Geflüchtete mit psychischen Erkrankungen werden in Psychosozialen Zentren unterstützt und aufgefangen. Doch die Hilfsorganisationen befinden sich seit Jahrzehnten in einer Versorgungskrise. Diese verschärft sich auch im Ruhrgebiet weiter.
Im Psychosozialen Zentrum Hagen steht die nächste Therapiesitzung an. Eine Frau nähert sich in Begleitung einer Dolmetscherin dem kleinen Behandlungszimmer, in dem Psychologin Anna Kofler auf sie wartet. Die Augen der Frau sind nach unten gerichtet. Anna Kofler fragt, wie es ihr geht. Die Frau zögert, überlegt und fängt an zu weinen. Früher hatte sich Alis* gerne geschminkt, heute sitzt sie hier in zusammengewürfelter Kleidung und mit unterlaufenen Augen.
Anna Kofler reicht ihr ein Taschentuch und Alis versucht, ihre Ängste in Worte zu fassen: „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, mir wurde alles genommen, außer mein Sohn. In Deutschland fühle ich mich frei, aber die Angst vor der ungewissen Zukunft lastet sehr auf mir.“ Manchmal, so sagt Alis der Dolmetscherin, sehe sie keinen anderen Ausweg als sich umzubringen. Sie schluchzt, wimmert und weint. Psychologin Anna Kofler ist bei ihr und hört ihr zu. Das habe bis jetzt noch niemand getan, sagt Alis.
Wie ihr geht es vielen Geflüchteten. Die Psychosozialen Zentren bieten in erster Linie Asylsuchenden die Möglichkeit, ihre mentale Gesundheit zu stabilisieren. 87 Prozent aller geflüchteten Menschen in Deutschland haben potenziell traumatisierende Ereignisse erlebt. So steht es im Versorgungsbericht von 2023 der BAfF, der Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. Von diesen 87 Prozent sind ein Drittel von depressiven Erkrankungen oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung betroffen. Doch nur 4,1 Prozent der traumatisch Belasteten können in den Psychosozialen Zentren aufgenommen werden.
Eine strukturelle Versorgungslücke
Frauke Baller, Psychologische Psychotherapeutin mit langjähriger Erfahrung in der Behandlung von geflüchteten Menschen und Mitglied des internationalen Netzwerks Fluchtforschung, stuft diese Versorgungssituation als katastrophal ein. Die Mitarbeitenden der Zentren kämpfen in ihrem Arbeitsalltag ständig mit zu wenig Geld für zu viele Hilfsbedarfe der Geflüchteten. Aufnahmestopps und hohe Wartezeiten sind die Folgen.
Die Lage wird sich weiter verschärfen, obwohl die Arbeit der Psychosozialen Zentren von hoher Bedeutung ist, sagt Frauke Baller. Sie stellt heraus: „Geflüchtete Menschen besitzen das höchste Risiko, psychisch zu erkranken.“ Die Posttraumatische Belastungsstörung tritt bei Geflüchteten um ein Vielfaches häufiger auf als bei der Vergleichsbevölkerung ohne Fluchterfahrung. Menschen, die unter der Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, erleben die traumatischen Situationen unterschiedlich wieder und empfinden ein Gefühl ständiger Bedrohung. Depressionen und Angststörungen in Verbindung mit einer hohen Suizidalitätsrate gehören oft zum Krankheitsbild der traumatisierten Geflüchteten, erklärt die Expertin.
Wie helfen die Psychosozialen Zentren?
Mitarbeitende informieren über Rechte zum Asylverfahren und unterstützen Geflüchteten, ihre mentale Gesundheit zu stabilisieren. So könnten die Asylsuchenden ihren Schutzbedarf vor Gerichten vortragen und ihren Leidensdruck wahrnehmbar machen, beschreiben die Mitarbeitenden des Psychosozialen Zentrums Hagen der Diakonie Mark-Ruhr ihre Aufgabe.
Das Psycholog*innen- und Psychotherapeut*innen-Team informiert in Stabilisierungsgruppen über psychische Erkrankungen, hilft beim Aufbau von persönlichen Ressourcen und kann beispielsweise bei suizidalen Gedanken intervenierend eingreifen, erklärt Expertin Frauke Baller. Um die Geflüchteten verstehen zu können, sind Dolmetscher*innen bei den Gesprächen dabei. Psychotherapeut Tobias Weinreich, angestellt im Psychosozialen Zentrum Hagen, zeigt auf: „Am Anfang geht es mehr darum, zu überleben und den Tag zu überstehen.“ Psychotherapeut*innen könnten danach Stellungnahmen zur psychischen Verfassung für das Asylverfahren schreiben und bei Bedarf Traumata tiefergehend behandeln.
