das läuft ja. Passend zurück“, sagt Dennis. Die Jungs vor uns springen auf, provozieren den Gästeblock mit Gesten. „Spring für Twente, Spring für Twente, hey, hey“, klingt es durchs Stadion. Dennis springt nicht. Er steht und klatscht. Dennis‘ schönste Groundhopping-Erinnerung? „Wir waren mal bei Koblenz gegen Duisburg, dann nach Antwerpen, abends Anderlecht und am nächsten Tag Newcastle gegen Aston Villa. Das war schon geil.“ Ein Stadion-Marathon. Oder eher Sprint.

Fremde Fans, gleiche Leidenschaft

Vor dem Stadion feiern die Fans den Einzug Twentes ins Finale. Auch mit Dudelsack und Tanzeinlagen,

Schlusspfiff. Twente gewinnt gegen den SC Heereveen und steht im Finale der Play-Offs. Die Zuschauer im Stadion singen „Sweet Caroline“. Die Stimmung ist emotional. Auf dem Rasen stehen die Spieler vor der Kurve, feiern mit den Fans. In diesem Moment, inmitten von Zigaretten- und Biergeruch, inmitten von fremden Menschen, mit denen Dennis nicht ein Wort gewechselt hat, wird seine Begeisterung deutlich. Fremdes Stadion, fremde Fans, gleicher Sport, gleiche Leidenschaft.

Auf dem Weg aus dem Stadion nimmt Dennis Umwege durch die verschiedenen Blöcke und fotografiert. Vor dem Stadion ist die Stimmung super. Viele Fans lachen, stimmen Fangesänge an. Einer spielt Dudelsack, andere tanzen um ihn herum. Dennis geht Richtung Imbisstand. Sein kleiner Hunger ist mittlerweile groß. Er holt einen Burger. „Das rundet’s ab“, sagt der Groundhopper und lächelt. Am Auto öffnet er seinen Instagram-Account. Der Wind weht kühle Luft entgegen. Der Schatten eines Baumes schützt vor der Sonne. Kein Zigarettenrauch, keine heißen Sonnenstrahlen, kein Gejubel. Es fühlt sich an, wie nach einer wilden Party, allein auf dem Nachhauseweg. „So, jetzt poste ich“, sagt Dennis. Sofort liken die ersten Follower:innen, seinen Beitrag. Geschafft. Dennis Sammlung ist um ein Stadion reicher.

 

Fotos: Raphael Balke

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