Sude Dogan ist auf Zypern geboren und aufgewachsen. Ihre Oma kommt aus der Türkei. Deswegen hat sie keine international anerkannte Staatsbürgerschaft. Dieses „Mixed Marriage Problem“ ihrer Generation versucht Sude zu lösen.
Die belebte Einkaufsstraße erstrahlt in der Mittagssonne. Im Schatten eines Sonnenschirms bietet ein Verkäufer den vorbeischlendernden Touristen Baklava zum Probieren an, in der Hoffnung, sie in seinen Laden zu locken. Nur eines unterbricht die Urlaubsidylle der Ledrastraße in Nikosia: Wenige Meter entfernt, direkt gegenüber der Theke voller Köstlichkeiten befinden sich kleine Häuschen. Darin sitzen Polizisten und Grenzbeamte. An der Wand hängen Schilder, die das Fotografieren verbieten. Vor den Häuschen bilden sich Schlangen von Menschen, die in ihren Portemonnaies nach ihrem Pass kramen. An ihnen geht eine Frau vorbei. Sude Dogan muss zu einem anderen Schalter als die meisten hier. Denn die 23-Jährige ist keine EU-Bürgerin und auch nicht Bürgerin des Staates, in den sie eintreten will – in die Republik Zypern. Den Grenzbeamten zeigt sie den einzigen Pass, den sie hat. Es ist das Ausweisdokument der Türkischen Republik Nordzypern (TRNC). Ein Pass, der international nicht als solcher anerkannt wird. Denn die TRNC ist ein de-facto Staat, der nur von der Türkei als solcher anerkannt wird. Aus Sicht der internationalen Staatengemeinschaft ist die TRNC ein Besatzungsregime, dass den nördlichen Teil der Insel seit 1974 kontrolliert.
Sudes Pass wird kontrolliert, sie darf passieren. Das Prozedere wiederholt sich 50 Meter weiter. Dort sprechen die Grenzbeamten griechisch. Sude darf in die Republik Zypern einreisen. Sie überquert die Grenze mehrmals täglich. Denn sie wohnt im nördlichen Teil Nikosias, studiert aber im südlichen Teil, den sie nun betritt.
Sobald Sude an den Kontrollen vorbei ist, zeigt sich wieder die belebte Ledrastraße. Es sieht fast genauso aus wie auf der anderen Seite. Zwischen Boutiquen und Souvenirshops laden kleine Cafés zum Verweilen ein. Tourist*innen und Einheimische füllen die Straße. Auf dieser Seite sind die Preise in Euro ausgezeichnet, auf der anderen Seite sind es türkische Lira. Eine Einkaufsstraße geteilt in zwei Währungseinheiten und zwei Sprachen. Eine Flaniermeile unterbrochen durch etwa 50 Meter Pufferzone. Diese zieht sich über die ganze Insel und teilt den Süden vom besetzten Norden. Kontrolliert wird die Pufferzone von der UN. Der Checkpoint an der Ledrastraße ist einer von insgesamt neun Grenzübergängen.
Dass Sude nicht so einfach reisen kann wie ihre Familie, hat sie schon als Kind gemerkt. Sudes Vater ist türkischer Staatsbürger, obwohl er auf Zypern geboren ist. Sein Vater ist türkischer Zyprer. Nur Sudes Großmutter kommt aus der Türkei. Sie kam als junge Frau nach Nordzypern. Das war nach 1974, daher gilt sie als illegale Siedlerin.Sudes Vater hätte die zyprische Staatsbürgerschaft noch bekommen können. Doch er hat sie nicht beantragt: „Mein Vater hat sich nie als Zyprer bezeichnet. Er hat sich immer als Türke gesehen. Er war General in der türkischen Armee, deshalb wollte er nie die Staatsbürgerschaft der Republik Zypern. Er hat sie nie bekommen.“
Jetzt kämpft Sude um eine Staatsbürgerschaft, „Ich nenne mich selbst Zyprerin, denn ich bin in Zypern geboren und aufgewachsen. Wenn ich türkisch spreche, spreche ich einen zyprischen Dialekt. Ich unterscheide mich nicht von einem normalen Zyprer. Aber 25 Prozent meines Blutes stammen von meiner Siedler-Großmutter. Und das schafft ein Problem.“
Dieses Problem nennt sie das „Mixed Marriage Problem“. Mixed Marriages sind Ehen zwischen meist türkischen Zyprern und Türken, die der Staat als illegale Siedler ansieht. Die Kinder dieser Ehen können aufgrund einer gesetzlichen Regelung nicht die Staatsbürgerschaft der Republik Zypern erlangen. Zum Problem wird das, weil diese Kinder auf Zypern geboren und aufgewachsen sind und auch ihre Familie zu großem Teil zyprisch ist.
