Über die vergangenen Jahre ist die Wahlbeteiligung bei der Europawahl immer weiter gesunken – 2014 lag sie bei 42,61 Prozent. Das könnte auch Auswirkungen auf die bevorstehende EU-Parlamentswahl im kommenden Jahr haben. Wie sich die BürgerInnen schon jetzt für die Wahl begeistern lassen und wer die Verantwortung für den Rückgang trägt, erklärt der belgische Kommunikationswissenschaftler Dr. Nicolas Baygert im Interview.
Ende Mai 2019 wird das EU-Parlament gewählt. Kurz gesagt: Warum sollten alle EU-BürgerInnen bei dieser Wahl ihre Stimme abgeben?
Wenn man sich die Sache konkret anschaut, werden etwa 80 Prozent der Regelungen, die unser Leben bestimmen, im Europaparlament entschieden. Mit der Wahl entscheidet man natürlich auch, wen man ins EU-Parlament schickt und wer nicht die Länder, sondern die Bürger und die politischen Parteien vertritt. Wichtig ist dabei, dass die Parteien im EU-Parlament nicht auf nationaler Ebene organisiert sind. Stattdessen gibt es Superparteien, in denen sich die nationalen Parteien finden. Das heißt, die CDU sitzt bei den Konservativen aus Italien, aus Frankreich und die SPD bei den Sozialisten aus Belgien. Dementsprechend wichtig ist die Wahl.
Glauben Sie denn, dass die EU-Bevölkerung weiß, dass sie in wenigen Monaten das EU-Parlament wählen soll?
Nein, das glaube ich nicht. Ein Grund dafür ist, dass die Medien sich noch nicht für die Europawahl interessieren, da die Politik im eigenen Land immer Vorrang hat. Mit verantwortlich sind auch die politischen Parteien, die jetzt über die Wahl kommunizieren sollten. Ich habe trotzdem den Eindruck, dass man das in Deutschland eigentlich ganz gut macht, verglichen mit anderen Ländern. Man nimmt die Wahl ernst. Neben den Medien und den politischen Parteien haben auch die europäischen Institutionen eine Verantwortung. Die Kommission und das Parlament versuchen auch, eine eigene Kampagne zu launchen. Obwohl man sich die Frage stellen kann, ob es wirklich deren Job ist, über die Parlamentswahl und Europa zu kommunizieren. Eigentlich sind sie eher Organisationen und keine politischen Parteien. Allerdings sieht man, dass diese Kampagnen nicht immer ihren Weg zu den Medien finden.
Seit der ersten Europawahl 1979 ist die Wahlbeteiligung stetig gesunken. Damals lag sie bei 61,99 Prozent, bei der Wahl 2014 waren es nur noch 42,61 Prozent. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe für diese Entwicklung?
Damals gab es diesen Enthusiasmus etwas Neues aufzubauen, mit Ländern zu arbeiten, die überzeugt waren, dass es der richtige Weg ist. Mit einer Generation von Politikern zu arbeiten, diese Politiker zu erleben, die voll auf Europa konzentriert und richtige Europäer waren. Man kann verstehen, dass es damals nicht nur etwas Neues war, sondern, dass es unter den Bürgern auch einen Aufschwung gab, daran teilzunehmen. Ich glaub das Jahr, das alles verändert hat, war 2005. Da gab es die kalte Dusche mit Referenden in Frankreich und den Niederlanden, wo die Bürger „Nein“ gesagt haben: Nein, wir wollen keine europäische Verfassung, wir wollen diesen Weg nicht weitergehen, wir haben Angst, dass das unsere Souveränität und unsere Werte auf nationaler Ebene schwächt. Obwohl es bereits vorher einen negativen Trend gab, hat man seitdem gemerkt, dass es wirklich ein Problem gibt, und dass die Beziehung zwischen Europa und den Bürgern kompliziert ist.
Ein Konflikt, bei dem man den Eindruck hat, dass es eine Wahl zwischen zwei oder sechs Ideen gibt, ist notwendig.
Was müssten die EU und das Parlament an ihrer Wahl-Kommunikation ändern, damit 2019 mehr EU-BürgerInnen ihre Stimme abgeben?
