Es gibt Themen innerhalb einer Gesellschaft, die als Tabu gelten: so wie HIV – das Humane Immundefizienz-Virus. Weltweit leben geschätzt rund 37 Millionen Menschen mit HIV. Jährlich veröffentlicht das Robert-Koch-Institut neue professionell geschätzte Daten zur aktuellen Lage des Virus und einen Bericht zum aktuellen Forschungsstand. Dennoch herrschen rund um das Virus diverse Vorurteile: Von heimtückischer, bewusster Infektion über dauernde Gefahr durch Betroffene. Diese schämen sich deshalb häufig, über ihre Infektion zu sprechen. So wie der 23-jährige Murat aus Essen. Den Namen hat die KURT-Redaktion geändert, denn auch er hat Angst vor Anfeindungen wegen seiner HIV-Infektion. Im Interview erzählt er von seiner Geschichte und seinen Erfahrungen.
KURT: Wann hast du erfahren, dass du HIV-positiv bist?
Murat: Ich habe es vor drei Jahren erfahren. Damals wurde mir gesagt, ich solle mich besser mal testen lassen. Man bemerkt ja keine wirklichen Symptome wie bei einer Grippe. Meist schläft man ungeschützt mit einer infizierten Person, realisiert es dann hinterher und lässt sich dann testen. Ich bin damals sofort zu einem Arzt gegangen und habe dort einen Schnelltest gemacht. Ich war so aufgeregt und hatte unglaubliche Angst vor dem Ergebnis. Deshalb habe ich mir auch zwei Freunde mitgenommen. Das war dann auch ganz gut, als ich dann wirklich erfahren habe, dass ich HIV-positiv bin.
KURT: Wie hat sich der Moment, in dem du es erfahren hast, damals angefühlt?
Murat: Schlimm. Ich erinnere mich da noch ganz genau dran. In dem Moment hat es sich angefühlt, als würde mich nichts mehr halten. Ich hatte eine richtige Leere in mir, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Ich wusste am Anfang auch gar nicht, was das jetzt bedeutet. Also es war schon ein riesiger Schock für mich.
KURT: Dir war die Bedeutung gar nicht klar, sagst du. Was hat sich für dich denn nach der Diagnose tatsächlich verändert?
Murat: Zuerst kamen viele Arztbesuche auf mich zu. Ich musste immer wieder zum Arzt, Blut abnehmen lassen, die Werte checken lassen. Die Medikamente wurden auf mich eingestellt. Die muss ich seitdem jeden Tag nehmen. Aber ich musste vor allem mental erst mal lernen, damit umzugehen. Ich habe viel über das Thema gelesen und mich mit anderen Leuten, die HIV haben und Beratern bei der Aidshilfe in Essen unterhalten. Ich hatte so viele Fragen.
KURT: Welche Fragen haben dich am meisten beschäftigt?
Murat: Vor allem, was ich darf und worauf ich achten muss. Man trägt ab dem Moment ja auch eine große Verantwortung. Ich habe mich gefragt, ob und wie ich Sex haben darf. Kann ich meinen Partner noch küssen oder kuscheln? Die Fragen kamen mir als erstes in den Kopf. Aber ich habe mich auch gefragt, ob ich damit gut leben kann. Das waren schon viele Fragen, die mir durch den Kopf gegangen sind. Ich wusste über das HIV nichts.
KURT: HIV ist in unserer Gesellschaft ja auch bis heute noch ein Tabuthema. Wie schwer fällt es dir, Menschen von deiner HIV-Infektion zu erzählen?
Murat: Sehr schwer. Ich fände es toll, wenn ich offener damit sein könnte. Aber so weit bin ich noch nicht. Ich kann noch nicht so vielen Personen vertrauen. Bisher konnte ich es nur fünf Personen sagen.
KURT: Das ist also noch eine große Herausforderung für dich. Wie hast du es ihnen denn gesagt?
Murat: Ich habe vorher lange überlegt, wie ich das angehe. Du weißt nicht, wie du es Leuten erzählen sollst. Man weiß ja nie, wie sie reagieren. Also habe ich mich vorher gefragt, sag’ ich es ihnen direkt oder bereite ich sie langsam darauf vor? Man will die Leute ja auch nicht überrumpeln. Aber bisher habe ich es immer so gemacht, dass ich versucht habe, langsam zum Thema zu kommen und über eine dritte Person einzusteigen. Also ich sage dann „Stell dir mal vor, diese Person hätte HIV“ und dann warte ich ab, wie die Person reagiert und schaue, ob ich weiter gehen soll.
KURT: Wenn du es den Personen sagst, wie sind die Reaktionen bisher gewesen?
Murat: Ganz unterschiedlich. Die einen haben richtig gut reagiert und waren offen. Die anderen waren sehr komisch und haben sofort angefangen, Fragen zu stellen. Warst du schon beim Arzt? Nimmst du deine Tabletten? Ein bisschen so als würden sie sich über einen stellen wollen. Das hat mich schon verletzt, weil ich das Gefühl hatte, als erwachsener Mensch nicht mehr ernst genommen zu werden.
KURT: Deinen Eltern hast du bisher noch nicht von deiner Infektion erzählen können. Warum nicht?
Murat: Meine Eltern kommen aus Serbien und Albanien. Sie sind sehr konservativ eingestellt und würden das niemals akzeptieren. Sie wissen auch seit Jahren, dass ich homosexuell bin und sprechen einfach nicht darüber. Weil sie es nicht wahrhaben wollen. So wie viele Menschen in kleinen Orten nicht. Deshalb bin ich auch von Velbert nach Essen gezogen. Ich habe das Gefühl, die Menschen in den größeren Städten haben nicht so viele Vorurteile.
KURT: Welche Vorurteile dir gegenüber hast du denn bisher erlebt?
Murat: Vor allem dass viele Personen denken, als HIV-positiver Mensch würde ich einfach bewusst Leute anstecken. Dann raten sie mir, das bloß nicht zu machen. Dabei ist das absoluter Quatsch. Ich würde niemals bewusst einen Menschen verletzten wollen. Und ich kenne auch niemanden, der das machen würde. Das verletzt einen natürlich. Vor allem weil man auch anders behandelt wird und die Leute plötzlich Berührungsängste haben.
KURT: Was würdest du dir stattdessen wünschen?
Murat: Ich will, dass die Leute sich mit dem Thema auseinandersetzen. Dass sie nicht sofort Vorurteile haben. Sie können ja fragen, wenn sie etwas nicht wissen, aber nicht sofort vom Schlimmsten ausgehen. Ich glaube, das wäre schon besser.