Der verflixte letzte Schuss im Biathlon: Mythos oder Realität?

Foto von Aaron Doucett auf Unsplash.

Ihren letzten Schuss verfehlen Biathlet:innen häufiger. So lautet der Mythos vom „verflixten letzten Schuss“. Doch ist der Mythos auch Realität? Wir blicken auf die Daten. 

Von Raphael Balke & Lea Frey

Biathlon Weltmeisterschaft in Oberhof. Februar 2023. Massenstart der Männer. Johannes Thingnes Bø dominiert den Wettbewerb, hat bereits fünf Goldmedaillen gewonnen und ist auf dem Weg zur sechsten.

Als Erster erreicht er den Schießstand für das vierte und letzte Schießen des Rennens. Bø greift sein Gewehr vom Rücken. Das Publikum in Oberhof, gekleidet in bunten Regencapes, jubelt dem Norweger zu. Noch fünf Treffer und die sechste Goldmedaille ist so gut wie sicher. Bø setzt das Gewehr an, kneift das linke Auge zu. Zielt. Und schießt.

Die Kugel schlägt genau in der Mitte des Ziels ein und macht beim Aufprall ein blechernes Geräusch. Erster Treffer. Zweiter Schuss: Treffer. Eine Patronenhülse fliegt aus dem Gewehr. Das Publikum jubelt. Auch Schüsse drei und vier treffen das Ziel. Noch ein Schuss. Noch einmal volle Konzentration. Der Weltranglistenerste schießt – kein blecherner Einschlag, kein Jubel. Die Kugel verfehlt das Ziel, fliegt unten rechts vorbei. Sofort schnappt sich Bø seine Skistöcke, macht sich auf zu seiner Strafrunde und versucht, die durch den Fehler verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Doch er soll sich vergeblich beeilen. Statt Gold gewinnt er am Ende Bronze, die beiden Schweden Sebastian Samuelsson und Martin Ponsiluoma stehen vor ihm auf dem Podest. Es ist nicht Bøs einziger Fehlschuss in diesem Rennen. Doch was in Erinnerung bleibt, ist dieser Fehler, der den Sieg kostet. Was in Erinnerung bleibt, ist der verflixte letzte Schuss.

Was ist Biathlon?
Biathlon hat verschiedene Disziplinen: neben beispielsweise dem Sprint oder Einzel auch die für uns relevanten Massenstart und die Verfolgung. Beim Massenstart konkurrieren 30 Biathlet:innen um den Sieg. Alle 30 starten zusammen und sind gemeinsam auf der Strecke. Sie müssen fünf Runden laufen. Insgesamt ist die Strecke 15 Kilometer lang. Es gibt während dieser fünf Runden vier Schießen mit je fünf Schüssen. Zwei im Liegen, zwei im Stehen, abwechselnd. Die Zielscheiben sind 50 Meter entfernt. Für jeden Fehlerschuss müssen die Athlet:innen eine 150 Meter lange Strafrunde laufen. Wer zuerst am Ziel ankommt, gewinnt.

Bei der Verfolgung sind 60 Athlet:innen dabei, starten aber in einem Abstand von 30 Sekunden. Auch hier läuft jede:r Athlet:in fünf Runden. Insgesamt 12,5 Kilometer. Es gibt vier Schießen mit je fünf Schüssen, zwei im Liegen, zwei im Stehen. Abwechselnd. Für jeden Fehler laufen die Sportler:innen eine 150 Meter lange Strafrunde. Wer zuerst am Ziel ankommt, gewinnt.

Dem Mythos per Datenanalyse auf der Spur

Der Mythos: Biathlet:innen verfehlen den letzten Schuss eines Rennens häufiger als alle anderen Schüsse. Stimmt das? Oder war Bøs Fehlschuss Zufall, passte schlichtweg in die Dramaturgie des Turniers? Per Datenanalyse haben wir die Massenstart- und Verfolgungsrennen der Biathlon-Saison 2022/2023 der Männer ausgewertet. Bei beiden Disziplinen, Massenstart und Verfolgung, sind alle Athlet:innen zeitgleich auf der Strecke, die Drucksituation ähnlich.