Im Regelfall leben Asylsuchende in Deutschland in Umständen, die sich negativ auf die Psyche auswirken. In den Massenunterkünften gibt es kaum Privatsphäre, die Sprachbarriere behindert die Integration und durch die Arbeitslosigkeit steigt das Risiko, psychisch zu erkranken, signifikant, so Frauke Baller. Die Sozialarbeiter*innen in den Psychosozialen Zentren können bei der Arbeits- und Wohnungssuche helfen sowie weitere Begleitmaßnahmen einleiten. So vermitteln sie zum Beispiel Freizeitangebote. Größtenteils klären die Mitarbeitenden mit ihren Klient*innen Fragen zum Asylverfahren oder zu sozialrechtlichen Ansprüchen wie die Leistungen in der Gesundheitsversorgung.
Zurück im Psychosozialen Zentrum in Hagen erzählt Alis von ihren Erlebnissen in ihrer Heimat Armenien. Von ihrem Vater, der sie geschlagen hat, von ihrem Bruder, den sie begraben hat, bevor sie geflohen ist und von fehlenden Freiheiten. Die Uhr an der Wand des Zimmers tickt. Eine Minute, fünf Minuten, 20 Minuten, das Gespräch ist fast vorbei. Auf dem Schreibtisch des zehn Quadratmeter kleinen Raumes stapeln sich Papiere. Es sind Anfragen von Geflüchteten, die noch auf der Warteliste stehen. Gleich steht der nächste Termin an, ein Erstgespräch. Ob der Geflüchtete aufgenommen wird, entscheidet sich im Gespräch.
Krank und unbehandelt
Seit Juni letzten Jahres leben die Mitarbeitenden der Zentren sowie die Betroffenen mit der Angst, dass die Gelder der Hilfsorganisationen gekürzt werden. Den Zentren würden damit Aufnahmestopps, Therapieabbrüche und Personalverluste drohen. Die Entscheidung der Regierung hinsichtlich der Zuschusshöhe steht noch aus. Auf Anfrage erklärte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: „Die Versorgungslage von traumatisierten Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung ist und bleibt eine Herausforderung für Staat und Gesellschaft.“ Vom Haushaltsentwurf im Juni 2023, die Mittel der Psychosozialen Zentren um 60 Prozent zu kürzen, rückt die Regierung momentan ab. Die Unsicherheit bleibt dennoch, denn der Beschluss steht aus und ob die Gelder bei der Verteilung auf die Wohlfahrtsverbände bei den Psychosozialen Zentren ankommen, bleibt ebenfalls abzuwarten.
Was feststeht, ist der Beschluss der Ampel-Regierung hinsichtlich des Zuganges von Geflüchteten zur gesundheitlichen Regelversorgung. Denn Geflüchtete sind in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthaltes nach dem Asylbewerber-Leistungsgesetz nicht krankenversichert. Geflüchtete können Leistungen über das Sozialamt beantragen. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beinhaltet die Leistungsregelung nur „erforderliche“ Behandlungen „akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“. Asylsuchende besitzen damit nur einen eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsleistungen. Die Ampel-Regierung hat diesen eingeschränkten Leistungsanspruch zum Jahreswechsel auf drei Jahre verlängert. Die Regierung komme damit der Verantwortung für die Versorgung Geflüchteter nicht nach, erklärt Frauke Baller. Die psychologische Versorgungslücke wird vergrößert und die Psychosozialen Zentren steuern weiter der absoluten Belastungsgrenze entgegen.
Arbeit in finanzieller Unterversorgung trotz hoher Nachfrage
Zu den neuen Gesetzesregelungen werden die Wartelisten in den Psychosozialen Zentren immer länger, denn die Zuwanderungszahlen steigen. 2020 mussten 10.000 Geflüchtete von den Psychosozialen Zentren nach Angaben des Versorgungsberichtes der BAfF abgelehnt werden. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Asylanträge seit 2020 stetig und hat sich in diesen drei Jahren mehr als verdoppelt.
Die finanzielle Lage der Psychosozialen Zentren ist nicht mit den steigenden Asylanträgen vereinbar. Denn die Mittel, über die sich die Vereine finanzieren, sind sehr divers und projektgebunden. Somit müssen regelmäßig neue Gelder beantragt werden. Mit 43,3 Prozent nehmen die Landesmittel den größten Anteil ein. Daneben können Gelder von kommunalen oder Bundesmitteln beantragt werden, von diversen Stiftungen oder in Einzelfällen von der EU oder internationalen Organisationen. Die ständige Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten sowie die Befristung der Arbeitsstellen in den Psychosozialen Zentren schaffen finanzielle Unsicherheit. Qualifiziertes Personal kann nicht gehalten werden.
