Wild und vegetarisch: Eine Jegetarierin auf dem Hochsitz

Vegetarisch leben und trotzdem jagen – das klingt widersprüchlich, oder? Und wer Tiere tötet, kann doch nicht tierlieb sein, richtig? Jegetarierin Marlene erzählt, warum sie das anders sieht.

In dem schlichten, viereckigen Hochsitz im Emsland ist gerade einmal Platz für zwei Menschen. Zwei alte Drehstühle, ein Fernglas, eine warme Decke, Mückenspray und ein Gewehr – das ist alles, was darin zu finden ist. Mehr brauchen Jäger*innen nicht. Von dem Hochsitz aus erstreckt sich der Blick in drei Richtungen: auf die Felder, die Wälder und vorbeilaufende Tiere. Jäger*innen erlegen diese Tiere mit ihrem Gewehr. Können sie in solchen Momenten tierlieb sein?

Marlene Pietryga sagt: Ja. Die 23-Jährige hat seit einem Jahr den Jagdschein und hat einen ganz eigenen Weg gefunden, ihre Tierliebe und die Leidenschaft für das Jagen zu vereinen. Marlene ist Jegetarierin – Jägerin und Vegetarierin in einem. Sie ernährt sich überwiegend vegetarisch. Bisher hat sie noch kein Tier geschossen. “Wenn ich aber eins erlegen kann, werde ich es auch essen”, sagt sie.

Warum bist du eine Jegetarierin?

Vom Hochsitz aus lässt sich die Natur gut beobachten.

Marlene: Ich bin Jegetarierin, weil ich das Fleisch aus der Massenproduktion nicht mehr essen möchte. Ich möchte nicht, dass das Tier extra für mich gezüchtet und getötet wird. Ich finde es nicht gut, wenn die Tiere teilweise auf engstem Raum gehalten werden und ihnen Medikamente zugesetzt werden, zum Beispiel Antibiotika. Bei der Jagd weiß ich, wie das Tier gestorben ist. Ich weiß, dass es ein schönes Leben in freier Natur und keinen Stress vor dem Tod hatte und ich weiß, dass es direkt tot ist.

Wie bist du zur Jagd gekommen?

Marlene: Die Familie meines Exfreundes hat mich dazu bewegt, diesen Schritt zu gehen. Sie hat mich oft zur Jagd mitgenommen und hat mir eine andere Seite von der Jagd gezeigt als das, was immer so durch die Medien und Geschichten zu hören ist. In den Medien werden wir Jäger so dargestellt, dass wir alles töten, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Das ist so nicht richtig.

Als du deinen Jagdschein gemacht hast, warst du schon längst Vegetarierin. Dann hast du aber doch angefangen, das Fleisch zu essen, was dein Exfreund geschossen hat.

Marlene: Es ist mir ganz wichtig zu wissen, von wem dieses Tier geschossen wurde. Ich würde nicht jedes Wildfleisch essen. Nicht von Leuten, die ich nicht kenne und bei denen ich nicht weiß, wie das Tier gestorben ist. Wildfleisch schmeckt mir auch besser als gekauftes Fleisch aus der Massenproduktion. Es hat einen eigenen Geschmack.

Was sagen andere Vegetarier*innen zu deiner Lebensweise?

Marlene: Da gibt es viele unterschiedliche Meinungen. Ich hatte eine Freundin, die ist mittlerweile Veganerin und war vorher Vegetarierin. Als ich ihr damals erzählt habe, dass ich Jägerin werde, hat sie mich eine Mörderin genannt. Ich ernte aber auch viel Verständnis dafür, dass ich Jegetarierin bin. Gerade von Leuten, die aus den gleichen Gründen wie ich kein Fleisch aus der Massentierhaltung essen. Viele sagen auch, dass sie es nicht verstehen können. Verständnis und Unverständnis ist mir beides bekannt. Das ist aber auch so, wenn ich mit Leuten spreche, die keine Vegetarier oder Veganer sind.

Was motiviert dich an der Jagd?

Marlene: Beim Jagen bin ich viel in der Natur und dort geht es mir sehr gut. Mich motiviert auch die Gesellschaft, wenn wir auf Gesellschaftsjagden gehen. Im Grunde motiviert mich sehr viel an der Jagd. Es macht einfach Spaß!