Es gibt vier Schießen, zwei im Liegen, zwei im Stehen, abwechselnd. Insgesamt muss ein Athlet 20 Schüsse absolvieren. Der Letzte wird im Stehen geschossen. Bei einem Schießfehler müssen Athleten eine Strafrunde laufen. Wir betrachteten alle Weltcups und die Weltmeisterschaft der Saison 2023/2023. Zwölf Rennen, 107 Athleten, 7.250 gelaufene Kilometer, 11.070 Schüsse, 1.686 Fehler. Auf der Suche nach dem verflixten letzten Schuss.

Die Grafik zeigt, wie hoch die Fehlerraten der Athleten beim vierten Schießen aller Massenstarts und Verfolgungsrennen in der Saison 2022/2023 waren. Verteilt sind diese auf die fünf Schüsse beim vierten Schießen. Sie zeigt: Keine Auffälligkeiten beim fünften Schuss. Grafik: Lea Frey

Auf den ersten Blick scheint der letzte Schuss ein Schuss wie alle anderen zu sein. Wir vergleichen die Fehlerraten der Biathleten im letzten Schießen bei allen ausgewerteten Rennen. Insgesamt verfehlten die Sportler die Ziele 515 Mal. Auffällig: Keiner der fünf Schüsse im letzten Schießen hebt sich von den anderen ab. Die Fehlerrate der Athleten bleibt fast konstant bei 20 Prozent, lediglich beim dritten Schuss liegt sie bei etwa 15 Prozent. Einen verflixten letzten Schuss scheint es nicht zu geben.

Diese Rennen haben wir ausgewertet
Für unsere Datenanalyse werteten wir die Rennen der Männer der Saison 2022/2023 aus. Wir beziehen uns also auf die Masssenstarts in Le Grand Bornand, Ruhpolding, der WM in Oberhof, Oestersund und Oslo. Bei den Verfolgungsrennen betrachteten wir die Daten von Kontilahti, Annecy, Hochfilzen, Pokljuka, der WM in Oberhof, Nove Mesto und Oslo.

Sportpsychologe Dr. Sebastian Altfeld arbeitet seit acht Jahren am Olympiastützpunkt Winterberg mit Biathleten zusammen. Wenn einer die Mythen rund um den anspruchsvollen Sport kennt, dann er. Sein Eindruck: Es ist nicht der eine letzte Schuss. „Es gibt je nach Sportler unterschiedliche Muster, welchen Schuss sie als schwierig empfinden“, sagt Altfeld. Olympiasieger Michael Greis vermutet: „Es hängt von der jeweiligen Drucksituation und Erfolgsstufe ab.“ Greis gewann bei den Olympischen Winterspiele 2006 in Turin dreimal Gold im Biathlon. Er ist der erste deutsche Sportler, der drei olympische Goldmedaille bei der gleichen Wintersportveranstaltung gewann.

Betrachten wir nur die Athleten, die alle Massenstarts gelaufen sind, zeigt sich, dass der letzte Schuss dabei besonders oft verfehlt wird. Biathleten verfehlen bei den Schießen aller Massenstarts in der Saison 22/23 vergleichsweise häufig beim letzten Schuss. Grafik: Lea Frey

Massenstarts verändern das Bild

Betrachtet man ausschließlich die Biathleten, die bei allen Massenstarts der Saison 22/23 in Le Grand Bornand, Oslo, Ruhrpolding und Oberhof starteten, lassen die Daten eine andere Interpretation zu. Bei diesen drei Rennen waren vor allem die zehn besten Athleten der Saison dabei. Der Rest des Teilnehmerfeldes variierte ständig. Das hat offenbar einen großen Einfluss auf die Fehlerquote. Bei den ersten drei Schießen liegt die Fehlerrate der Biathleten – bis auf einige niedrige Ausnahmen – bei etwa 20 Prozent. Beim letzten Schießen auch – bis auf den letzten Schuss.

Olympiasieger Michael Greis. Foto: eurosport

Dort liegt die Fehlerquote bei rund 30 Prozent, also etwa zehn Prozentpunkte höher. „Wenn ein Sportler beispielsweise bei der Deutschen Meisterschaft dreimal fehlerfrei bleibt, dann ist das Risiko, dass er im letzten Schießen einen vorbei semmelt, höher. Da ist der Druck wirklich spürbar. Kriege ich das Ding oder kriege ich es nicht?“, vermutet Greis. Altfeld sagt: „Wenn der Rahmen sich verändert, ändert sich unser Körper. Es verändert sich etwas im Kopf und wir haben keine Kontrolle darüber.“ Es gehe nicht darum, diese Reaktion auf Drucksituationen zu verhindern, sondern damit richtig umzugehen.

