Jede Woche treffen sie sich, um gemeinsam Brettspiele zu spielen. Bis zwei Uhr nachts sitzen die Mitglieder der BrettspielUnion Dortmund bisweilen zusammen. Was macht die Faszination dafür aus – obwohl es immer mehr digitale Alternativen gibt?
Mit geschlossenen Augen strecken zehn Personen einen Arm nach vorn und ballen eine Hand zur Faust. Einige Spieler*innen öffnen ihre Augen und schauen sich gegenseitig an. Sie suchen die Person, die ihren Daumen hochstreckt. Die, die vorab eine Karte gezogen hat, auf der steht, dass sie die anderen heute anführt. Sie alle spielen ein Spiel, bei dem die eine Hälfte versucht, ihre*n Anführer*in an die Macht zu bringen. Die andere Hälfte will das verhindern.
Die zehn Mitglieder der BrettspielUnion Dortmund treffen sich dazu seit fünf Jahren jedes Wochenende. Der Fokus bei dem Social Deduction Spiel liegt auf der Interaktion miteinander. Jede Person bekommt eine bestimmte Rolle und muss eine Aufgabe erfüllen. Das Besondere: Jede Runde kann anders ablaufen, da verschiedene Personen unterschiedlich handeln und so das Spiel teilweise lenken können.
Die BrettspielUnion Dortmund hat knapp 130 Teilnehmer*innen. Neben Rollenspielen widmen sie sich auch vielen andere Gesellschaftsspielen. Jeden Freitag trifft sich die Gruppe abwechselnd in der Sternstraße oder der Kreuzstraße in Dortmund. Alle haben auf der Brust ein aufgeklebtes Namensschild. An jedem der sieben Tische im Raum wird etwas anderes gespielt. Birgit Langley, Mitgründerin der BrettspielUnion Dortmund, erklärt: „Ihr könnt euch einfach irgendwo dazusetzen oder ihr bringt euer eigenes Spiel mit und sucht nach Mitspielern.“
Attraktivität der Gesellschaftssspiele
Analoge Spiele werden seit den 1990er Jahren immer beliebter. Auch die Coronazeit hat den Boom unterstützt. Laut dem Deutschen Verband der Spielwarenindustrie wurden 2022 etwa 60 Millionen Brettspiele und Puzzle verkauft. Knapp 55 Prozent der Menschen in Deutschland spielen häufig oder ab und zu Gesellschaftsspiele. Das geht aus der Markt- und Werbeträgeranalyse 2023 des Instituts für Demoskopie Allensbach hervor.
Warum ist das so? Warum sind analoge Spiele für die Bevölkerung immer noch so attraktiv, obwohl es doch immer mehr digitale oder teildigitalisierte Angebote gibt? Claudius Clüver ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Mediendesign und Raumgestaltung an der Bergischen Universität Wuppertal. Er erklärt: „Bei analogen Spielen haben wir materielle Dinge, die wir anfassen können, mit denen wir interagieren können. Bei digitalen Spielen hingegen gibt es eine Distanz durch den Bildschirm. Wir sitzen vor einer Glasscheibe.“
Clüver beschreibt das als entscheidenden Grund für den Erfolg von analogen Varianten. Außerdem sagt er: „Bei den analogen Spielen haben wir zudem unsere Mitspieler oder Gegenspieler direkt gegenüber. Wir können in das ganze System des Spiels eingreifen und arbeiten gemeinsam mit dem Material, das auf dem Tisch ist. Wer vor dem Computer oder am Handy sitzt, hat diese schwarze Kiste vor sich und kann die Abläufe nicht komplett überblicken.“ Bei analogen Spielen sei dies eben anders. „Hier haben wir einen Überblick über die Abläufe. Und wir können dann auch mal etwas in die Ecke pfeffern, wenn wir verloren haben. Das ist auch für viele attraktiv.“
Teildigitalisierung – zwischen Last und Hilfe
Das Unternehmen MBV arbeitet mit Verlagen und Buchhandlungen zusammen und vertritt Kulturprojekte. 2022 schrieb MBV, dass es pro Jahr über 1.500 Neuerscheinungen auf dem analogen Spielemarkt gibt. Und immer wieder versuchen Autor*innen und Verlage analoge Spiele mit digitalen Elementen zu verknüpfen. Torben Werneck, der die BrettspielUnion regelmäßig besucht, findet das gut: „Solange sich die App im Hintergrund hält und unterstützend ist. Bei manchen Spielen ergibt es Sinn, eine App einzubauen. Aber bei den meisten eigentlich eher nicht.“
Torbens Meinung teilen viele aus der Gruppe. Einzelne sprechen sich aber auch komplett gegen digitale Elemente aus. So auch Stefan Steup: „Ich habe schon ein, zweimal solche Spiele gespielt, aber mir persönlich gefällt es nicht so sehr. Ich kann nicht genau festmachen, warum es mir nicht gefällt. Aber wenn alle das Handy nutzen müssen, ist es immer lästig, wenn es technische Schwierigkeiten gibt.“