So war es auch bei Sude: „Meine Mutter und mein Vater ließen sich scheiden, als ich ein Jahr alt war. Ich wuchs also mit einem Stiefvater auf und der ist Zyprer. Meine Stiefschwester ist Zyprerin. Meine Mutter ist Zyprerin. Aber ich bin es leider nicht.“
Einem Bericht der Human Rights Platform zufolge, einem Zusammenschluss aus verschiedenen zyprischen NGOs, warten derzeit etwa 4 000 türkische Zyprer auf die Bearbeitung ihrer Staatsbürgerschafts-Anträge. Im Januar 2024 kündigte der zyprische Präsident Nicos Christodoulides an, dass diese Anträge nun bearbeitet werden sollen. Das istseit langem nicht passiert. „Mein Antrag ist seit zwanzig Jahren unbearbeitet“, erzählt Sude.
Den Antrag hat ihre Mutter für sie bereits im Jahr 2003 gestellt, als sie noch ein Baby war. Damals wurden das erste Mal die Grenzübergänge zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil der Insel geöffnet. Ein Jahr zuvor, im Jahr 2002, wurde in der Republik Zypern das Civil Registry Law verabschiedet. Das gibt vor, wer Staatsbürger der Republik Zypern werden darf. Kinder, bei denen ein Elternteil die Staatsbürgerschaft der Republik Zypern besitzt, haben automatisch ein Anrecht auf diese. Allerdings sieht das Gesetz eine Einschränkung vor. Wenn ein Elternteil illegal nach Zypern eingereist ist, kann das Kind die Staatsbürgerschaft nur mit der Zustimmung des Ministerrats bekommen. Illegal eingereist ist nach dem Verständnis der Republik Zypern jeder, der nach der Besetzung 1974 über den nördlichen Teil auf die Insel gekommen ist.
Im Jahr 2007 wurden Kriterien festgelegt, nach denen der Ministerrat über die Staatsbürgerschaftsanträge entscheidet. Aus diesen Kriterien ergibt sich Sudes Problem: Kinder, bei denen ein Elternteil die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, bekommen keine Staatsbürgerschaft der Republik Zypern.
Dass es diese Regelung überhaupt gibt, habe laut Jan Asmussen etwas mit dem Zypern-Problem zu tun. Der Politikwissenschaftler hat viele Jahre auf Zypern gelebt und geforscht. Bei der Regelung handele es sich um eine rechtliche Grauzone, sagt Asmussen. Laut seiner Auffassung müsste die Republik Zypern eigentlich allen Kindern aus Mixed Marriages das Staatsbürgerschaftsrecht gewähren. „Sie tut es aber nicht, weil sie den dauerhaften Zustand der Teilung der Insel dadurch nicht legitimieren will“, meint Asmussen. „Es geht gar nicht um die Menschen, sondern es geht hier um eine grundsätzlich andere Rechtsposition.“
Einen Ausweg aus der Situation bietet die Türkei, sagt Sude. „Alle türkischen Zyprer können die türkische Staatsbürgerschaft bekommen.“ Sie hat sich allerdings nie darum bemüht. Zum einen, weil sie sich nicht als Türkin, sondern als Zyprerin identifiziert. Zum anderen, weil sie „verdammt viel Angst hatte, die türkische Staatsbürgerschaft zu bekommen.“ Denn sie sei seit der Schule in Politik involviert und setze sich für die zyprische Einheit ein. „Ich hatte Angst, die Staatsbürgerschaft zu bekommen, weil ich dachte, dass sie mich in der Türkei ins Gefängnis stecken.“
Im Jahr 2023 nennt Sude in einer Reportage des paneuropäischen Medienprojekts ENTR die TRNC ein Besatzungsregime. Daraufhin erreichen sie Anfeindungen von türkischen Nationalisten. Seitdem hat sie Angst in die Türkei einzureisen, geschweige denn einen Pass zu beantragen. Das verschärft ihr Problem. „Ich bin also praktisch staatenlos. Ich bin gefangen in Zypern“, sagt sie.
Die Mixed Marriage Kinder stehen Sudes Ansicht nach vor der Wahl, entweder de-facto staatenlos zu bleiben oder die türkische Staatsbürgerschaft anzunehmen – die Staatsbürgerschaft eines Landes, zu dem sie kaum Bezug haben, außer dass sie die gleiche Sprache sprechen und eines ihrer Elternteile dort herkommt.
„Es gibt eine riesige Identitätskrise besonders im Nordteil von Zypern“, sagt Sude, „Manche identifizieren sich als Zyprer, manche als türkische Zyprer, manche als türkisch-sprechende Zyprer – so wie ich – und manche als Türken. In der Republik Zypern sagen sie mir, ich sei Türkin. In der Türkei sagen sie, ich sei Zyprerin. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin?“, fragt sie sich.
Eigentlich kennt sie die Antwort. „Ich bin Zyprerin.“ Doch ihr fehlt der Pass. Und das spürt sie im Alltag. „Alles um mich rum zeigt mir, dass ich keine Zyprerin bin.“ Es geht um mehr als die Formalia. Es geht um Bürgerrechte in der Republik Zypern. „Ich kann hier kein Bankkonto eröffnen, ich kann hier keinen Job finden, ich kann hier nichts bezahlen“, sagt sie. Außerdem könne Sie nichts EU-Bezogenes machen.
