“Integration, Baby!” – Dortmunder Theater 2.0

Lange Monologe? Aufgebauschte Kostüme? Betroffenes, vor Pathos triefendes Theater? Das war gestern. Heute streift es bodenständig durch’s Unionviertel, spricht mit den Menschen statt über sie und verbindet Realität und Inszenierung.

Die Theatergruppe “pulk fiktion” experimentiert mit verschiedenen Darstellungsformen. Zusammen mit dem Kinder- und Jugendtheater (KJT) inszenieren sie „Integration, Baby!“ – ein Video-Walk, bei dem das Publikum zusammen mit dem Video in Echtzeit durch das Dortmunder Unionviertel spaziert und sich so Stück für Stück die Inszenierung selbst erläuft. Wie das geht? Ganz einfach mit Tablets und Kopfhörern. Zwei Zuschauer bekommen ein Tablet in die Hand, auf der das Video läuft. Über Kopfhörer bekommen sie Anweisungen, wo sie hinmüssen. Und die Schauspieler, die über das ganze Viertel verteilt sind, spielen das Gleiche jedes Mal für die Zweiergruppen.

Wie das aussieht? Einen ersten Eindruck gibt es hier im Video:

Die Geschichte: Wellensittich “Baby” ist Opa Firas davon geflogen und sucht ein neues Zuhause. Über diese Vogelmetapher wird dann das Thema Integration angepackt – ganz direkt und mit viel klarer Weisheit. Besonders schön dabei: Bei dem Video-Walk spielen sowohl Schauspieler des KJT, als auch geflüchtete und ungeflüchtete Jugendliche.

KURT Digital hat mit Clara Minckwitz, der Regiesseurin von “Integration, Baby!”, darüber gesprochen, was ein Video-Walk für Möglichkeiten bietet und auf welchem Stand modernes Theater ist.

Clara, worum geht es bei “Integration, Baby!”?

Ursprünglich kam vom KJT die Anregung, ob nicht mal alle zusammen etwas machen können. Also die Schauspieler, die Jugendlichen aus dem Jugendclub und die Jugendlichen aus der Gruppe, die aus Geflüchteten und nicht-Geflüchteten besteht. Wir haben den Begriff der Integration sehr weit gefasst. Also nicht nur die Integration von Geflüchteten, sondern auch die Integration nach innen, im Theater. Normalerweise spielen die Gruppen getrennt, hier machen alle zusammen etwas.

Regiesseurin Clara Minckwitz. Foto: Alina Simmelbauer

Warum habt ihr euch für einen Video-Walk durchs Viertel entschieden, warum kein klassisches Bühnenstück?

Pulk fiktion macht auch Bühnenstücke, aber wir arbeiten eben auch viel mit dem Einsatz von Medien. Am Video-Walk ist toll, dass die Leute, die da mitmachen, nicht nur auf der Bühne stehen. Man kann auch mit denen filmen, man bewegt sich durch den Raum, also durch den Stadtteil in diesem Fall, und erlebt die Sachen ganz anders. Der Walk ist für die Zuschauenden nicht interaktiv, trotzdem lernt man das Viertel von einer ganz anderen Seite kennen. Die Perspektive ist super interessant: Man fragt sich als Zuschauender, was gehört dazu und was nicht? Vieles ist natürlich geplant und getaktet, aber ganz viel macht auch einfach der Zufall.

Ist so ein Perspektivwechsel bei einem Bühnenstück im Theater nicht möglich?

Doch natürlich, das ist ja ein großer Teil dessen, was Theater macht. Aber das Format Video-Walk hat auch einen dokumentarischen Ansatz. Die Leute erzählen auch von sich selbst. Die Spieler sind eine Gruppe mit so krass verschiedenen Leuten, da kommen ganz verschiedene Meinungen aufeinander. Außerdem ist es cool, dass man als Zuschauer in Bewegung ist. Da denkt man ganz anders über Sachen nach! Dieses Format ist gar nicht besser oder schlechter als ein Bühnenstück. Es ist einfach eine andere Möglichkeit.

Ist es eine Möglichkeit, junge Menschen wieder mehr für das Theater zu begeistern?

Ich glaube es ist wichtig, junge Menschen nicht einfach als Kinder, sondern als vollwertige Zuschauer zu betrachten. Es ist natürlich schwierig zu steuern, wer in das Stück reingeht und wer nicht. Aber für junge Menschen ist der Video-Walk mit dem Tablet natürlich viel weniger eine Überforderung, als für ältere Leute, die mit Tablets im Alltag gar nichts zu tun haben. Junge Menschen drehen viel mehr auch selbst Videos mit dem Handy, sind also vertraut damit, wie das funktioniert, wie man schneidet und so weiter.

