Henning Ullrich ist 30 Jahre alt, sehbehindert und studiert „Praktische Informatik“ in Dortmund. Als Kind konnte er noch Farben und Umrisse erkennen, heute nimmt er nur noch Licht wahr. Seit zehn Jahren begleitet ihn Hündin Hazel. Sie unterstützt ihn im Alltag und an der Fachhochschule.
„Hazel ist für mich wie eine enge Freundin.“
Gezielt und sicher geht Henning die Treppenstufen der Fachhochschule in Dortmund hinauf. Eng an seiner Seite läuft seine Labrador-Hündin Hazel. Mit einer Hand hält er ihre Leine fest, mit der anderen tastet er sich an den Wänden entlang. Mit Hazels Hilfe schafft er es ohne Probleme bis in die dritte Etage, wo heute seine Übung stattfindet. In dem Raum angekommen setzt sich Henning in die erste Reihe und packt seinen Laptop aus. Hazel legt sich neben seinen Stuhl und schläft kurz darauf ein. Es macht ihr anscheinend nichts aus, den gesamten Tag in der FH zu verbringen.
Gelegentlich schaut Hazel gelassen zu ihm hoch. „Das liegt in ihrem Wesen. Labradore sind sehr ruhige Tiere“, sagt Henning und schließt seine Kopfhörer und die Braillezeile an den Laptop an. Die Braillezeile ist ein längliches Ausgabegerät für Blinde, die eine Bildschirmzeile in Blindenschrift übersetzt. Dabei werden die einzelnen Buchstaben auf unterschiedlichen Punkten in einem Raster abgebildet. Henning benutzt sie vor allem dann, wenn die Datei viele Gleichungen enthält. Die Schrift hat er in der Blindenschule gelernt. „Sie ist nicht so schwer zu erlernen wie eine neue Sprache“, sagt der 30-Jährige. Für längere Texte verwendet er die Sprachausgabe.
Grafiken bereiten ihm Probleme
Bei dieser Übung erklärt der Professor vieles an der Tafel. Henning kann die Aufgaben nicht sehen. Als der Dozent eine Frage in den Raum stellt, meldet sich Henning dennoch – und gibt die richtige Antwort. „Ich kann der Übung gut folgen, weil mir klar ist, wie sie technisch funktionieren“, sagt er. Obwohl er die Gleichungen noch nie gesehen hat, kann er sich diese dennoch bildlich vorstellen. Auch Grafiken sind für ihn schwer zu verstehen, da die Braillezeile nur Informationen übersetzt, die als Text vorliegen. Deshalb muss er sie sich beschreiben lassen, zum Beispiel zu Hause von seiner Freundin, die an der TU Physik studiert.
Die Studierenden sollen nun eine Übung schriftlich lösen: Der Professor schreibt eine Aufgabe an die Tafel und liest währenddessen laut mit, damit Henning auf seinem Laptop mitschreiben kann. Anschließend rechnet Henning die Aufgabe aus. Dabei wechselt er immer wieder mit seinen Fingern zwischen der Tastatur und Braillezeile hin und her. Henning kontrolliert so, ob er alles richtig aufgeschrieben hat. Da er die Lösungen an der Wand nicht lesen kann, bittet er zwischendurch den Professor, seine Ergebnisse zu überprüfen. In der Übung sitzen weniger als zehn Studierende, deshalb kann dieser bei jedem einzeln kontrollieren.
Nicht in allen Kursen kann Henning so gut folgen. Eine Videovorlesung etwa kann er nicht besuchen. Stattdessen erhält er Einzelunterricht vom Professor. Das sei aber nicht der Normalfall, sagt er. In fast allen Fächern stellen die Professoren und Professorinnen die Skripte online, sodass Henning mit ihnen lernen kann. Auch bei Vorlesungen oder Übungen, in denen normalerweise keine Unterlagen hochgeladen werden, bekommt Henning welche. Bei Klausuren hat er zwei Möglichkeiten: entweder wird er schriftlich auf dem Laptop geprüft, während alle anderen mit der Hand schreiben, oder mündlich, wenn er die Aufgaben schlecht selbst bearbeiten kann.