Die Liebe zur Natur

Wusstet ihr schon?

Im Bundesjagdgesetz ist verankert, welche Wildtiere gejagt werden dürfen. Neben dem Jagen müssen Jäger*innen auch einige Pflichten erfüllen wie die Hege. Dazu zählt zum Beispiel, Wildtiere zu füttern und Wildschäden zu vermeiden.

Jäger*innen unterscheiden beim Wild laut dem Bayerischen Jagdverband zwischen Hochwild und Niederwild. Die Begriffe stammen aus der Zeit, als nur Adelige das Jagdrecht besaßen. Während der Hochadel Hochwild wie Hirsche und Wildschweine schießen durfte, blieb dem niederen Adel nur das Niederwild, also zum Beispiel Fuchs, Hase, Fasan und Reh.

Der Deutsche Jagdverband hat viele unterschiedliche Jagdarten aufgelistet. Bei einer Gesellschaftsjagd wird in einer Gruppe gejagt. Die Gesellschaftsjagd wird auch Bewegungsjagd, Treibjagd oder Drückjagd genannt. Dabei werden Wildtiere mit Treibern und Jagdhunden aufgeschreckt und in Richtung der Schütz*innen getrieben. Eine weitere Art zu jagen ist die Pirsch. Jäger*innen pirschen sich dabei unbemerkt bis auf Schussentfernung an das Wild heran. Bei der Ansitzjagd befinden sich die Personen oft allein auf einem Hochsitz. Die Fallenjagd unterscheidet zwischen Lebend- und Totfangfallen. Bei Totfangfallen stirbt das Tier sofort, während es bei Lebendfangfallen so lange lebt, bis Jäger*innen es in der Falle töten. Bei der Baujagd wird zum Beispiel ein Dackel oder Terrier in einen Bau gesetzt, um die Tiere herauszutreiben. Jäger*innen nutzen die Lockjagd, um Füchse, Tauben oder Krähen mit Gerüchen, Futter oder nachgeahmten Lauten zu ködern und dann zu töten. Bei der Beizjagd werden Greifvögel für die Jagd eingesetzt.

Was beeindruckt dich am meisten an der Jagd?

Marlene: Die ganzen Geschichten und Kinderfilme erzählen nur von dem bösen Jäger, der schießt und hinter dem Tier her ist. Dabei steckt dahinter so viel mehr. Viele Leute wissen gar nicht, wie viel Wissen dazugehört. Das Naturwissen, die Hege und Pflege: Ich glaube, das ist das, was mich am meisten beeindruckt.

Vom Hochsitz aus lässt sich die Natur wunderbar beobachten. Freie Felder grenzen an dichte Wälder. Äste klappern, Gräser rauschen. Doch die freie Sicht hat ihren Preis – geschützt ist der Hochsitz nicht. Wind pfeift aus allen Richtungen herein. Drinnen ist es bitterkalt. Die Kälte gehört zum Naturerlebnis dazu. Stundenlang harren Jäger*innen hier aus, manchmal zu zweit, meistens allein. Sie lauschen der Natur und beobachten die Landschaft. Ansitzjagd braucht Zeit – und Geduld.

Wenn Marlene auf dem Hochsitz ist, durchkämmt sie mit dem Fernglas die Umgebung. Gräser, Farne, Bäume – keine Tiere in Sicht. Die Zeit zieht sich. Langsam wird es dunkel. Die Tiere kommen meist in der Abenddämmerung heraus, um Nahrung zu suchen. Lange passiert nichts.

Die tierliebe Jägerin

Plötzlich bewegt sich am Rand eines Feldes ein dunkler Schatten. Ein Blick durchs Fernglas zeigt ein Reh. Zwei kleine Schatten flitzen an dem Reh vorbei und springen auf und ab – zwei Rehkitze. Schießen darf Marlene die Kitze und Muttertiere noch nicht, erst in vier Monaten, wenn die Schonzeit vorbei ist. Ein Kitz säugt an seiner Mutter. Auf dem Hochsitz gilt jetzt: mucksmäuschenstill sein, um die Tiere nicht zu verschrecken. Die Kitze tollen im hohen Gras herum, während die Mutter wachsam die Umgebung beobachtet.

