Kein Platz für Nazis

Dorstfeld galt wegen rechtsextremen Einwohner*innen lange als „Neonazi-Viertel“. Inzwischen scheint die Szene schlechter organisiert. Doch dadurch ist sie nicht weniger gefährlich, sagen Demkratieförder*innen im Viertel – und setzen sich weiter gegen Rechtsextremismus ein. Eine Bestandsaufnahme.

Sie hängen mal wieder aus den Fenstern: schwarz-weiß-rot gestreifte Reichsflaggen. Zwischen den Fahnen, die oft von Rechtsextremen als Ersatz für die verbotene Hakenkreuzflagge gehisst werden, prangt ein großes Banner. Darauf steht in Frakturschrift: „Erster Mai, seit 1933 arbeitsfrei.“ So ist das Haus in Dortmund-Dorstfeld geschmückt, in dem noch immer selbsterklärte Neonazis wohnen. Sie sind das Überbleibsel einer rechtsextremen Szene, die Anfang der 2000er Jahre nach Dorstfeld zog und den Stadtteil zuerst zur „national befreiten Zone“ und später zum „Nazi-Kiez“ erklärte.

Der erste Mai ist seit 1933 ein staatlicher Feiertag. Mit dem bezahlten freien Tag wollte Adolf Hitler die Arbeiterschaft beeindrucken. Am zweiten Mai desselben Jahres ließ Hitler die Gewerkschaften zerschlagen, um jeglichen Widerstand bei der Errichtung seiner Diktatur zu verhindern. Noch 90 Jahre später instrumentalisieren Neonazis den Feiertag, um Propaganda für die Rückbesinnung auf einen eigenen Nationalstaat zu machen. Die selbsterklärte „nationale Kundgebungstour“ der Rechtsextremen in und um Dortmund fällt in diesem Jahr allerdings kleiner aus: Während 2022 noch etwa 220 Teilnehmende der rechtsextremen Szene am ersten Mai auf die Straße gingen, sind es jetzt 80.

Für die Polizei Dortmund ist das ein klares Zeichen von „personeller und organisatorischer Schwäche“. Im Januar 2023 hat sich der Dortmunder Kreisverband der Kleinpartei Die Rechte aufgelöst und der ehemaligen NPD angeschlossen, die seit Juni Die Heimat heißt. Dadurch haben die Dortmunder Rechtsextremen laut Polizei keine Vorreiterstellung mehr. Außerdem seien in den vergangenen Jahren führende Köpfe weggezogen oder wurden verurteilt. Zu Hochzeiten wohnten 25 Rechtsextreme im einschlägigen Häuserblock an der Ecke Emscherstraße/Thusneldastraße in Dorstfeld. Heute seien es noch sieben. Auch die rechtsextremistisch motivierten Straftaten in Dortmund sind im letzten Jahr laut Polizei entgegen dem Landestrend gesunken. Während es in ganz NRW im Vergleich zu 2021 einen Anstieg von rund 10 Prozent gab, ging in Dortmund die Anzahl rechtsextremistischer Straftaten um 19 Prozent zurück.

Die Neonazi-Szene ist geschwächt, aber nicht ungefährlich

Iris Bernert-Leushacke vom antifaschistischen Bündnis BlockaDo beim Gegenprotest auf dem Wilhelmplatz

Dass es stiller geworden ist um die Rechtsextremen aus Dorstfeld, sieht auch Iris Bernert-Leushacke vom antifaschistischen Bündnis BlockaDo so. Das Bündnis veranstaltet am ersten Mai einen ganztägigen Gegenprotest auf dem Wilhelmplatz in Dorstfeld. „Es gab Zeiten, in denen haben die Rechtsextremen bis zu 500 oder 600 Leute zum ersten Mai auf die Straße bekommen“, erinnert sich Bernert-Leushacke.

Der Wilhelmplatz habe eine hohe symbolische Bedeutung. Die Rechtsextremen aus dem Viertel reklamierten ihn jahrelang als ihr „Revier“. Führende Köpfe wie der inzwischen verstorbene Neonazi Siegfried Borchardt („SS Sigi“) saßen auf den Bänken des Platzes und bedrohten Passant*innen. Heute ist das nicht mehr so; die Bänke wurden bunt angestrichen und mit Botschaften gegen Rechts versehen. Trotzdem sei es gerade am ersten Mai wichtig, den Rechtsextremen den Wilhelmplatz streitig zu machen, damit sie dort nicht demonstrieren könnten, sagt Iris Bernert-Leushacke. Gleichzeitig glaubt sie: „Eigentlich ist die Szene sogar gefährlicher, wenn man sie nicht sieht.“

Die Rechtsextremismus-Beratungsstelle U-Turn bestätigt das. Gegen eine öffentlich unscheinbare Neonazi-Szene könne weniger unternommen werden; sie sei unberechenbarer. Nach Angaben der Polizei ist die Anzahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten in Dortmund in den letzten Jahren gesunken. Für 2023 führt die Polizei noch keine Statistiken. Laut U-Turn haben solche Übergriffe aber wieder zugenommen, nachdem sich der Dortmunder Kreisverband der Partei Die Rechte im Januar der Partei Die Heimat angeschlossen hat. Vermehrte Berichte von rechten Gewalttaten in Dortmund und Bochum in der ersten Jahreshälfte passen in dieses Bild – genauso wie zum Beispiel Schmierereien an der Möllerbrücke, die als Morddrohungen aufgefasst werden können. Dazu zählen etwa die Graffitis „Antifa Jagen“ oder „Thomas Schulz 2.0“, eine Referenz an den Punker Thomas Schulz, der 2005 von einem Neonazi an der U-Bahn-Haltestelle Kampstraße erstochen wurde.