Leitsysteme helfen im Alltag
Nach der Übung macht sich Henning auf den Weg nach Hause. Er wohnt mit seiner Freundin in Dortmund-Kirchderne. An der FH steigt er in den Bus – die Haltestelle ist nicht weit entfernt. Mittlerweile kann sich Henning auf dem Campus gut orientieren – dabei hilft ihm das Leitsystem. Mit seinem Blindenstock ertastet er die weißen Streifen auf dem Boden. „Die länglichen Rillen geben die Richtung vor, in die der Weg führt. Flächen mit Noppen weisen auf eine Besonderheit hin und werden auch Aufmerksamkeitsfelder genannt“, erklärt Henning. Eine Besonderheit könne zum Beispiel ein Fußgängerüberweg, eine Kreuzung von mehreren Leitlinien oder das obere beziehungsweise untere Ende einer Treppe sein.
Der Weg nach Hause ist für ihn unproblematisch. Schwieriger ist eher der Weg zur Fachhochschule: An der Haltestelle Emil-Figge-Straße muss er eine viel befahrene Straße überqueren. In der Mitte ist eine Verkehrsinsel, auf beiden Seiten fahren Autos. Henning kann hier nur seinen Ohren vertrauen, um zu wissen, ob die Straße frei ist – das Leitsystem und seine Hündin können ihm hier nicht helfen. „Wenn auf der einen Seite der Verkehr fließt, ist es schwierig zu hören, ob die andere frei ist“, sagt er. „Häufig sind da auch andere Studierende, die mir dann Bescheid geben, ob ein Auto kommt.“ An Ampeln ist es einfacher: „Viele haben unter dem Druckknopf einen Taster, der vibriert, wenn es grün ist.“
Henning kann nicht besser hören als andere Menschen, aber er kann mehr Details aus dem Gehörten filtern. Diese Fähigkeit hat er im Laufe der Zeit selbst entwickelt. Als Henning mit dem Studium begann, erarbeitete er sich mit einem Trainer in einem Mobilitätstraining einen Überblick über die Umgebung. Der Trainer zeigte ihm verschiedene Wege zu wichtigen Orten. Falls eine Strecke gesperrt ist, kann Henning so auf eine andere ausweichen.
Auch die TU Dortmund bietet für Behinderte und chronisch kranke Studierende einen Beratungsdienst an – mit einer offenen wöchentlichen Sprechstunde, sowie einem Beratungs-Chat.
Zuhause werden die Aufgaben aufgeteilt
Zuhause erhält Henning Unterstützung von seiner Freundin: Sie geht einkaufen, er macht dafür den Abwasch. Ein Einkauf im Supermarkt ist für Henning enorm schwierig, weil er die Lebensmittel nicht erkennt. Das Personal kann helfen, aber die hören manchmal nicht richtig zu, sagt er. „Dann wird das Stück mittelalter Gouda, den ich eigentlich haben wollte, zu einer Packung Scheiben mit jungem Gouda.“
Zurück in der gemeinsamen Wohnung arbeitet Henning oder liest zunächst etwas für seine Kurse. Erst danach kocht er mit seiner Freundin. Er kann das jedoch auch allein. Die beiden haben einen Herd mit analoger Steuerung, sodass Henning an der Schalterstellung merkt, ob der Herd an ist.
Mit seiner Freundin geht Henning am Wochenende auch zum Sport. Seit 2008 spielt er in seiner Freizeit Torball. Das Team gehört inzwischen zur Fußballabteilung des BVB. „Der Sport nimmt in meinem Leben einen großen Platz ein.“ Kameradschaft und Zusammenhalt seien ihm wichtig, so Henning. Nicht immer war klar, ob er mit seiner Einschränkung so gut zurechtkommen würde, wie jetzt. Als er ungefähr 17 Jahre alt war, bemerkte er, dass seine Augen schlechter wurden. Damals wusste er nicht, wie stark sich seine Augen noch verschlechtern würden. „Ich hatte keine Angst, aber ich hab mir Gedanken gemacht, wie weit das voranschreitet und ob ich damit klar kommen werde.“
Als Kind hat Henning dennoch fast alles gemacht, was andere Kinder auch konnten, obwohl seine Sehkraft bereits stark eingeschränkt war. „Meine Eltern wollten nicht, dass ich Fahrrad fahre. Im Nachhinein halte ich das für richtig, aber natürlich habe ich es trotzdem gemacht.“
Text und Fotos: Melina Gries