Je stärker der Druck, desto höher die Anspannung und das Risiko. Greis sagt, es gebe außer den echten Top-Stars nur wenige Biathleten, die sich der Herausforderung des letzten Schusses stellen müssten: „Wenn es da beim letzten Schießen zwei, drei Sportler gibt, die um die Goldmedaille kämpfen, dann ist das natürlich eine außergewöhnliche Situation, die die Sportler managen müssen.“

Wie Johannes Thignes Bø gegen Sebastian Samuelsson und Martin Ponsiluoma in Oberhof. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bø, der vor den beiden Konkurrenten am Schießstand ankommt und wegen seiner Strafrunde die Schlussmeter hinter den beiden Schweden versucht aufzuholen. Ein Kraftakt – der nicht gelingt. Erfolg als zusätzlicher Druck und als Katalysator für Fehler?

Die Fehlerraten der besten zehn Biathleten aller Massenstarts und Verfolgungsrennen 22/23 beim vierten Schießen zeigen: Den letzten Schuss verfehlen sie besonders oft verfehlt. Grafik: Lea Frey

Wir betrachten die Massenstart- und Verfolgungsrennen der Saison 22/23. Beim Blick auf die Fehlerraten im vierten Schießen der zehn besten Biathleten fällt auf: Der letzte Schuss wurde häufiger verfehlt als die anderen Schüsse. Knapp ein Drittel aller letzter Schüsse der Top Zehn gingen daneben. Bei Schuss eins bis vier war es nur knapp jeder vierte Schuss. Erfolg scheint den Druck im letzten Schuss zu erhöhen.

Handlungsorientiert bleiben

„Es ist wichtig Routinen zu haben, sich vorbereitet und seinem Konzept treu zu bleiben. Handlungs- und nicht ergebnisorientiert“, sagt Greis. „Natürlich kann es auch sein, dass da dann die körperliche Verfassung eine Rolle spielt, aber wenn man bis zum vierten Schuss gekommen ist, sollte man den fünften auch noch schaffen“, sagt Andrea Henkel, zweifache Biathlon-Olympiasiegerin.

Sportpsychologe Dr. Sebastian Altfeld. Foto: OSP Rhein-Ruhr

Sie ergänzt: „Beim letzten Schuss sollte man nichts Besonderes machen. Wenn man dann speziell was anderes macht, ist es meist so, dass die Scheibe nicht fällt.“ Manchmal sei man sich auch sehr sicher und wolle das Gewehr dann zu schnell auf dem Rücken haben. Dabei passiere dann ein Flüchtigkeitsfehler. Da setzt auch Altfeld an. Es helfe sich mit dem nächsten Schritt zu beschäftigen, beispielsweise über ein Selbstgespräch. „Im Sinne von ‚Okay was ist jetzt wichtig?‘“, sagt Altfeld. Auch über die Atmung sei diese Konzentration möglich. Dem stimmt auch Greis zu. „Die Atmung ist enorm wichtig und reguliert viel.“

Kontrolliert und routiniert trifft auch Johannes Tignes Bø beim Rennen in Oberhof ein Ziel nach dem anderen. Aber erst im dritten Schießen. In den ersten beiden Durchgängen verfehlt er zwei Mal, braucht mal 2,3, mal 3,1 Sekunden. Im dritten Schießen bleibt er fehlerfrei, braucht mal 1,4, mal 1,6 Sekunden, kaum starke Abweichungen. „In einer Affengeschwindigkeit ist der seinem Rhythmus gefolgt. Die Geschwindigkeit, mit der er schießt, die ist brutal“, erklärt Greis. Ansetzen, Schuss. Ansetzen, Schuss. Und dann im letzten Schuss des vierten Schießens: Daneben. 2,4 Sekunden. Etwas langsamer. Nuancen. Der verflixte letzte Schuss? „Ich schätze mal, er wollte nicht das ganz krasse Risiko nehmen, weil er so weit vorne war. Deswegen wollte er vielleicht ein bisschen Sicherheit, aber es gibt halt keine Sicherheit“, sagt Greis.

 

Bei den Schießzeiten für den 20. – den letzten – Schuss gibt es kaum Unterschiede. Lediglich nach etwa zwei Sekunden werden deutlich mehr Schüsse getroffen als verfehlt. Sonst gleichen sich beide Häufigkeiten an. Grafik: Lea Frey

Bei Bø waren es Nuancen. Ähnliches zeigen die Daten. Wirklich viel länger oder kürzer brauchen Biathleten nicht, wenn sie den letzten Schuss verfehlen. Für einen Großteil der getroffenen Schüsse brauchten die Sportler etwa 1,5 bis 2,7 Sekunden. Besonders häufig trafen sie nach etwa 1,6 bis 2,2 Sekunden. Die Fehlschüsse dauerten meist etwa 0,8 bis 3 Sekunden. Besonders häufig verfehlten sie zwischen 2,3 und 2,7 Sekunden. Die Daten zeigen jedoch, dass es in der Dichte, also wie häufig die Schüsse getroffen oder verfehlten wurden, kaum einen Unterschied gibt. Meist überschneiden sich die Daten. Lediglich Schüssen nach etwa zwei Sekunden trafen die Athleten deutlich häufiger als sie verfehlten.

Die rote Linie zeigt, wie hoch die erwarteten Fehlerraten der Athleten sein müssten, wenn alle Schüsse gleich oft getroffen/verfehlt würden. Die Punkte zeigen, wie hoch die Fehlerraten wirklich sind. Das bedeutet: Die meisten Athleten verfehlen den letzten Schuss deutlich häufiger als erwartet. Je weiter Punkte und Linien voneinander entfernt liegen, desto stärker ist der Unterschied zwischen Theorie und Wirklichkeit. Grafik: Lea Frey

Das vierte Schießen findet im Stehen statt. Vergleicht man die Fehlerquote im letzten Schuss in Prozent mit der generellen Fehlerquote im Stehendschießen, zeigt sich ein deutlicher Unterschied. Besonders ist die erwartete Wahrscheinlichkeit:

Dabei nehmen wir an, dass es keine Unterschiede zwischen den einzelnen Schüssen gibt. Jeder Schuss hätte die gleiche Wahrscheinlichkeit, verfehlt zu werden. Ganz gleich ob elfter, 16. oder 20. Schuss. Wenn ein Athlet zehn Prozent seiner Schüsse im Stehen verschießt, dürfte er den letzten Schuss nur in zwei Prozent der Fälle verfehlen.

Ein deutlicher Unterschied

Die Realität: Ein Großteil der Athleten – 39 von 46 – verfehlt den letzten Schuss deutlich häufiger als erwartet. Scheinbar haben vor allem die erfolgreichsten Sportler Probleme mit dem letzten Schuss. 13 der Top 15 Athleten von ihnen verfehlten den letzten Schuss öfter als erwartet. Bø traf beispielsweise etwa 13 Prozent der Stehendschüsse nicht. Würde er jeden Stehendschuss gleich wahrscheinlich treffen, dürfte er den letzten Schuss nur in drei Prozent der Fälle verfehlen. Tatsächlich verfehlt Bø aber knapp 20 Prozent seiner letzten Schüsse. 20 statt 3. Ein deutlicher Unterschied. Knapp sieben Mal so häufig wie erwartet. Der verflixte letzte Schuss. Außerdem auffällig: Sechs von sieben Athleten, die auf oder unter der erwarteten Wahrscheinlichkeit liegen, belegten im Gesamtweltcup nicht die ersten fünfzehn Plätzen. „Es kann auch passieren, dass sich über das Schießen hinweg so ein bisschen Spannung aufbaut. Körperlich und mental – je nachdem in welchem Zustand der Athlet ist“, erklärt Greis. Erfolg als zusätzlicher Druck und als Katalysator für Fehler, die Daten sprechen dafür. „Im Endeffekt sind es dann die eigenen Gedanken, die einen vom Wesentlichen abbringen. Es ist wichtig, dass man Routinen hat, sich vorbereitet und seinem Konzept treu bleibt“, sagt der Olympiasieger.

Das Ergebnis: Die Daten zeigen, dass der letzte Schuss in der vergangenen Saison von vielen Biathleten häufiger verfehlt wurde. Der Mythos des verflixten, letzten Schusses.

Teaser- und Beitragsbild: unsplash.com/Aaron Doucett lizenziert nach CC.

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