Gönnt euch Weitsicht: Was Bildung & Co. mit unseren Augen machen

Die Kurzsichtigkeit nimmt weltweit stark zu, besonders in Asien. Dahinter stecken intensives Lernen, der ständige Blick auf Computer und Handys und dass moderne Menschen immer weniger Zeit draußen verbringen. Was helfen kann – ein Essay.

Macht ihr euch Gedanken darüber, ob ihr euren Augen beim Lernen genügend Pausen gönnt? Die meisten von uns tun das nicht. Wir verbringen Stunden am Handy, Tablet oder Computer, ohne uns zu fragen, was das mit unserem Sehorgan macht.

Ursprünglich sollte dies ein Text über die Auswirkungen von Handys und Computern auf unsere Augen werden. Im Verlauf der Recherche wurde aber klar, dass es eigentlich um Kurzsichtigkeit geht, die immer weiter zunimmt und global ein massives Gesundheitsproblem ist.

In Südostasien ist die Situation besonders ernst. Dort gibt es eine regelrechte Epidemie der Kurzsichtigkeit: 80 bis 90 Prozent der jungen Erwachsenen sind davon betroffen, 10 bis 20 Prozent von ihnen sogar schwer. Viel lesen in der Nähe – egal ob im Buch oder auf Handy und Laptop – und wenig Tageslicht führen dazu, dass immer mehr Menschen diese Sehschwäche entwickeln. Das Problem: Menschen, die stark kurzsichtig sind, können Augenprobleme bekommen und sogar blind werden.

Wenn Wörter in der Ferne verschwimmen

Professor Dr. med. Horst Helbig. Foto: Horst Helbig

„Kurzsichtige können in der Nähe gut, aber in der Entfernung ohne Korrektur, also ohne Brille, schlecht sehen“, erklärt Professor Horst Helbig. Er ist Direktor der Universitäts-Augenklinik in Regensburg und Pressesprecher der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG), der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Augenheilkunde in Deutschland.

Bei Kurzsichtigkeit verschwimmen geschriebene Wörter auf Tafeln in der Schule oder Uni und Gegenstände in weiter Ferne werden auf der Netzhaut nicht mehr scharf abgebildet. Brillen und Kontaktlinsen helfen. John Lennon, Mahatma Gandhi, Harry Potter und Taylor Swift waren beziehungsweise sind kurzsichtig. Taylor Swift zum Beispiel hat sich ihre Augen deswegen lasern lassen. Auch das ist unter bestimmten Bedingungen möglich.

Hauptverursacher: Menschliche Verhalten

Ab einem bestimmten Grad der Kurzsichtigkeit können ernsthafte Probleme auftreten. Denn hohe Dioptrienwerte sind keine Lappalie: Der Druck in den Augen kann steigen, die Linse trüb werden oder Teile der Netzhaut können sich ablösen. Einige Menschen werden sogar blind. „Das sind alles echte medizinische Probleme. Das sollte man nicht vergessen, wenn man über Kurzsichtigkeit redet“, betont Helbig.

Um gegensteuern zu können, müssen wir verstehen, woher Kurzsichtigkeit kommt. Vor allem zwei Faktoren spielen dabei eine Rolle: das steigende Bildungsniveau und unser Indoor-Lebensstil. Statt im Freien zu sein, lernen und lesen wir viel und arbeiten an Laptops, Handys und Computern – und das alles auch noch oft bei schlechtem Licht. Selten stecken Augenkrankheiten hinter der Kurzsichtigkeit.

Problematisch: Der dauerhafte Blick in die Nähe. Foto: Pixabay/Stocksnap

Hoher Preis für Bildung und urbanen Lebensstil

Auch die Gene spielen eine Rolle. „Wer kurzsichtige Eltern hat, hat ein erhöhtes Risiko“, erklärt Helbig. Außerdem scheinen Menschen in verschiedenen Regionen unterschiedlich empfindlich zu sein. So sind „zum Beispiel in Asien, in Taiwan, in Korea wesentlich mehr Menschen kurzsichtig als in Mitteleuropa“, sagt Helbig. Die Gene gelten dabei als Mit-, aber nicht als Hauptverursacher der Kurzsichtigkeit.

Einige Menschen zahlen für diesen urbanen Lebensstil einen hohen Preis. Schwer kurzsichtige Menschen sehen schon in der näheren Umgebung die Dinge nicht mehr scharf. Sie erkennen die eigenen Kinder im Freibad nicht und finden die Freundin in der Sauna nicht wieder. Ich spreche aus Erfahrung. Wer eine Sehschwäche von mindestens minus fünf bis minus sechs Dioptrien hat, hat ein höheres Risiko für eben solche Folgekrankheiten an den Augen.

Epidemie der Kurzsichtigkeit in Südostasien

Wenn die Menschheit so weitermacht, werden die Zahlen weltweit weiter steigen. Für einen Teil der Menschen auf der Welt bedeutet das, dass sie langfristig blind werden. So soll bis 2050 jeder zweite Mensch auf der Welt kurzsichtig sein, jeder Zehnte schwer. Im Vergleich zum Jahr 2000 ist das ein großer Sprung. Damals waren „nur“ knapp 23 Prozent der Menschen kurzsichtig, 2,7 Prozent davon schwer. Das zeigt eine große Übersichtsstudie von 2016, in der Wissenschaftler*innen Daten von gut zwei Millionen Menschen über mehrere Jahrzehnte ausgewertet haben.

In Ost- und Südostasien explodieren die Zahlen für Kurzsichtigkeit dabei regelrecht. Auch hier wissen die meisten Kinder und Jugendlichen wahrscheinlich nicht, dass ihr Lebensstil das Problem mit verursacht und befeuert. Vermutlich kommen dabei mehrere Ursachen zusammen: super strenge Bildungssysteme mit noch mehr Lernstoff als bei uns, ein Leben in überfüllten und lauten Megastädten, das sich fast nur drinnen abspielt, und eine genetische Veranlagung.

Immer mehr Menschen werden kurzsichtig. Grafik: Susanne Endres, adaptiert nach Holden et al. (2016).

Zahlen in Deutschland: weniger dramatisch, aber trotzdem hoch

In Deutschland hingegen scheinen die Zahlen in den vergangenen Jahrzehnten stabil geblieben zu sein. Denn „was in Asien in den letzten, wenigen Jahrzehnten stattgefunden hat – der Übergang zu einem urbanen Lebensstil mit viel Naharbeit und viel Lesen – das war in Deutschland vor 50, 60 Jahren der Fall“, erklärt Helbig.  Damals wandelte sich der Alltag vieler Menschen hin zu einem Leben in Büroräumen.

Expert*innen gehen davon aus, dass aktuell in Deutschland circa 15 Prozent der Kinder bis zum Ende der vierten Klasse und 45 Prozent der Menschen bis zum Alter von 25 Jahren kurzsichtig sind. Diese Zahlen stammen aus verschiedenen europäischen Studien, unter anderem aus einer Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS). Darin haben Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen in Deutschland in regelmäßigen Abständen die Brillenstärke von Kindern abgefragt, zuletzt 2014 bis 2017.

Doch auch wenn der „Boom der Kurzsichtigkeit“ bei uns vorbei zu sein scheint: Ein Plateau, auf dem fast jede*r Zweite bis zum Alter von 25 Jahren betroffen ist, ist immer noch viel zu hoch.

Gestörtes Augenwachstum und lange Augen: Wie Kurzsichtigkeit entsteht

Auch wenn Ärzt*innen die Augen bei den U-Untersuchungen, den Vorsorgeuntersuchungen von Kindern, kontrollieren: Es fehlen staatliche Aufklärungskampagnen, wie es sie zum Rauchen, zu AIDS, Cannabis, Corona und vielen anderen Themen gegeben hat und gibt. Viele Eltern und Menschen wissen nicht, wie eine Kurzsichtigkeit überhaupt entsteht und dass sich das kindliche Auge über viele Jahre entwickelt und wächst.

Denn: Hinter der Kurzsichtigkeit steckt meist eine Störung des Augenwachstums. Der Augapfel bei Neugeborenen hat noch nicht die richtige Größe, er ist zu kurz. Im Verlauf entwickelt sich mit den Jahren eine normale Sehkraft. Wir steuern das Wachstum durch die Bilder, die wir dem kindlichen Auge anbieten – also durch visuelle Reize, die auf die Netzhaut treffen. Es macht also einen Unterschied, ob Kinder nur in der Wohnung spielen und am Tablet Kinderserien schauen oder ob sie auf dem Spielplatz toben.

Die Rolle der Netzhaut
Lange war umstritten, ob die Netzhaut über die Bildeindrücke wirklich das Längenwachstum des Augapfels reguliert. Inzwischen gibt es viele Studien, die diesen Zusammenhang getestet und bestätigt haben. Hieraus könnten sich Ansätze für neue Behandlungen ergeben. Ein Beispiel sind spezielle Kontaktlinsen, über die Forschende versuchen, das Augenwachstum zu steuern.

Die sensibelste Phase, in der sich eine Kurzsichtigkeit entwickeln kann, sind die Jahre des Augenwachstums, also vor allem bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei jungen Erwachsenen. Wenn wir während dieser Phase ständig in die Nähe schauen, stellt sich das Auge darauf ein, nur noch Bilder in der Nähe scharf sehen zu müssen. Es passt sein Wachstum an und vernachlässigt die Bilder in der Ferne. Übrig bleibt ein zu langes, kurzsichtiges Auge.

Kind, du verdirbst dir die Augen: Warum die Oma Recht hatte

Eine Kurzsichtigkeit kann sich wahrscheinlich auch bei jungen Erwachsenen noch verschlechtern – besonders bei Studierenden, die ihre Augen stark beanspruchen. „Das haben Studenten immer wieder erzählt: Dass sie, wenn sie sich aufs Examen vorbereitet haben und den ganzen Tag nichts anderes gemacht haben als zu lernen und zu lesen, danach eine neue Brille brauchten“, erklärt Helbig und fährt fort: „Das weiß jeder Kurzsichtige, der mit Anfang 20 noch ständig neue Brillen braucht. Auch hier ist das Augenwachstum nicht komplett abgeschlossen.“

Auch wenig Licht ist schlecht für die Entwicklung der Augen. Foto: Pixabay/Sabrina Eickhoff

Wenngleich nicht bei vielen, kann sich bei einigen Menschen die Größe des Augapfels sogar noch verändern, wenn sie 50 oder 60 Jahre alt sind. Einen klaren zeitlichen Cut-Off gibt es nicht. Und auch gutes Licht spielt eine wichtige Rolle, erklärt Helbig. „Lange haben wir es nicht geglaubt, aber inzwischen wissen wir, dass die Oma Recht hatte, wenn sie gesagt hat, dass Lesen nachts unter der Bettdecke schlecht für die Augen ist“, sagt Helbig und fügt hinzu: „Denn sowohl das Nahsehen als auch die schlechte Beleuchtung fördern Kurzsichtigkeit.“

Ob die zunehmende Screen-Time einen Einfluss auf die Entwicklung der Kurzsichtigkeit hat, ist unklar. Manche Studien zeigen Zusammenhänge, andere nicht. Auf die Frage, ob es einen Unterschied macht, ob jemand ein Buch liest oder am Handy ist, antwortet Helbig: „Das ist alles Spekulation, da gibt es keine guten Daten. Es ist extrem schwierig, so etwas wissenschaftlich sauber zu untersuchen, weil man eine große Stichprobe braucht und die Lebenswirklichkeit über Jahrzehnte abbilden muss.“

Expert*innen empfehlen: Zwei Stunden raus und ans Licht

Was können wir tun, um die steigende Zahl kurzsichtiger junger Menschen zu stoppen oder sogar umzukehren? Die Antwort ist einfach: Pause machen, raus an die Luft und ans Licht gehen und den Blick schweifen lassen. Zwei Stunden am Tag im Freien helfen schon.

Zwei Stunden Zeit draußen sind auch das, was Expert*innen für Kinder und Jugendliche empfehlen. Eine Studie aus Australien belegt, dass das Risiko für Kurzsichtigkeit bei Kindern und 15- bis 26-Jährigen dadurch halbiert werden konnte. Auch Helbig bestätigt: „Sowohl in Asien als auch in Europa haben Studien gezeigt, dass, wenn Kinder jeden Tag ein Stündchen draußen spielen – also gutes Licht bekommen und in die Ferne gucken – dass das einen nachweisbaren Effekt auf die Entwicklung der Kurzsichtigkeit hat.“

Taiwan, das unter massiver Kurzsichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen leidet, hat daher ein Programm ins Leben gerufen, in dem Schulkinder eben diese 120 Minuten am Tag nach draußen geschickt werden sollen. Es heißt Tian-Tian-120, übersetzt „Jeden Tag 120“. Kitas und Schulen müssen dafür gut ausgestattet sein und über entsprechende Spielplätze und Außenbereiche verfügen.

Hilft Augentraining?
Auch wenn es Gerüchte darüber gibt, dass Augentraining helfen könnte, so stimmt das leider nicht. Helbig sagt dazu: „Die Vorstellung, dass man sich mit Augentraining eine Brille oder das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit ersparen kann, gibt es seit weit über 100 Jahren. Dazu zählen auch die Augenübungen nach Bates (Anm. der Redaktion: einem amerikanischen Arzt Anfang des 20. Jahrhunderts). Sie haben damals nicht funktioniert, und sie funktionieren heute nicht.“

Eines ist klar: Kurzsichtigkeit stellt global und auch in Deutschland ein großes Problem dar. So lautet mein Appell an alle, besonders an Studierende und junge Erwachsene: Folgt Omas Rat. Geht raus an die frische Luft. Gönnt euren Augen Weitblick und Tageslicht. Und wenn ihr später Kinder habt, lasst sie draußen spielen.

 

Beitragsbild: Pixabay/Tobias Dahlberg

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