Wartezeiten und Aufnahmestopps
Diese Kombination an strukturellen wie situativen Gegebenheiten verschärft die Versorgungslage in den Psychosozialen Zentren drastisch. Ein Drittel der Zentren mussten laut einer Befragung der BAfF von 2021 trotz akuter Behandlungsfälle Aufnahmestopps erlassen. Das Psychosoziale Zentrum in Dortmund musste ihre Warteliste zuletzt Ende letzten Jahres schließen.
Sozialarbeiter Andreas Heck und Psychologin Sabrina Hackmann, angestellt in der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum, sprechen von einer Arbeit in konstanter Unterversorgung. „Durch die hohe Arbeitsbelastung können wir meist nur Brände löschen“, so Andreas Heck. Beide betonen, dass sie ständig mit zu wenig Personal für zu viele komplexe Anfragen von Menschen in strukturell benachteiligten Situationen konfrontiert sind. Zudem würde die fachliche Expertise in den Psychosozialen Zentren sinken, da bei zu wenig Geld Fortbildungen zum Beispiel zu kulturellen Hintergründen nicht mehr bezahlt werden können. Die Dolmetscher*innen, die die Probleme der Patient*innen an die Mitarbeitenden der Zentren kommunizieren, könnten teilweise nicht mehr honoriert werden. Dabei sei deren Honorar eh niedriger, weil sie ehrenamtliche Muttersprachler*innen sind und keine studierten Dolmetscher*innen.
Das Psychosoziale Zentrum in Hagen hat aufgrund der hohen Anfragen in der psychologischen Beratung eine Warteliste, die sich über 60 Klient*innen erstreckt. Die Wartezeit beläuft sich auf sieben bis acht Monate. Laut dem Versorgungsbericht der BAfF beträgt die durchschnittliche Wartezeit 7,2 Monaten. Insgesamt nehmen 72,7 Prozent der Zentren ihre Patient*innen über eine Warteliste auf. Die Daten stammen aus 2021.
Die Wartezeiten und Aufnahmestopps erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich psychische Erkrankungen chronifizieren. Dies bedeutetet, dass bestimmte Symptome oder die psychische Erkrankung selbst nicht nur vorübergehend präsent sind, sondern langfristig die Lebensqualität beeinträchtigen.
Statt abschieben – integrieren
Ein Geflüchteter erzählt im Gespräch, dass er durch die Betreuung im Psychosozialen Zentrum in Hagen gelernt hat, seine Symptome zu verstehen und einzuordnen. Er betont, dass er das Gefühl hatte, dort zum ersten Mal ernst genommen zu werden. Mittlerweile kann er arbeiten gehen, sich wieder um seine Kinder kümmern und nachts ruhiger schlafen. Ohne die Hilfe wäre sein Leben anders verlaufen: „Ich schäme mich, das zu sagen, aber bis die Therapie richtig angelaufen war, habe ich regelmäßig daran gedacht, mich umzubringen.“ Nun habe er wieder Hoffnung gefasst und könne am Leben teilnehmen. Sein Psychotherapeut Tobias Weinreich bestätigt seine Aussage: „Ohne den Dienst wäre es vielen Menschen verwehrt, sich zu integrieren, obwohl sie es wollen, und es wäre vielen verwehrt, endlich hier ein lebenswertes Leben aufzubauen, was der gesamten Gesellschaft hilft.“
Langfristig gesehen würden Einsparungen in Bezug auf die Psychosozialen Zentren das Potenzial der Geflüchteten hinsichtlich des Fachkräftemangels verschwenden und die Integration in die Gesellschaft erschweren. Stattdessen werden Geflüchtete mit ihren Erkrankungen allein gelassen und ausgeschlossen, so Frauke Baller. Dadurch verfestigen sich Vorurteile und gefährden den sozialen Frieden. Statt kurzfristig abzuschieben, sollte den Kommunen und damit den psychisch belasteten Geflüchteten mit langfristig angesetzter Unterstützungsinstrumente zur Integration geholfen werden.
Die Therapiesitzung der Geflüchteten ist zu Ende. Alis konnte einige ihrer Probleme ansprechen und die Psychologin Lösungsansätze vorschlagen. In Deutschland findet sie ihr neues Zuhause, sagt sie der Dolmetscherin. Hier kann Alis atmen. Einatmen und ausatmen, das ist für sie Freiheit. Mit diesen Worten im Hinterkopf wendet sie sich an die Psychologin zögerlich aber deutlich auf Deutsch: „Danke.“
*Name von der Redaktion geändert
Beitragsbild: Emma Petershagen