Besonders deutlich merke sie es in der Universität. Eingeschrieben ist sie als internationale Studentin. Dabei fühlt sie sich gar nicht so anders: „Ich gehe in dieselben Kurse. Ich bin im selben Land geboren. Ich lebe im selben Land. Ich spreche denselben verdammten Dialekt. Aber nur weil meine Großmutter woanders geboren wurde, bin ich anders als die. Ich kann hier nicht leben. Also nutze ich jeden Tag die Checkpoints, um zur Uni zu kommen.“
Während die Tourist*innen bummeln, geht Sude Dogan zügig die Ledrastraße entlang. Sie ist auf dem Weg zur Immigrations- und Einwanderungsbehörde, um nach dem Status ihrer Einbürgerung zu fragen. Mal wieder. Den Checkpoint an der Ledrastraße hat sie hinter sich gelassen. Die geschäftige Fußgängerzone mündet am Ende in einen großen modernen Platz, den sie überquert. Danach biegt sie nach links ein in eine große Hauptstraße. Das Kameraklicken der Tourist*innen wird eingetauscht gegen das Dröhnen der Motoren. Einige Kilometer geht es die Straße hoch, bis sie ein großes Bürogebäude erreicht.
Sude geht um das Gebäude herum. Dort findet sich ein kleines Häuschen für das Sicherheitspersonal. Der zugehörige Security-Mann sitzt allerdings nicht darin, sondern steht davor in der Sonne. Er hat weniger zu tun als seine Kollegen am Grenzübergang. Bei ihm schlängeln sich keine Menschen, er muss auch keine Pässe kontrollieren. Sude erklärt dem Security-Mann kurz ihr Anliegen. Er lächelt müde und lässt sie durch. Vielleicht ahnt er, dass ihr Anliegen hoffnungslos ist.
Im Gebäude ist es deutlich kühler und dunkler als draußen in der zyprischen Mittagssonne. Ein Flur führt zu zwei großen offenen Räumen. Sie geht zu einem Schalter, an dem eine türkischsprachige Mitarbeiterin sitzt. Nach fünf Minuten ist das Gespräch beendet. Die Mitarbeiterin sei informiert worden, nichts mit den Anträgen von „Mixed Marriage“ Kindern zu machen. Sude wirkt weder enttäuscht noch überrascht. Solche Aussagen sind für sie zur Gewohnheit geworden.
Weil sie das aber nicht länger hinnehmen will, hat sie im April 2022 die NGO „Movement for Resolution of Mixed Marriage Problem“ gegründet. Inzwischen habe diese knapp 2000 Unterstützer und sieben Exekutivmitglieder. „Ich habe nie gedacht, dass ich so sehr in Politik involviert werde“, sagt sie, „ich dachte, ich löse das Problem in einem Jahr oder so. Und jetzt finde ich mich mitten in der Politik wieder und mitten in einem Jurastudium.“ Das Studium hat Sude begonnen, um das Problem besser zu verstehen. Auch wenn es länger dauert, als sie zuerst dachte, ist sie entschlossen, weiter für eine Lösung zu kämpfen.
Jan Asmussen hat eine Vermutung, warum es so lange dauert. „Diese Leute haben schlicht keine Lobby.“ Das sei seiner Einschätzung nach auch der Grund dafür, warum bis jetzt nichts an der Regelung geändert wurde: „Die Leute, die keine Staatsbürger der Republik Zypern sind und keine Pässe bekommen, sind auch keine Wähler. Und das heißt, es gibt keinen Grund aus Sicht irgendeiner politischen Partei in Südzypern, das zu ändern.“
Auch wenn Sude weiß, dass sie das Problem nicht zu 100 Prozent selber lösen kann, will sie zumindest dazu beitragen, dass „Mixed Marriage“ Kinder wissen, wie sie die Staatsbürgerschaft bekommen. „Ich habe Angst, dass, wenn ich aufgebe, niemand mehr den Kampf führt“, sagt sie. „Ich werde oft müde, ich kriege oft Angst, aber ich will nicht, dass andere Kinder auf dieselben Probleme stoßen. Deshalb tue ich alles, was ich kann“, sagt sie.
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg und die Zeit rennt. „Ich habe nur noch drei Jahre, bis ich meinen Abschluss mache“, sagt sie. Was sie danach macht, weiß sie noch nicht. Im Norden könne sie keinen Job bekommen, weil sie öffentlich von der Besetzung Zyperns spricht. „Und leider kann ich in der Republik Zypern keinen Job finden, weil ich die Staatsbürgerschaft nicht habe.“
Sie würde gerne Politikerin werden, nach dem „Mixed Marriage Problem“ auch noch das Zypern-Problem lösen und die Teilung der Insel überwinden. „Dieses Problem ist wie eine Miniatur des Zypern-Konflikts“, meint sie. Sie träumt davon, irgendwann eine der ersten türkisch-zyprischen Parlamentsabgeordneten zu sein. Dafür braucht sie als erstes die Staatsbürgerschaft, auf die sie seit 20 Jahren wartet. Die Staatsbürgerschaft ihres Heimatlandes. Bis es soweit ist, überquert sie jeden Tag die Pufferzone.