„Es ist nicht meine Aufgabe, die Moralkeule zu schwingen“

Ramon Wagner ist seit 15 Jahren im Reality-TV-Geschäft. Zunächst als Manager bekannter Promi-Gesichter, später als YouTuber. Im Interview spricht er über mediale Verantwortung und warum viele Unterhaltungsshows heute ein Problem haben.

Reality-TV findet nicht mehr nur im Fernsehen statt. Immer mehr Menschen teilen auf Plattformen wie Tiktok oder Youtube ihre Meinung. Ramon Wagner hat sich das zum Beruf gemacht und lebt mittlerweile davon.

Bekannt geworden ist der 38-Jährige damit, dass er Folgen von “Germany‘s Next Topmodel” kommentiert hat. Über die Jahre kam dann fast jedes bekannte Unterhaltungsformat dazu. Auf seinem Kanal sind vor allem lange Interviews im Corona-Zoom-Stil zu finden. Mindestens eine Stunde lang spricht Wagner mit Kandidat*innen aus verschiedenen Sendungen. Warum jedes seiner Interviews für ihn besonders ist und wie kritisch wir wirklich auf das aktuelle Reality-TV blicken können, verrät er im Interview.

Wann hast du mit Youtube angefangen?

Ich habe den Kanal 2013 gegründet. Anfangs war das eher ein Hobby. Ich will niemandem auf den Schlips treten, aber ich glaube, selbst meine Kollegen, die so lange dabei sind wie ich, haben Youtube damals noch nicht in diesem Umfang gemacht. Heutzutage gibt es viel mehr Youtuber, die ähnlich wie ich in die Richtung „Trash TV“ gehen. Da sind wir in einer komplett anderen Dimension angekommen.

Was begeistert dich so an Reality-TV, dass du es zu deinem Content gemacht hast?

Das fing damit an, dass ich solche Formate gerne selbst geguckt habe. Es ist relativ leichte Unterhaltung für zwischendurch. Offensichtlich sehen das viele Leute genauso. Dann bin in die Berichterstattung eingestiegen.

Du hattest schon vor deinen Youtube-Zeiten beruflich mit Reality-TV zu tun, nämlich als Manager und Vermittler hinter den Kulissen. Wie sah die Arbeit konkret aus?

Ich habe zehn Jahre lang exklusiv Micaela Schäfer gemanagt und schon vorher Kandidatinnen in den Dschungel gebracht. 2011 habe ich mit dem Management angefangen. Durch diese Vorgeschichte ist eine gewisse Expertise entstanden, die mich überhaupt erst zu meinem Youtube Kanal gebracht hat. Dass meine Videos geguckt wurden, lag sicher auch daran, dass ich bereits in dieser Szene unterwegs war.

Wie hat sich dein Content über die Zeit entwickelt?

Angefangen habe ich mit „Germany‘s Next Topmodel“. Ich habe zu jeder Folge am Donnerstagabend ein Video gemacht – mir einfach die Kamera geschnappt, mich hingesetzt und meine Gedanken darüber geteilt. Manchmal alleine, manchmal mit Freunden. Das hat mich groß gemacht. Später habe ich auch Videos zu den RTL-Produktionen „Bachelorette“ und „Bachelor“ gemacht. Hinterher sind dann Interviews dazugekommen.

Reality-TV-Formate erklärt:
„Germany’s Next Topmodel“, die deutsche Version von „Americas Next Topmodel“, ist eine Castingshow, in der die Teilnehmer*innen gegeneinander antreten, um den gleichnamigen Titel zu gewinnen. Jahrelang war die Show ausschließlich Frauen vorbehalten, seit 2024 dürfen auch Männer teilnehmen. Dabei müssen sich die Kandidat*innen in Fotoshootings und auf dem Catwalk beweisen. Heidi Klum, die als „Model-Mama“ durch die Show führt, bestimmt am Ende jeder Folge, wer ein Foto erhält und damit eine Runde weiterkommt. Die Challenges haben dabei meist nicht viel mit dem alltäglichen Model-Leben zu tun – schwindelige Höhen und das Unterwasser-Shooting sind Klassiker jeder Staffel. In der „Model-Villa“ müssen sich die Teilnehmer*innen Schlaf- und Wohnraum teilen – Drama ist dabei vorprogrammiert.