Auf einem anderen Feld huscht wenig später ein weiterer Schatten vorbei – noch ein Reh mit zwei Kitzen, die um die Mutter herumspringen. Die Ricke, das Muttertier, frisst ein paar Gräser. Sie sind so weit entfernt, dass sie kaum im Fernglas zu sehen sind. Die erste Ricke trottet mit ihren Kitzen in den angrenzenden Wald, während sich das zweite Reh auf den Boden legt und die Kitze beobachtet. Minutenlang verharren sie so.

Ein Reh steht ganz in der Nähe des Hochsitzes.

Auf einmal steht ein Reh ganz in der Nähe, vielleicht 25 Meter entfernt. Es starrt direkt in die Richtung des Hochsitzes. Jetzt heißt es: Bloß keinen Zentimeter rühren! Die Gefahr, dass es davonläuft, ist zu groß. Die Zeit vergeht quälend langsam, das Reh fixiert den Hochsitz weiter. Erst nach ein paar Minuten entspannt es sich, beugt sich hinunter und beginnt, Gräser zu fressen. Genüsslich kaut es auf den Pflanzen herum. Plötzlich durchbricht ein lauter Knall die Stille. In der Ferne muss jemand auf ein anderes Tier geschossen haben. Das Reh springt sofort erschrocken über die Felder und flieht in den nächsten Wald.

Würdest du dich selbst als Tierfreundin beschreiben?

Marlene: Ja. Auf jeden Fall. Meine Rolle als Jägerin unterschreibt das nochmal. Auch wenn viele vielleicht sagen würden: “Ja, aber du tötest ja Tiere.” Bei der Jägerei geht es vielleicht 30 Prozent darum, zu schießen und Tiere zu töten. Bei den restlichen 70 Prozent geht es um so viel mehr.

Sind Jäger*innen Natur- oder Tierschützer*innen?

Marlene: Beides. Jäger schützen die Natur und Tiere. Sie kümmern sich zum Beispiel um Kitzrettungen. Wenn die Felder abgemäht werden, sind die kleinen Kitze in Gefahr. Die Jäger schauen vorher in den Feldern und können die Kitze ordnungsgerecht retten, sodass die Mutter das Kitz wieder annimmt. Würden wir das Kitz anfassen, würde die Mutter ihr Kitz nicht mehr erkennen und verstoßen. Für mich zählt aber auch zum Natur- und Tierschutz, dass ich weiß, dass ich den Tieren helfen kann. Wenn ich auf dem Hochsitz ein krankes Tier sehe und erkenne, dass es  elendig verenden würde, darf ich dieses Tier erlösen und mache mich damit nicht strafbar. Wir Jäger sind die einzigen, die die Tiere töten dürfen. Wenn ein Tier auf der Straße angefahren wird, am Straßenrand liegt und klagt, dann darf nicht jeder das Tier töten, weil nicht jeder beurteilen kann, ob das Tier vielleicht wieder gesund wird. Es gibt viele Leute, die gegen Jäger sind. Das verstehe ich nicht. Sie sehen nur das Schießen und nicht den Natur- und Tierschutz.

Jagd für den Naturschutz

Vorteile der Jagd

Laut dem Deutschen Jagdverband gibt es einige Gründe, die für die Jagd sprechen.

Jäger*innen würden beispielsweise kranke Tiere suchen und schießen und so verhindern, dass sich Krankheiten unter den Tieren ausbreiten.

Jagd könne helfen, um Artenschutz nicht zu gefährden. Viele Tierarten würden sich gewaltig vermehren, weil sie viel Nahrung durch Abfälle und Landwirtschaft fänden. Dazu gehören Dachse, Nutrias, Nilgänse, Waschbären oder Wildschweine. Wenn sie sich ungebremst ausbreiten würden, hätte das schlimme Folgen für andere Tiere und Pflanzen. Je mehr es von diesen Wildtieren gebe, desto größer sei zum Beispiel die Gefahr für Beutetiere. Seltene Amphibien und Bodenbrüter seien bereits bedroht und müssten geschützt werden.