Ich glaube, Europa leidet oder mangelt es an Profil. Es fehlen die Gesichter, die charismatischen Leader und Führungspersonen, die etwas für Europa wollen und Europa auch verändern wollen. Wenn die Debatte niemanden stimuliert und leidenschaftlich mitzieht, dann kann die Kommunikation nicht funktionieren. Das andere Problem ist, dass man teilweise den Eindruck hat, dass keine richtige Debatte über Europa stattfindet und es keine Alternative zur aktuellen Europapolitik gibt. Dabei gibt es Alternativen. Aber im offiziellen Diskurs der europäischen Vorsitzenden hat man den Eindruck, dass es nur eine Europapolitik gibt. Wenn man diese Europapolitik nicht akzeptiert ist man direkt Euroskeptiker, europhob oder Europopulist. Das ist ein richtiges Problem. Denn ein Konflikt, bei dem man den Eindruck hat, dass es eine Wahl zwischen zwei oder sechs Ideen gibt, ist notwendig. Etwas Neues ist, dass die Kommission seit 2017 ein sogenanntes Whitepaper, also einen Vorschlag über die Zukunft Europas, hat. Darin stehen 5 Szenarien, wie sich die EU entwickeln könnte. Allerdings fehlen auch hier die Gesichter, um die verschiedenen Optionen zu personifizieren.
Hat die EU oder das Parlament bereits aktiv etwas unternommen oder geplant, um mehr Leute zur Wahl zu bringen?
Das Parlament kann man als Organisation sehen, wie ein Ministerium. Dort gibt es eine Kommunikationsabteilung, die sich um diese Sachen kümmert und Kampagnen plant – das ist der traditionelle Weg. Dann kann man das Parlament auch als Parlament betrachten, mit verschiedenen politischen Gruppen und Parteien, die gemeinsam kommunizieren sollten. Ich habe den Eindruck, dass das zurzeit nicht der Fall ist und das ist ein Problem. Wenn eine Bundestagswahl stattfindet oder eine Präsidentschaftswahl in Frankreich, dann kommunizieren die Parteien. Die CDU macht ihre eigene Kampagne, die FDP und so weiter. Auf der Europaebene wirkt es, als ob die Parteien das nicht tun und erwarten, dass das Parlament eine neutrale Kampagne launcht und das war’s. Dadurch entsteht wieder der Eindruck, dass es keine richtige Debatte gibt. Dafür kann man sich nicht leidenschaftlich interessieren. Ich weiß nur: Ich muss an dem Tag wählen, aber ich weiß nicht, was die verschiedenen Meinungen sind.
Die Europawahl wird momentan in jedem Land am Ende eine Nationalwahl.
Im Vorlauf für die kommende Europawahl gab es den Vorschlag transnationale Listen einzuführen. Damit könnten die EU-BürgerInnen zwei Stimmen abgeben: einmal für die nationalen Listen und einmal für die transnationalen Listen. Das Parlament hat den Vorschlag im Februar abgelehnt. Halten Sie die Idee trotzdem für eine sinnvolle Veränderung für kommende Wahlen und im Sinne der EU-Wählerschaft?
Ich bin zwar nicht mehr so optimistisch, dass das in den nächsten Jahren passieren wird, aber ich glaube schon, dass es eine gute Idee ist. Ich gebe immer dieses Beispiel: Falls ich zum Beispiel Sozialdemokraten wählen möchte, muss ich unbedingt für belgische Sozialdemokraten stimmen – und da habe ich überhaupt keine Lust zu. Beispielsweise würde ich viel lieber für einen Sozialdemokraten oder Sozialisten aus Schweden oder Großbritannien stimmen. Diese Möglichkeit gibt es zurzeit nicht. Die landesübergreifende Wahl würde mit dazu beitragen, einen europäischen Demos herzustellen, den es derzeit nicht gibt. Es ist dann nicht mehr wichtig, aus welchem Land man kommt, sondern man bringt die Person oder die Persönlichkeiten in den Vordergrund. Eine Person, die die richtige Kompetenz oder die richtige Aura oder dieses charismatische Element besitzt, die anderen Europa-Politikern fehlen. Deshalb glaube ich, dass die transnationalen Listen gut wären. Man könnte auf einmal eine politische Debatte führen, die es zurzeit nicht gibt, weil am Ende immer die nationalen Themen wichtiger sind. Die Europawahl wird momentan in jedem Land am Ende eine Nationalwahl.
