Über die sozialen Medien hat sich der Hashtag #metoo auf der ganzen Welt verbreitet. Viele Frauen und auch Männer haben das Ausmaß von sexuellem Missbrauch und Belästigung öffentlich gemacht. Wie gehen Journalisten mit diesen Vorwürfen richtig um?
Ein Leserbrief erreicht eine Redaktion. Darin beschreibt eine Frau, wie ihr Chef ihr immer wieder an den Hintern grapscht, ihr anzügliche Sprüche drückt, sie „Mäuschen“, „Schätzchen“, „heißer Feger“ nennt. Sie habe keine Lust mehr auf ihre Arbeit, fühle sich nicht ernst genommen und zweifele an sich selbst.
Die Frau arbeitet in einem großen Unternehmen. Sie vermutet, dass sie nicht die einzige Betroffene ist. Aber auf der Arbeit redet sie mit niemandem darüber. Sie hinterlässt in dem Brief ihre Kontaktdaten und bittet um Hilfe und Aufklärung.
Journalisten stehen bei solchen Vorwürfen über sexuelle Belästigung oder Vergewaltigung vor besonderen Herausforderungen. Wenn sie über einen solchen Verdacht berichten, gelten spezielle Regeln. Wann dürfen sie den Namen des mutmaßlichen Täters nennen? Wie erkennen sie, welcher Vorwurf gerechtfertigt ist? Und ist jeder Fehltritt überhaupt wert, öffentlich bekannt gemacht zu werden?
In unserem Fall entscheiden sich die Journalisten den Vorwürfen nachzugehen. Steckt hinter der Beschwerde einer einzelnen Frau womöglich ein Skandal? In der Recherche stellen die Journalisten fest, dass sie nicht die einzige Betroffene ist. Der Chef hat auch andere Arbeitnehmerinnen und sogar Praktikantinnen genauso behandelt.
Schließlich wird für die Journalisten klar: Das muss an die Öffentlichkeit! Da der mutmaßliche Täter weder strafrechtlich verfolgt wird, noch seine Taten bewiesen sind, bewegen sich die Journalisten im rechtlichen Rahmen der sogenannten Verdachtsberichterstattung.
Marta Orosz vom gemeinnützigen Recherchebüro Correctiv hat an einem ähnlichen Fall gearbeitet. Sie hat aufgedeckt, dass mehrere hochrangige Mitarbeiter im Westdeutschen Rundfunk (WDR) über Jahre hinweg Kolleginnen sexuell belästigt haben, ohne dass Vorgesetzte eingeschritten sind. Wir haben darüber mit ihr auf der Jahreskonferenz 2018 des Netzwerks Recherche gesprochen:
Damit sie überhaupt berichten können, müssen Journalisten sicherstellen, dass die Vorwürfe Hand und Fuß haben. „Je schwerer der Vorfall ist, desto höher sind die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht“, betont Michael Fricke, Fachanwalt für Medienrecht. „Das große Problem bei sexuellen Themen ist die Frage der Beweisbarkeit. Meist steht Aussage gegen Aussage“, erklärt er.
In unserem Beispiel allerdings kommen immer mehr Frauen auf die Journalisten zu und berichten von ähnlichen Vorfällen im gleichen Unternehmen. Die Beschuldigungen häufen sich und der Verdacht erhärtet sich nach und nach. Nachdem sie dem Beschuldigten die Gelegenheit gegeben haben, sich zu den Vorwürfen zu äußern, dürfen sie auch darüber berichten.
Außerdem stellt sich die Frage, ob die Journalisten den Namen des mutmaßlichen Täters nennen dürfen, oder ob sie nur anonym berichten. Zunächst müssen sie egal, bei welchem Vorwurf, das öffentliche Interesse mit dem Persönlichkeitsrecht abwägen. Ist die Person einer breiten Öffentlichkeit schon bekannt, z.B. ein Politiker, Sänger oder Schauspieler? Oder ist es jemand, dessen Name noch nie in der Zeitung stand? Dann dürfen sie diesen grundsätzlich nicht nennen.
Die zweite Frage, die sich Journalisten stellen müssen: Wie schwer sind die Vorwürfe?
Die Anschuldigungen, die unter dem Hashtag #metoo erhoben wurden, reichten von sexueller Belästigung bis zu schwerster Vergewaltigung. „Deshalb muss klar unterschieden werden, was sich im Einzelfall abgespielt hat“, sagt Anwalt Fricke. Diese Bedingung beschreibt er als „Relevanz-Schwelle“. Das heißt: Je schwerer die Vorwürfe, desto höher ist das öffentliche Interesse, den mutmaßlichen Täter zu benennen. Im Fall des WDR warfen Kolleginnen den Beschuldigten sexuelle Belästigung vor. Deswegen haben Journalisten, als sie darüber berichteten, deren Namen nicht genannt. Bei noch schwereren Vorwürfen, z.B. einer Vergewaltigung, könnte die Namensnennung eher zulässig sein. Im Zweifelsfall solle man aber auf die Nennung des Namens verzichten, rät Michael Fricke.
Wenn gegen einen Beschuldigten ermittelt oder er sogar vor Gericht gestellt wird, kann das ein weiteres Indiz dafür sein, dass die Vorwürfe gerechtfertigt sind. Auch jetzt gilt: Bis zu einer Verurteilung oder einem Geständnis ist die Schuldfrage nicht geklärt. Journalisten müssen deshalb auch klar machen, dass der Angeklagte vom Gericht für unschuldig befunden werden kann. Deshalb schreiben sie häufig über „mutmaßliche Täter“. Trotzdem müssen sie jeweils abwägen, ob die Vorwürfe schwer und die Person bekannt genug sind, um ihren Namen zu veröffentlichen.
Wenn sie diese Punkte sorgfältig abgewogen haben, dürfen Journalisten berichten, selbst wenn der mutmaßliche Täter am Ende freigesprochen wird und unschuldig ist. Dass Journalisten nicht nur über bewiesene Tatsachen, sondern auch über sorgfältig recherchierte Vorwürfe an die Öffentlichkeit bringen dürfen, ist ein Privileg der Medien. Dieses Medienprivileg ist nicht nur bei Fällen von sexuellem Missbrauch wichtig, sondern auch um Missstände in der Politik und Wirtschaft aufzudecken.
#metooJLoesch