Durch die Jagd von Rehen, Hirschen und Wildschweinen könnten die Wildschäden in der Forstwirtschaft und Landwirtschaft verringert werden. Wildschweine würden Schäden in der Landwirtschaft anrichten, indem sie zum Beispiel Maisfelder als Lebensraum nutzen. Rehe und Hirsche würden die Forstwirtschaft durch Verbiss gefährden. Das heißt, dass Rehe und Hirsche Bäume anknabbern oder Baumtriebe abfressen. Dadurch wächst der Baum langsamer oder stirbt im Extremfall ab. Einige Bäume würden stärker geschädigt als andere, sodass die Artenvielfalt im Wald abnehmen kann.

Leiden Tiere bei der Jagd?

Marlene: Prinzipiell würde ich sagen: Nein. Darüber streiten sich aber auch die Gemüter. Wenn du wirklich dieses eine von zehntausend Malen danebentriffst, sodass das Tier nicht direkt stirbt, dann leidet es natürlich. Viele sagen auch, dass das Tier leidet, wenn es eine Gesellschaftsjagd ist. Da laufen die Beteiligten durch das Feld oder den Wald und schrecken die Tiere dadurch auf. Die Gegner sagen daher, dass das Tier panische Angst hat und wegläuft, aber meistens ist es eher ein gemütliches Rennen von den Tieren, sodass sie nicht so viel leiden.

Hast du Kritikpunkte an der Jagd?

So pauschal kann ich keine nennen. Aber es gibt natürlich immer schwarze Schafe und das finde ich schade.

Nachteile der Jagd
Bei der Jagd werden laut der Tierrechtsorganisation PETA einige Tiere nur wegen Trophäen getötet. Deshalb würden nicht unbedingt kranke oder schwache Tiere gejagt werden, die in der Natur zuerst sterben würden, sondern vor allem prächtige Tiere.

Die Jagd trägt laut PETA dazu bei, dass Wildtiere in Deutschland weniger Lebensräume zur Verfügung haben. Durch die Jagd würden die Wildtiere von den Feldern in den Wald gedrängt, wo sie nur wenig Nahrung finden und deshalb Baumtriebe abfressen.

Die Organisation Wildtierschutz Deutschland und der Deutsche Tierschutzbund halten die Baujagd, die Beizjagd, Bewegungsjagden und die Fallenjagd für tierschutzrechtlich problematisch. Bei der Beizjagd töten Greifvögel ihre Beute durch einen Genickbiss oder erdolchen sie mit ihren Krallen. Vor der Jagd hungern die Greifvögel. Bei Bewegungsjagden sei nicht nur der Dauerstress der Tiere ein Problem, sondern auch, dass das Schießen durch die dauerhafte Bewegung der Tiere erschwert wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Wild nicht sofort stirbt, sondern nur schwer verletzt wird und leidet, sei höher als bei Ansitzjagden. Bei der Fallenjagd könne es zu Fehlfängen, Fehlfunktionen oder einer Fehlbedienung der Falle kommen, weshalb die Tiere länger leiden könnten. Es könne bei Lebendfangfallen auch zu unsachgemäßer Tötung der Tiere kommen. Bis zur Befreiung hätten die Tiere außerdem viel Stress. Bei der Baujagd hätten die gejagten Tiere kaum eine Chance, einem qualvollen Tod zu entgehen. Entweder werden sie aus dem Bau gejagt und getötet oder sie bleiben im Bau und leisten sich mit dem Bauhund einen Todeskampf.

Wie findest du es, wenn Menschen das Jagen verurteilen, aber trotzdem Fleisch essen?

Marlene: Viele Leute, die Fleisch essen, sagen, dass sie niemals ein Tier töten könnten. Ich finde, genau das ist der Fehler. Sie essen dann Tiere, von denen sie nicht mal wissen, wie sie getötet wurden und wie sie gelebt haben. Wenn man kein Tier töten kann, sollte man eigentlich auch kein Fleisch essen.

 

Fotos: Mariana Büter

Ein Beitrag von
Mehr von Mariana Büter
KURT – Das Magazin: Studentischer Tarifvertrag, Essen Motor Show, “Defensive Infrastrukturen”
Fußball ist Volkssport in Deutschland, keine Sportart ist hier zu Lande so...
Mehr
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert