Pascal Kilian-Neese ist Besamungstechniker. Was für die meisten Menschen ein ekliges Abenteuer wäre, ist für den 20-Jährigen Alltag. Rund 30 Mal am Tag steckt seine Hand im After einer Kuh. Trotzdem liebt er seinen Job – aus ganz unterschiedlichen Gründe.
Mit angelegten Ohren und angespanntem Gesicht schaut Bianca ins Nichts. Es ist kein schmerzerfüllter Ausdruck, der in den Augen der brünstigen Kuh zu sehen ist – angenehm scheint das Gefühl aber auch nicht unbedingt zu sein. Schließlich hat Bianca gerade einen ganzen Menschenarm in ihrem Hintern. Er gehört Pascal Kilian-Neese, es ist sein linker, um genau zu sein. Pascal ist Besamungstechniker, oder auch Kuhbesamer.
Wenn der 20-Jährige auf den Bauernhöfen in Nordrhein-Westfalen zu Besuch ist, werden in den meisten Ställen neun Monate später Kälber geboren.
An diesem Samstagmorgen, es ist 6:30 Uhr, ist auf den Straßen im Landkreis Coesfeld, in der Nähe von Münster, nicht viel los, nur der blaue Ford von Pascal fährt über eine Landstraße. Blinker rechts, da ist ein Bauernhof. Der Wagen rollt aus, steht. Weite Stille, nur ein Hund bellt. Der Landwirt kommt auf Pascal zu, gibt ihm seine Hand und fragt: „Neu?“
Erst im Oktober vergangenen Jahres hat Pascal die Weiterbildung zum Besamungstechniker abgeschlossen. „Mir gefällt die Vielfalt der Arbeit und die Kühe wirken irgendwie beruhigend“, sagt Pascal. Vorher hat Pascal eine Ausbildung zum Landwirt gemacht, da der Job des Besamungstechnikers kein staatlich anerkannter Beruf ist. Während seiner Ausbildung kam dann auch die Idee, Besamungstechniker zu werden, erzählt Pascal: „Im dritten Lehrjahr war ich bei mehreren Zuchtbetrieben und mir wurde erzählt, dass Besamungstechniker gesucht werden und gute Jobchancen haben.“ Mittlerweile arbeitet er bei einem großen Zuchtunternehmen. Im Durchschnitt ist er sechs Tage in der Woche unterwegs. Mal sind es zehn Arbeitsstunden, mal nur vier, „das kommt ganz darauf an, wieviele Landwirte mich anrufen“, sagt Pascal. Die Arbeit an Samstagen und Sonntagen gehört dazu, denn im Zyklus einer Kuh gibt es kein Wochenende. Wenn die Brunstzeit gekommen ist, also die Zeit, in der die Kuh trächtig werden kann, muss die Kuh innerhalb eines Tages besamt werden.
2000 Spermien-Portionen von zig verschiedenen Bullen auf der ganzen Welt
Biancas Besitzer hat erst gestern Abend, gegen 22 Uhr, bei Pascal angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen. „So geht das täglich. Ein Gerät zeigt den Landwirten an, welche Kuh in der Brunst ist. Dann rufen sie mich an“, erzählt Pascal und öffnet den Kofferraum. Dort sind die zwei riesigen Stickstoffbehälter, gefüllt mit rund 2000 Spermien-Portionen von zig verschiedenen Bullen auf der ganzen Welt. Der Wert dieser Spermien: 50.000 Euro. Durch den -196-Grad-kalten Flüssigstickstoff sind sie unbegrenzt haltbar.
„Meistens sagen uns die Landwirte vorher, welche Sorte Bulle sie haben wollen. Hat die Kuh zum Beispiel eher kurze Beine, soll der Bulle im besten Fall lange Beine haben. Damit es sich beim Kalb wieder ausgleicht“, erklärt Pascal.
Die Informationen über die verschiedenen Bullen erhalten die Landwirte aus einem Bullenkatalog. Die Bilder und Beschreibungen darin erinnern an ein Datingportal, Tinder oder so – mit dem Unterschied, dass sich die Kühe den Vater ihres Kindes nicht selbst aussuchen können. Ein bisschen hat es auch was von einem Urlaubskatalog aus dem Reisebüro: Die Vorteile der Bullen stehen in großen Buchstaben mit noch größerem Bild da – die restlichen Infos sind kleingedruckt.