Spieleentwickler Dr. Hans Joachim Höh sieht die Gefahr, dass die Menschen durch die digitalen Elemente zu sehr abgelenkt werden. Dient eine App jedoch als Hilfe und ist gut umgesetzt, findet er es in Ordnung. Er sagt: „Es wirkt im Moment so, als ob sich die Idee nicht so stark durchsetzt. Wir können das noch nicht genau sagen. Vielleicht müssen erst einmal bestimmte technische Erweiterungen geschaffen werden, wie zum Beispiel ein komplett digitaler Spieletisch. Dann gibt es vielleicht doch einen Durchbruch.“
Anfänge schon in den Achtzigern
Experte Claudius Clüver erklärt, warum sich die Teildigitalisierung noch nicht so richtig durchgesetzt hat. Er erklärt: „Man kann nicht einfach sagen, alte Spiele sind analog und neue Spiele sind digital. Denn schon seit Anfang der 80er versuchen Hersteller, analoge Spiele mit digitalen Elementen zu kombinieren. Zum Beispiel gab es ein Kriegsspiel, was man mit einer Papierkarte gespielt hat und der Computer hat durchgerechnet, was passiert.“ Das habe sich aber dauerhaft nicht durchgesetzt, denn die Kombination sei sehr aufwändig gewesen. „Am Ende spielen die Leute dann doch wieder die Klassiker. Es gibt Statistiken, die das belegen. Mensch Ärgere Dich Nicht ist zum Beispiel eins dieser Spiele.“
Clüver ist sich sicher, dass die analogen Spiele mit digitalen Elementen die Klassiker nicht ablösen werden. „Dass man bei analogen Varianten alles anfassen kann, wird seinen Reiz behalten. Außerdem spielen die Leute auch immer wieder die Spiele, die sie schon kennen.“ Der Grund dafür sei unter anderem, dass die Gruppe ein Spiel finden muss, das allen gefällt.
Vom Doktor zum Spieleautor
Dr. Hans Joachim Höh ist seit etwa sieben Jahren Spieleentwickler und arbeitet beim Funtails Verlag als Chefredakteur. Drei seiner eigenen Spiele wurden bereits veröffentlicht.
„Von Kindheit an haben mich Spiele immer sehr fasziniert. Und irgendwann bin ich dann im Kartenspielbereich gelandet. Dort bin ich zu Turnieren gefahren und habe mich mit anderen Leuten gemessen. Neben dem Studium war das hauptsächlich meine Beschäftigung. Der Schritt zum Autor kam dann noch eine Weile später. Um ein guter Autor zu sein, muss man sich viel mit Spielen auseinandersetzen: Man muss verstehen, was das entscheidende Element ist und warum Spiele Spaß machen, was gegeben sein muss, damit man das Spiel immer wieder spielen möchte.“
Eins unter 200
Für Birgit Langley, Mitgründerin der BrettspielUnion Dortmund, ist es schwer, sich auf ein Lieblingsspiel festzulegen. „Das ist bei mir sehr Launen abhängig und es kommt darauf an mit, wem ich spiele. Space Base geht generell immer. Denn da muss man nicht viel denken und es ist sehr aktiv. Aber es gibt so viele Spiele, da kann ich das nicht so einfach sagen. Ich liebe zum Beispiel Bohnanza, den alten Klassiker. Kommunikative Spiele mag ich sehr.“
Sie besitze knapp 200 Spiele. Ihr Wohnzimmer sei eher ein Spielezimmer, betont sie. Doch was reizt die Menschen an Gesellschaftsspielen so sehr?
Für Nicole Dany Mitglied der BrettspielUnion Dortmund sind sie ein wichtiges Hobby. „Ich tue etwas für meinen Kopf, denn ich spiele gerne Spiele, die anspruchsvoller sind. Außerdem habe ich immer schon gerne gespielt, auch früher schon mit meinen Kindern. Heute sind die Spiele so komplex, das finde ich einfach unglaublich schön. Und es ist ein günstiges Hobby, du musst hier nichts verzehren und es gibt Spiele, du musst keine mitbringen. Ich habe hier auch viele neue Freunde gefunden.”
Eine Zukunft für Gesellschaftsspiele
Brettspiele fördern das Gehirn und sorgen gleichzeitig für Gemeinschaft. Claudius Clüver ist sich deshalb ziemlich sicher, dass in Zukunft immer noch die klassischen Gesellschaftsspiele gespielt werden, aber auch dass es immer wieder Neuerscheinungen geben wird.
„In den letzten zehn Jahren waren kooperative Spiele, bei denen man gemeinsam gegen das Spiel spielt, im Trend. Das sind nochmal ganz neue Ideen, wie man ein Brettspiel spielen kann.“ Teilweise werden laut Clüver auch Dinge aus digitalen Spielen übernommen. „Bei einem Spiel kann man zum Beispiel den Spielstand, wie in einem Computerspiel speichern. Wer weiß, was den Leuten in den nächsten zehn Jahren alles einfällt.“
Die Mitglieder der BrettspielUnion Dortmund können sich an diesem Abend nicht so recht voneinander trennen. Teilweise enden die Spieleabende dort erst um zwei Uhr in der Nacht. „Und manchmal wird man dann auch mit dem Besen rausgekehrt“, erzählt Birgit Langley schmunzelnd.
Fotos: Mercedes Gonzalez Grote