„Der Bachelor“ läuft seit 2012 und gehört damit zu den älteren Formaten im deutschen Fernsehen. Ein Mann, präsentiert als begehrter Bachelor, also Junggeselle, datet 22 Kandidatinnen, vergibt Rosen an seine Favoritinnen und verlässt das Format mit seiner Auserwählten. 22 Frauen, die in derselben Villa wohnen und um denselben Mann kämpfen – da kann es schon mal zu Streitereien kommen. Das Gegenstück „Die Bachelorette“ tauscht die Rollen. Hier wählt die Frau aus mehreren Männern den Gewinner aus. Das amerikanische Vorbild „The Bachelor“ läuft übrigens schon knapp zehn Jahre länger.

Warum hast du damit angefangen, Kandidat*innen aus den Formaten zu interviewen?

2017 habe ich gemerkt, dass die Videos erfolgreicher werden. Dann habe ich mir die Frage gestellt, wie ich das ausweiten kann, um davon leben zu können. Von vier Monaten Topmodel im Jahr alleine ging das kaum. Deswegen habe ich andere Themen ausprobiert, um eine gewisse Sicherheit zu haben.

Wie leicht war es, an Kandidatinnen von Germany‘s Next Topmodel zu kommen, die mit dir sprechen wollten?

Ramon Wagner bei der Premiere der 20. Staffel Germany’s Next Topmodel. Foto: Ramon Wagner

Sagen wir es mal so: Leicht war es nicht, aber auch nicht sonderlich schwer. Die Kandidatinnen kannten mich, weil ich ja schon länger über das Format berichtet habe. 2017 hatte ich das erste Interview mit Celine Bethmann, die damals bei GNTM gewonnen hat, und habe damit den Grundstein gelegt. Offiziell war es den Kandidatinnen damals gar nicht erlaubt, solche Interviews zu geben. Sie haben es aber trotzdem mit mir gemacht.

Mittlerweile sind Interviews der Hauptcontent auf deinem Kanal. Waren die Interviews von Anfang an so populär?

Corona war der Türöffner. Eine Kandidatin der damaligen „Germanys Next Topmodel“-Staffel hatte beim Sender angefragt und gesagt, dass sie gerne ein Interview mit mir machen würde. Weil es ja nicht persönlich ging, haben wir es per Videocall gemacht. Und plötzlich wollten alle ein Interview mit mir machen. Ich habe in der Staffel damals so gut wie alle interviewt.

Wie bereitest du dich auf das Interview vor?

Gar nicht. Ich mache die Kamera an und lasse das Gespräch laufen. Ich cutte nur, wenn sich technische Fehler eingeschlichen haben oder wenn mich jemand bittet, eine Aussage zu streichen.

Was erfahren die Zuschauer*innen in deinen Interviews?

Ich suche die spannenden Themen und die tiefgründigen Geschichten. Bei meinen Interviews sollen die Zuschauer dem Menschen ein bisschen näherkommen. Dazu gehören Dynamiken hinter den Kulissen: Wer hat sich mit wem verstanden und wer hat mit wem gestritten.

Klassischer „Reaction-Content“ auf Youtube besteht oft daraus, dass jemand vor der Kamera sitzt, auf Videos reagiert und zwischendurch pausiert, um das Geschaute zu kommentieren. Wie heben sich deine Interviews von solchen Inhalten ab?

Meine Interviews gehen relativ lang. Das bietet den Kandidatinnen eine Plattform, ungefiltert zu sprechen. Dadurch lernen die Zuschauer sie besser kennen. Ich möchte Reaction Content auf gar keinen Fall abwerten, auch in Reaction-Videos teilen Youtuber ihre eigene Meinung. Aber im Interview kommt durch den Austausch zwischen Interviewer und Gesprächspartner eine viel tiefere Ebene zustande. Das hat einen komplett anderen Mehrwert.

Findest du es nicht kritisch, Kandidat*innen in deinen Interviews eine Plattform zu bieten, die im eigentlichen Format negativ aufgefallen sind?

2019 war Ramon Wagner als Coach bei der zweiten Staffel Switzerland’s Next Topmodel. Foto: Ramon Wagner

Das passt zu unserer Zeit. Die Meinungskorridore haben sich eine Zeit lang extrem verengt und dagegen habe ich mich immer gewehrt. Bei mir kriegen solche Menschen eine Plattform, und das ist auch gut so. Klar gibt es immer Stimmen, die sagen, wir dürfen denen keine Plattformen bieten – dann erwidere ich: Dann guck es dir einfach nicht an.

Viele kommen auch mit dem Thema Moral. Ich finde das nicht unwichtig, im Gegenteil: Ich betrachte die Themen auch mit einer gewissen Moral. Aber man kann das Leben nicht ausschließlich dadurch betrachten. Wenn ich ein Interview führe, stelle ich Fragen und bekomme Antworten. Es ist nicht meine Aufgabe, dabei die Moralkeule zu schwingen. Die Einordnung überlasse ich den Zuschauern, jeder hat einen gesunden Menschenverstand.

Die Themen, die in Reality-TV-Formaten Sendezeit generieren, scheinen immer polarisierender zu werden. Kandidat*innen, die fremdgehen, bewusst beleidigen oder durch aggressives Verhalten auffallen. Ist Reality-TV überhaupt noch leichte Unterhaltung?

Ich glaube nicht, dass es noch leichte Unterhaltung ist. Offensichtlich wollen die Leute das auch gar nicht. Sie schreien oft: „Oh, das ist aber total langweilig!“ Bei Formaten wie „Temptation Island“ sind wir inzwischen an dem Punkt, an dem es als öde gilt, wenn niemand fremdgeht. Das Publikum verlangt nach immer krasseren Themen, vielleicht, weil es schon so abgestumpft ist.

Funktioniert Reality-TV also nur noch durch bewusste Provokation?

Früher vielleicht, aber heute nicht mehr. Was die Zuschauer heute eher spannend finden, sind echte Geschichten und echte Gefühle. Die erleben sie im Reality TV kaum noch, weil alles abgesprochen und wie Fake wirkt.

Ist diese fehlende Authentizität das größte Problem im aktuellen Reality-TV?

Ja, weil die Leute den Eindruck haben: Das stimmt alles hinten und vorne nicht. Dann verlieren sie das Interesse an dem Format. Ich selbst gucke mir gerne einen Streit an, wenn er eine echte Grundlage hat, wenn Menschen über unterschiedliche Standpunkte debattieren. Sobald ich aber das Gefühl habe, Leute diskutieren einfach nur, damit ein Streit stattfindet, bin ich raus.

Warum sind solche Fake-Dramen aber immer öfter zu sehen?

Reality-TV ist ein Businessmodell geworden. Die Teilnehmer eines Formats wissen ganz genau, was sie machen müssen, um in ein anderes zu kommen. Dadurch entsteht ein Kreislauf von Fake-Dramen, die ganz sicher ihre Sendezeit bekommen.

Man hört öfter, dass Reality-TV Qualitätsmedien verdrängen würde. Was hältst du von dem Statement?

Zunächst müssen wir uns die Frage stellen, was Qualitätsmedien überhaupt sind und wer darüber entscheidet. Meiner Meinung nach muss man das nicht vergleichen, denn das eine ist Unterhaltung und das andere ist eine Form von Information wie beispielweise Nachrichten. Ich verstehe nicht, warum manche das Bedürfnis haben, alles gegeneinander aufzuwiegen.

Was sagt die Forschung zur Verdrängung von Qualitätsmedien?
Entscheidend ist, dass gar nicht genau definiert werden kann, was als qualitativ gilt. So sieht das zumindest der schwedische Medien- und Kommunikationswissenschaftler Johan Fornäs. Er beschreibt in einer Untersuchung, dass der Unterschied zwischen Qualitätsmedien und “Popular Media”, also Unterhaltungsshows, früher eindeutiger gewesen sei. Durch die digitale Mediatisierung und neue Formate wie Reality-TV werde diese Grenze jedoch zunehmend unscharf.