Für die Landwirte ist die künstliche Besamung auch wirtschaftlich gesehen praktisch: Ein Deckbulle kann fünf bis sechs Mal in der Woche decken, danach ist er platt. Zudem kostet die Haltung eines Bullen Geld und alle zwei Jahre bräuchte der Landwirt einen neuen, um Inzucht zu vermeiden. Trotzdem ist die künstliche Befruchtung vor rund 60 Jahren eher aus der Not heraus entstanden. Denn in den 1950er-Jahren war die Gefahr, dass die Tiere an Deckseuchen erkranken, sehr hoch. Die künstliche Befruchtung wurde zur Alternative, um die Übertragung der Seuche zu verhindern.
Von Romantik weit und breit keine Spur
Pascal holt die Spermien aus einem der Stickstoffbehälter, führt sie in den zwei Meter langen Besamungsstab ein und den unter sein T-Shirt direkt an seine Brust. „Damit den Kleinen auch nicht kalt wird“, sagt er und grinst. Dann geht er in den Kuhstall. Die 50 Kühe hinter dem grauen Gitter schauen Pascal neugierig an, typisch für die Tiere, wie Landwirte sagen. Pascal sucht Kuh Bianca. Alle Tiere tragen ein gelbes Halsband mit einer Nummer. Bianca ist die 46. Als der 20-Jährige die Kuh findet, steigt er über das Gitter. Dann beginnt der eigentlich Hauptakt der Besamung. Romantik sucht man hier allerdings vergeblich. Pascal packt den Schwanz der Kuh und führt seine linke Hand in den After ein. Warm und weich fühlt sich das an, sagt er. „Jetzt fühle ich die Gebärmutter.“ Auch diese kann er über den Eingang des Afters ertasten. Wenn nichts drin ist, ist die Gebärmutter faustgroß. Ist die Kuh tragend, hat sie nach zehn Wochen schon die Größe eines Handballs. Dann führt er den 50 Zentimeter langen Besamungstab in die Scheide der Kuh ein, drückt das Sperma heraus und ist fertig. Ganze 35 Sekunden dauert also die künstliche Besamung. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kuh Bianca in neun Monaten ein Kalb auf die Welt bringt, liegt bei 60 Prozent.
Im November 2017 gab es in Deutschland 3704 Kälber und Jungrinder, die durch eine künstliche Besamung von insgesamt rund 1000 Besamungstechnikern in Deutschland gezeugt wurden. Im Alter von 12 bis 24 Monaten wird bei den Tieren entschieden, wie es mit ihrem Leben weitergeht. 1826 weibliche Rinder wurden Zucht- und Nutztiere, 1116 Tiere zum Schlachter gebracht. Denn 60 Kilo Fleisch isst allein jeder deutsche im Jahr, 30 Kilogramm mehr als laut Expertenaussagen der menschliche Körper eigentlich braucht. Ein schlechtes Gewissen, Kühe zu besamen, damit dann die jungen Rinder geschlachtet und gegessen werden, hat Pascal aber nicht. „Fleisch zu essen gehört für die meisten Menschen nunmal dazu“, sagt Pascal. „Deutschland ist ein sehr exportreiches Land, irgendwo muss das Fleisch ja her kommen.“
“Manchmal sagt er mir, dass ich etwas nach Rind rieche und erst duschen soll, bevor ich mich ins Bett lege”
Im Durchschnitt besamt ein Besamungstechniker 3500 bis 6000 Kühe im Jahr. Diese Zahlen hat Pascal in den vergangenen vier Monaten zwar noch nicht erreicht, aber derzeit ist er auch noch als Vertretungstechniker unterwegs. „Das ist ganz normal am Anfang. Jedes Gebiet hat seinen Stammtechniker, und wenn dieser Urlaub hat oder krank ist, übernehme ich seine Höfe“, erklärt Pascal. An die verdrehten Augen, wenn ein Fremder hört, dass er seine Hand in die After von Kühen steckt und im Kot der Tiere steht, hat er sich trotz der kurzen Zeit als Kuhbesamer schon gewöhnt. „Da stehe ich drüber“, sagt er.
„Beim ersten Mal dachte ich auch, dass es sich eklig anhört, aber die Neugier hat überwogen. Klar war es beim ersten Mal etwas ungewohnt und überraschend heiß im Hintern der Kuh, aber ekelig finde ich es gar nicht mehr.“
Seine Freunde fanden die Idee, dass Pascal Kuhbesamer werden wollte, eher lustig, sagt der 20-Jährige. Viele aus seinem Bekanntenkreis kommen auch aus der Landwirtschaft und arbeiten in ähnlichen Berufen. Nur sein Freund nicht – der macht gerade sein Abitur. Pascals ungewöhnlicher Beruf stand aber nie zwischen der Beziehung der beiden jungen Männer. „Manchmal sagt er mir, dass ich etwas nach Rind rieche und erst duschen soll, bevor ich mich ins Bett lege“, erzählt Pascal offen, lacht und sagt weiter: „Aber hey, Schweine stinken definitiv stärker.“ Vielmehr ist es ein Wunsch von Pascal, seinem Partner Jonas mit zu den Kühen zu nehmen um ihm seinen Beruf zu zeigen. Pascal ist ein offener, aber gleichzeitig sensibler junger Mann. Dass seine Familie und seine engsten Freunde seinen Berufswunsch akzeptieren, ist ihm wichtig. Diese Unterstützung bekommt er aber nicht nur von seinem Freund Jonas, auch sein Vater und seine zwei jüngeren Brüder stehen hinter ihm. „Als ich mein Bewerbungsgespräch hatte, war die Rede davon, dass ich nach Krefeld ziehen muss“, sagt Pascal. Rund 90 Kilometer entfernt von seinem gewohnten Umfeld – zu weit für die kleine Familie. „Mein Papa wollte seinen Hof verkaufen, meine Brüder und die Kühe einpacken und wir wären alle zusammen umgezogen“, sagt der 20-Jährige weiter. Am Ende musste er doch nicht fort.
Die ruhige und sensible Art, sagt Pascal, hilft ihm auch im Job. Da ein Rind weder im Darmtrakt noch im Bereich des Uterus Gefühlsnerven hat, hat das Tier eigentlich keine Schmerzen bei der Besamung. Trotzdem muss der Techniker vorsichtig und fachgerecht ausgebildet sein, um das Tier nicht zu verletzen. Dafür braucht der Besamungstechniker ein großes Wissen über die Anatomie der Tiere. Denn ein Kuhbesamer macht mehr, als nur die Hand in den Hintern eines Tieres zu stecken. Bei sogenannten Serviceleistungen untersucht er die Tiere ausschließlich: Zum Beispiel ob sie kalben oder wieder besamt werden können. Auch eventuelle Krankheiten, wie Zysten an den Eierstocken kann er dabei ertasten. Mit diesem Wissen kann ein Besamungstechniker rund 15 Prozent aller Aufgaben eines Tierarztes übernehmen. Körperlich kann das sehr anstrengend sein. Denn es braucht viel Kraft, sich gegen die bis zu 900 Kilo schweren Kühe durchzusetzen – und eben eine Menge Feingefühl.
Nach zwölf Betrieben, 30 Besamungen und 215 gefahrenen Kilometern ist der Arbeitstag für Pascal vorbei. Am Abend geht es für den 20-Jährigen noch auf eine Geburtstagsparty. Doch für ihn gibt es keinen Alkohol, denn morgen Früh warten schon wieder die Landwirte auf den jungen Kuhbesamer. Ein Beruf, der für Pascal im Laufe der Weiterbildung zu einem Traumberuf geworden ist. Im Juli soll wahrscheinlich das erste Kalb, das durch eine Besamung von Pascal entstanden ist, geboren werden. „Ich mache diesen Job gerne. Es ist faszinierend zu sehen, was ich mit einer Besamung bewirken kann und für mich immer ein großes Erfolgserlebnis, wenn ich nach 40 Tagen sehe, dass eine Kuh, die ich besamt habe, tragend wird.“