Müssten die Mitgliedstaaten dann nicht viel mehr in die Verantwortung genommen werden, wenn die Europawahl immer mehr an Relevanz verliert?
Die Staaten können eigentlich nicht als Staat kommunizieren, aber die Akteure, die verschiedenen Politiker und die Parteien, müssen sich viel mehr dafür interessieren. Ich bin auch überzeugt, dass die Medien viel mehr machen sollten. Wenn man die Bürger nicht innerhalb der nächsten Monate daran interessiert und sagt, das sind heutzutage die wichtigen Themen und die Themen, die im Europaparlament debattiert werden oder bei denen es teilweise einen richtigen Streit gibt zwischen verschiedenen Parteien – wie kann man sich dann im Endeffekt für die eine oder andere Partei entscheiden? Die Medien haben wirklich eine Riesenverantwortung. Wenn das die Kommission oder das Parlament macht, sieht es wieder wie Propaganda aus und das ist gerade das Problem. Das hatten damals die Brexiter den europäischen Institutionen vorgeworfen: Wir kommunizieren als Bürger, als Partei und die EU kommuniziert als EU, also als Institution. Das heißt, das ist eine Propaganda-Kampagne.
Es wäre wichtiger, dass die Europagruppen Klartext reden und ihre Prioritäten und Themen deutlich machen.
Bei der Europawahl 2014 traten manche Parteien in Deutschland in ihrer Außenwerbung wenig mit konkreten Maßnahmen und Plänen auf. So warb die SPD auf Plakaten für „Ein Europa des Wachstums. Nicht des Stillstands“ oder „Ein Europa der Chancen. Nicht der Arbeitslosigkeit“. Wieso entscheiden sich Parteien für diese eher symbolische Kommunikation?
Schwierig zu sagen. Es fehlt irgendwie an Inspiration, an Kreativität. In der Kommunikation gibt es eine Art Minimalismus. Man kann nicht zu konkret werden und zu viel versprechen, weil das sowieso weit weg von den Parlamentsdebatten ist. Eine Partei kann da nicht viel versprechen. Es wäre wichtiger, dass die Europagruppen Klartext reden und ihre Prioritäten und Themen deutlich machen, damit jeder weiß, was später im Parlament debattiert wird. Ich würde es super finden, wenn man, wie in Amerika, Primaries für die Spitzenkandidaten in jeder Partei hätte. Für die epp, die Europäische Volkspartei, hätte man fünf oder sechs Kandidaten aus verschiedenen Ländern und dann gäbe es eine richtige Debatte. Wenn auch intern in der Partei auf einmal debattiert wird und wenn man sieht, dass nicht alle derselben Meinung sind, vielleicht würde das dann auch den Europa-Bürger interessieren.
Zum Abschluss: Welches Ergebnis erwarten Sie von der Europawahl?
Heute wäre ich wirklich sehr, sehr, sehr pessimistisch. Ich glaube beispielsweise, dass die Sozialdemokraten nicht gut abschneiden werden. Es ist ein genereller Trend in Europa, dass die traditionellen Parteien, die etablierten Regierungsparteien, derzeit nicht nur ein Defizit, sondern eine richtige Krise erleben. Einige Parteien müssen sich wirklich Gedanken machen und könnten sich intern total verändern. Die weniger etablierten Parteien, die bisher im Parlament nicht richtig repräsentiert waren, wie die spanische Podemos, werden bestimmt viel mehr Abgeordnete haben. Das Parlament könnte ein ganz neues Gesicht bekommen. Es gibt dann vielleicht andere Themen, die debattiert werden. Zum Beispiel Flüchtlingspolitik, Integration, die Beziehung zu Russland und den Vereinigten Staaten und andere Themen, die im Parlament bisher nicht im Vordergrund standen und zu den wichtigen Themen gehörten. Deswegen wird es dieses Mal wirklich spannend.
Teaser-/Beitragsbild: Mathieu Cugnot/European Union 2018 Quelle: EP