Wie viele Medien kann ich denn einsetzen, bevor es die Zuschauer überfordert?

Das ist total unterschiedlich. Manchen ist schon ein Video zu viel, manchen sind unsere Videos viel zu wenig. Einige sind am Anfang überfordert, aber kommen dann mit der Zeit in das Tempo rein.

Mehr gefällig? Kein Problem! Gibts hier im Video:

Was war eure größte technische Panne?

Bei der Generalprobe, also einen Tag vor der Premiere, da war das Format der Videos falsch. Die waren so gestaucht. Klar, so was kann immer mal passieren. Wir mussten die Tablets also neu bespielen und die Generalprobe später beginnen. Aber nicht nur technisch kann was schief laufen. Der Walk ist ja draußen, wenn es also krass regnet, kann es nicht stattfinden. Wenn die Sonne zu doll spiegelt, sieht man nicht alles…

Warum habt ihr euch trotzdem dafür entschieden, es draußen stattfinden zu lassen?

Es ist so reizvoll, dass das Stück immer einzigartig ist. Im nächsten Moment, wenn der nächste da langgeht, kann es schon wieder anders sein. Das ganze Viertel wird ein Teil des Walks. Und das ist der Teil, den wir nicht beeinflussen können. Das kann manchmal stören, manchmal ist es aber auch super spannend oder sogar schön. Wir haben ja auch draußen die Videos gedreht.

Wie haben die Leute auf eure Dreharbeiten reagiert?

Es gab ganz unterschiedliche Reaktionen. Man lernt das Viertel kennen, man lernt die Leute kennen, Kinder laufen mit… Manche haben gedacht, wir wären vom Fernsehen. Die haben sich gefreut, weil sie dachten, dass endlich mal jemand über den Müll dort berichtet. Die meisten waren interessiert und zwischendurch haben sich auch interessante Gespräche ergeben. Das sind die Momente, in denen das Theater wirklich in die Gesellschaft eintaucht. Einige Leute kennt man dann auch schon nach ein paar Tagen. Und irgendwie wird man ein Teil des Viertels. Man kann das nicht beeinflussen, man zeigt es, wie es ist.

Was für Theaterformate sind noch möglich?

Ich mache zum Beispiel auch viel mit Audio. Bei Audio-Walks wird man mit Kopfhörern und Sound durch die Stadt geleitet. Letztes Jahr gab es ein Projekt, da saßen die Zuschauer vor einem Hochhaus und auf den Balkonen des Hauses fand etwas statt. Mit einer anderen Gruppe, STUDIO URBANISTAN in Leipzig, haben wir eine Stadtrundfahrt mit dem Bus gemacht. Da gab es dann Stationen draußen, wo etwas passiert ist, aber auch im Bus selbst.

Du machst Projekte mit verschiedenen Gruppen, bist Regiesseurin, Performance-Künstlerin, Schauspielerin… Ist das ein anderer Begriff für, Ich-hangel-mich-von-Projekt-zu-Projekt, weil es im Kulturbetrieb zu wenig feste Stellen gibt?

Nein, das war eine bewusste Entscheidung. Ich habe ja in Hildesheim studiert und da haben wir auch schon in Projekten gearbeitet. Daraus haben sich dann Gruppen gebildet, die sich professionalisiert haben. Wir sind freie Gruppen, die an verschiedenen Theaterhäusern arbeiten. Große Häuser haben eher feste Strukturen, da sind wir freier, auch in den Formaten, die wir machen. Freie Szene ist dann schon eine bewusste Entscheidung. Ich kann davon gut leben, habe aber auch noch ein zweites Standbein als freie Mitarbeiterin bei MDR Kultur Online. Das Gute ist, ich kann so mehr machen: Selbst Regie führen, schreiben, spielen. Wobei das ja auch im Wandel ist, da wir mit den großen Häusern inzwischen kooperieren.

Noch ein Abschlusshäppchen? Gibt’s hier im Video:

Du willst auch den Video-Walk mitgehen?
Am Donnerstag, 12. Juli, gibt es noch zwei Mal die Gelegenheit: Um 18 Uhr und um 19.30 Uhr. Treffen ist am Haus der Vielfalt in der Beuthstraße 21. Karten kosten 4 Euro. Für Studierende der TU Dortmund mit gültigem Studierendenausweis ist der Eintritt frei. Mehr Infos gibt es auff: www.theaterdo.de
Videos
Teaser- und Beitragsbild & Videos: Fatima Talalini

Tonmischung: Jonathan Nielsen

Musik (Sonofind):

Eric Fawcett, John Hermanson: A Summer of Saturday; Neil Cleary: Silverlake Hootenanny

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