In Dorstfeld leben noch immer einflussreiche Neonazis

Die Neonazi-Szene Dortmunds werde nach wie vor von Dorstfeld aus angeführt, sagt ein Sprecher von U-Turn. Denn hier wohnten noch immer Akteure, deren politische Strahlkraft die Stadt zu einem Standort für die Szene mache.

Ist Dorstfeld also das „Neonazi-Viertel“, als das es bundesweit bekannt wurde? Und wie wehrt sich ein Stadtteil, dem schon jahrzehntelang ein solcher Ruf anhaftet? Wer Antworten darauf finden will, muss auf dem Wilhelmplatz suchen – dort, wo Rechtsextreme wie Siegfried Borchardt noch vor ein paar Jahren eine Drohkulisse aufbauten und Menschen wie Iris Bernert-Leushacke seitdem dafür sorgen, diese Drohkulisse wieder abzubauen.

Die Dorstfelder Zivilgesellschaft geht gegen Rechtsextremismus vor

Der Wilhelmplatz war nicht nur lange Zeit die Arena eines neonazistischen Raumkampfes. Er ist auch Heimat des größten Demokratieförderungsprojektes in Dorstfeld, den Quartiersdemokraten. Die vom Land NRW und der Stadt Dortmund finanzierte Beratungsstelle für Rechtsextremismusprävention unterstützt seit 2017 zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus einsetzen.

Im vorigen August hat das Demokratieförderungsprojekt auf dem Wilhelmplatz einen Stadtteilladen namens wilma eröffnet, kurz für „Wir leben miteinander“. Der Laden soll bürgerliches Engagement bündeln und fördern. Jeden Montag können Interessierte hier in die offene Sprechstunde der Quartiersdemokraten kommen. Auch andere Organisationen präsentieren in der wilma ihre Angebote. Zum Beispiel veranstaltet der integrationspolitische Dorstfelder Verein Cohedo eine Hausaufgabenhilfe für Kinder und Jugendliche. Cohedo, kurz für „Community at heart“, engagiert sich für ein solidarisches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen.

Viviane Dörne im Stadtteilladen wilma

Wegen seiner Bergbauvergangenheit hat Dorstfeld eine starke Vereinskultur und beheimatet eine aktive Zivilgesellschaft. Diese setzt sich bewusst gegen Rechtsextremismus ein, erzählt Viviane Dörne, Sozialpädagogin und Mitarbeiterin bei den Quartiersdemokraten. „Hier herrscht eine gewisse Selbstverständlichkeit bezogen auf das Engagement gegen Rechtsextremismus.“ Beim jährlichen Demokratiefestival, das die Quartiersdemokraten auf dem Wilhelmplatz organisieren, seien immer die wesentlichen Bildungsinstitutionen Dorstfelds wie Schulen und Kitas dabei, und auch Vereine. „Da muss ich nicht viel Überzeugungsarbeit leisten. Die wissen, welches Problem das Viertel mit Rechtsextremismus hat“, so Dörne.

Sie schließt die Tür zur wilma auf. Drinnen sieht es aus wie in einem kleinen, gemütlichen Café; es gibt eine Bar und Sitzmöglichkeiten. Viviane Dörne setzt sich an den Tisch, wo samstags die Hausaufgabenhilfe stattfindet. Sie schaut durchs Fenster auf den Wilhelmplatz. „Ich habe nicht das Gefühl, gerade im Nazi-Kiez zu sitzen, und das würde dem Stadtteil auch nicht gerecht“, sagt die Sozialpädagogin. „Der Begriff des Nazi-Kiez wurde von den Neonazis selbst gesetzt.“ Er sei ein Mythos und zugleich Propaganda und Provokation.

Weniger Neonazis bedeuten nicht gleich weniger Gefahr

Die Quartiersdemokraten haben schon oft Auseinandersetzungen mit den Rechtsextremen des Viertels erlebt. Immer wieder versuchten Neonazis, sich bei Veranstaltungen des Demokratieförderungsprojekts einzuschleichen – oft als vermeintliche Journalist*innen. Laut Viviane Dörne passiert das inzwischen nicht mehr so oft wie noch zu den Anfängen des Projekts, als der Wilhelmplatz von vielen im Viertel als Angstraum wahrgenommen wurde. „Damals hätten wir hier nicht einfach so einen Stadtteilladen aufmachen können.“ Als sich die Lage unter anderem durch den Wegzug einiger Neonazis beruhigte, ergriffen die Quartiersdemokraten ihre Chance und eröffneten die wilma.