In der Konsequenz sagt Fornäs, dass auch Reality-TV anspruchsvoll sein kann. Privatpersonen werden plötzlich zu Stars, während die Zuschauer*innen bei dieser „Celebrification“ live dabei sein können. Sie haben das Gefühl, die Teilnehmer*innen während des Formats zu begleiten. Das Publikum fühlt sich den Kandidat*innen dadurch nahe und fängt an, mitzufiebern. Fornäs nennt Big Brother als Beispiel für solch neue Medienformate, die traditionelle Medienstrukturen aufbrechen. Weitere Beispiele sind Shows wie „American Idol“ und ihre deutschen Versionen „Das Supertalent“ und „DSDS“.

Misha Kavka, Professorin für Medien und Kommunikation an der University of Auckland, sieht das Publikum noch stärker involviert. Zuschauer*innen bekommen das Gefühl, Teil der Jury zu sein und die Kandidat*innen bewerten zu dürfen. Ähnliches gelte für das Unterhaltungsformat „I’m a celebrity – get me out of here“ oder im Deutschen „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“. Die Teilnehmer*innen werden in solchen „Überlebens-Formaten“ an ihre Grenzen gebracht. Währenddessen bewerten die Zuschauer*innen von zu Hause aus, ob sich die Kandidat*innen moralisch richtig oder falsch verhalten.

Johan Fornäs argumentiert auch, dass neue Medien wie Reality-TV alte Formate zwar verdrängen. Das sage aber nichts über die Qualität der Medien aus. Nach Fornäs kann auch einer vermeintlich vulgären Show nicht ihre Qualität abgesprochen werden.

Findest du, Reality-TV-Fans steigern sich manchmal zu stark in die Shows rein?

Natürlich gibt es Fans, die sich total reinsteigern. Ich denke, das liegt daran, dass die Fans die Verhaltensweisen der Kandidaten auf sich beziehen oder sich getriggert fühlen. Aber die Reaktion hat nichts mit den Menschen im Fernsehen zu tun, sondern allein mit den Zuschauern.

Manche fragen mich: Wie kannst du bei den Interviews so entspannt sein? Dann sage ich: Warum denn nicht? Das betrifft mich doch alles nicht. Sobald ich meinen Laptop zumache oder mein Handy ausschalte, habe ich mein Leben, und das hat nichts mit dem zu tun, was ich mir vorher reingezogen habe.

Stimmt es, dass Zuschauer*innen das Verhalten der Kandidat*innen auf sich beziehen?
Die Forschung zeigt, dass Reality-TV-Zuschauer*innen durchaus dazu gebracht werden, sich mit den Kandidat*innen zu identifizieren. Der Erziehungswissenschaftler Thomas Ziehe beschreibt diesen Mechanismus als “cultural expropriation” – also die kulturelle Aneignung von Gefühlen und Erfahrungen anderer. In Bezug auf Reality-Shows heißt das: Sie zielen vor allem darauf ab, dass sich Zuschauer*innen in den Kandidat*innen wiederfinden. Das muss nicht bedeuten, dass die Zuschauer*innen das dort gezeigte Verhalten automatisch auf sich beziehen oder sich hineinsteigern, aber sie vergleichen ihr Verhalten mit dem der Kandidat*innen.

Wie häufig Zuschauer*innen dieses Verhalten auf sich beziehen, zeigt sich in einer Studie aus dem AASCIT Journal of Psychology. Darin wurde der Zusammenhang zwischen Reality-TV-Konsum und aggressivem Verhalten der Zuschauer*innen untersucht. Den Teilnehmer*innen der Studie wurden verschiedene Ausschnitte aus Reality-Shows gezeigt, die entweder starkes oder leichtes beziehungsweise gar kein aggressives Verhalten der Kandidat*innen zeigen. Die Mehrzahl derjenigen, die die Clips mit aggressiven Inhalten geschaut haben, haben danach selbst von aggressiver Stimmung berichtet. Die Studie hat also einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Gefühlslage der Zuschauer*innen und dem Level an Aggressivität in den Reality-Show-Clips festgestellt.

 

Beitragsbild: Ramon Wagner

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