Sag Mal Prof., wie nehmen wir Zeit wahr?

Regelmäßig fragen wir hier die, die uns im Hörsaal die Welt erklären: unsere Professor*innen und Doktorand*innen. Können sie uns wohl auch alltägliche Fragen beantworten? Sag mal, Prof, wie nehmen wir eigentlich Zeit wahr? Dieses Mal antwortet Prof. Joachim Haß. Er forscht an der Fachhochschule Heidelberg zu diesem Thema.

Zeit ist ein interessantes Phänomen. Mal kommt es uns vor, als würde sie schleichen, mal vergeht sie schnell wie ein Sprint. Unseren inneren biologischen Rhythmus nennt man allgemeinsprachlich auch innere Uhr. Das Ticken dieser Uhr bestimmt, wie schnell wir Zeit wahrnehmen. Und das kann sehr unterschiedlich sein. Abhängig ist unsere Wahrnehmung davon, ob wir die Zeit im Moment selbst wahrnehmen oder uns an Momente erinnern. Die Erinnerung an Momente, die Wochen, Monate oder Jahre zurückliegen, verzerrt unsere Zeitwahrnehmung. So kommt uns unsere Kindheit viel länger vor als sie eigentlich war. Das liegt daran, dass wir als Kinder viele neuen Eindrücke und Erfahrungen gesammelt haben. Diese strecken die gefühlte Zeit. Als Erwachsene haben wir bereits viel Erfahrung und viele Erinnerungen, es kommt immer nur ein bisschen Neues dazu – die Zeit verfliegt.

Prof. Joachim Haß, Foto: SRH Hochschule Heidelberg

Die Frage, warum wir Zeit im Moment unterschiedlich einschätzen, ist schwieriger. Die kurze Antwort: Wir wissen noch nicht, wie Zeitempfinden im Gehirn funktioniert. Es gibt verschiedene Theorien. Was wir wissen: Die Zeitwahrnehmung funktioniert nicht wie andere Fähigkeiten. Oft ist eine Hirnregion für eine konkrete Fähigkeit zuständig: für die Sprache das Broca-Areal, für den Gleichgewichtssinn der Hirnstamm. Das Zeitempfinden funktioniert anders. Es gibt viele zeitabhängige Prozesse im Gehirn, die hierfür genutzt werden können und die überall im Gehirn stattfinden. Das hat den Vorteil: Wenn ein Mechanismus ausfällt, gibt es genügend andere, die die Zeit schätzen können. Diese Schätzung ist vielleicht etwas ungenauer, aber wir können unserer Zeitwahrnehmung nicht verlieren.

Eine der Aufgaben für mich und mein Forschungsteam ist die Suche nach einer Struktur, die das alles verbindet. Denn wenn verschiedene Areale und Mechanismen Zeit-Informationen sammeln, muss es eine Sammelstelle geben.

Anatomisch würde es Sinn ergeben, wenn diese Struktur das Striatum ist. Denn in dieser Schaltstelle im Gehirn laufen viele Nervenbahnen aus unterschiedlichen Regionen zusammen. Wir nutzen in der Forschung unterschiedliche Modelle, um die Zeitwahrnehmung zu erklären. Um herauszufinden, welches das richtige ist, orientieren wir uns an dem, was wir kennen. Dazu gehört die Wirkung von Dopamin. Das ist nicht nur das klassische Glückshormon. Als das wirkt es in einem Teil des Gehirns. Wenn es jedoch in dem evolutionär später entwickeltem Bereich des Gehirns wirkt, dem präfrontalen Cortex, erhält es andere Aufgaben. Dopamin bestimmt hier nicht die Gefühle, sondern unter anderem die Zeitwahrnehmung: Wenn dort bestimmte, auf Dopamin spezialisierte Rezeptoren aktiviert werden, vergeht die Zeit für uns langsamer. Kann ein Modelle diesen und andere Effekt zuverlässig abbilden, können wir hoffen, dem Mechanismus der Zeitwahrnehmung damit ein Stück näher gekommen zu sein.

Beitragsbild: Nile / Pixabay

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