Trotz einer geschwächten rechtsextremen Szene in Dorstfeld warnt auch Dörne davor, das Gefahrenpotenzial der Rechtsextremen anhand ihrer Personenzahl zu messen. Die Neonazis, die noch in Dorstfeld wohnen, seien bestens vernetzt, auch in rechtsterroristische und kriminelle Milieus. Außerdem habe es die Szene in der Vergangenheit immer wieder geschafft, sich neu aufzustellen. „Wir müssen da weiter hinschauen“, betont Dörne. „Wir leben hier, das ist unsere Stadt!“

Mehr Sensibilisierung für das Thema

Um Menschen für das Thema Rechtsextremismus zu sensibilisieren, geben Viviane Dörne und ein Kollege ein paar Tage nach dem ersten Mai einen Workshop am Reinoldus- und Schiller-Gymnasium in Dorstfeld.  Es geht um die Entwicklungen des Rechtsextremismus in Dortmund. Einige der Workshopteilnehmer*innen waren bereits mit Anfeindungen aus dem rechtsextremen Spektrum konfrontiert, ob in Dorstfeld oder anderen Stadtteilen. Darunter ist die 16-jährige Liana, die türkische Wurzeln hat. „Ein Freund von mir wurde mehrmals von Rechtsextremen mit einem Messer durch Dortmund verfolgt“, erzählt Liana nach dem Workshop. Andere Freunde von ihr seien auf der Straße bespuckt und angegriffen worden. Die Schülerin selbst habe ausländerfeindliche Kommentare zu hören bekommen.

Dorstfeld hat einen hohen Anteil an Einwohner*innen mit Migrationsgeschichte. Sozialkundelehrer Christian Von der Ecken, mit dem die Quartiersdemokraten seit Jahren zusammenarbeiten, beobachtet oft, dass Schüler*innen Erfahrungen mit Rassismus machen. „Wir müssen sowohl mehr Sensibilisierung für das Thema schaffen als auch einen Raum für den Austausch von Betroffenen“, findet er.

Prävention von Rechtsextremismus

Viviane Dörnes Kollegin Annica Lang legt viel Wert auf zwischenmenschlichen Austausch. Weil Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem und nicht nur im rechten oder rechtsextremen Rand der Bevölkerung zu verorten sei, sei ein Zusammenkommen von Menschen mit verschiedenen Erfahrungen und Hintergründen wichtig. So könnten Vorurteile abgebaut werden. Expert:innen sind sich einig: Die Menschen seien dann weniger anfällig für rechtes und rechtsextremes Gedankengut.

Lang steht auf dem Wilhelmplatz in Dorstfeld. Es ist das Wochenende nach der Demonstration am ersten Mai. Auf dem Platz sind Sonnenschirme aufgestellt, darunter sitzen Menschen und unterhalten sich, essen Waffeln und Kuchen. Kinder wuseln zwischen den Tischen umher. Die Quartiersdemokraten veranstalten an diesem Samstag ein Nachbarschaftsfest mit Schmink- und Bastelaktionen für kleine Gäste. Gekommen sind Dorstfelder*innen und Vereine, die im Stadtteilladen wilma engagiert sind.

„Die Nachbarschaft und zivilgesellschaftliche Akteur*innen zu stärken ist eine Präventionsmaßnahme gegen Rechtsextremismus“, erklärt Annica Lang. Zu Beginn der Pandemie hätten einige Neonazis im Viertel versucht, Menschen mit der „Kümmerer-Strategie“ zu vereinnahmen. Zum Beispiel, indem die Rechtsextremen anboten, für andere einkaufen zu gehen oder ihnen bei Problemen zuzuhören.

Es sei wichtig, Menschen zu zeigen, dass sie nicht allein sind und Unterstützung bei Problemen bekommen. Auch dafür gebe es heute den Stadtteilladen wilma: als Ort der Zusammenkunft. Denn Einsamkeit vergrößere die Anfälligkeit für rechtsextreme Gruppen, die oft ein Gemeinschaftsgefühl vermittelten. Annica Lang zeigt auf die Tische, an denen die Gäste des Nachbarschaftsfests sitzen. „Ich glaube, dass es mehr von solchen Aktionen braucht, um Menschen zusammenzubringen“, sagt sie.

Die Dorstfelder Zivilgesellschaft wehrt sich schon lange gegen eine Vereinnahmung des Stadtteils durch Neonazis – mit Erfolg, wie die Schwächung der rechtsextremen Szene in den letzten Jahren zeigt. Auch wenn man mit anderen Menschen spricht, die in Dorstfeld leben und arbeiten, fällt schnell auf, dass der Stadtteil vor allem eines ist: bunt und nicht bereit, Rechtsextremen das Feld zu überlassen.

 

Dorstfeld ist bunt

In Dorstfeld gibt es viel Engagement gegen Rechts – und zivilgesellschaftliches Miteinander. Das zeigen vier Besucherinnen des Nachbarschaftsfests der Quartiersdemokraten auf dem Wilhelmplatz. Sie erzählen, warum sie zum Fest gekommen sind:

 

Fotos: KURT

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