Jerusalem als Mikrokosmos einer nationalen Krise

Der Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist schon mehrere Jahre nicht mehr so eskaliert wie aktuell in diesen Tagen in Jerusalem. Über die aktuelle Lage und mögliche  Zukunftsaussichten hat KURT mit dem Politikwissenschaftler und Nahost-Experten Dr. Jan Busse von der Universität der Bundeswehr in München gesprochen.

Seit Tagen kommt es in Jerusalem und in den Grenzregionen zwischen Gazastreifen und israelischem Gebiet immer wieder zu Zusammenstößen. Auslöser waren palästinensische Protestierende in der Altstadt Jerusalems, die in der vergangenen Woche gegen die Zwangsräumung einiger palästinensischer Familien im östlichen Teil der Stadt demonstriert hatten. Die Protestierenden waren daraufhin vom israelischen Militär auf dem Tempelberg festgesetzt worden. Am Montag feuerte die Hamas daraufhin Raketen auf israelisches Gebiet. In der Nacht zum Dienstag folgte die Antwort Israels. Auch sie beschossen Ziele im Gazastreifen.

Nicht nur Religion steht im Mittelpunkt

Die Religionsunterschiede spielen im Nahostkonflikt von jeher eine sehr große Rolle und sind daher auch für die jetzige Eskalation relevant. Am Tempelberg in Jerusalem gibt es gleich mehrere heilige Orte beider Religionen. Vor allem im Islam gehört er als sogenannter al-haram asch-scharif (arabisch: das edle Heiligtum) zu den bedeutendsten Pilgerstätten überhaupt. Zusätzlich endet in dieser Woche der Ramadan. In dieser Zeit beten besonders viele Muslime an dieser heiligen Stätte. Die Demonstrant*innen dort festzusetzen und einen Konflikt herbeizuführen, war für die Hamas eine klare Provokation der israelischen Sicherheitsbeamt*innen.

Es gibt eine weitere Dynamik: Der Montag war der 10. Mai.  An diesem Tag feiern viele Israelis die Einnahme der Altstadt Jerusalems im Jahr 1967. Für weite Teile der israelischen Bevölkerung ein Zeichen der Wiedervereinigung der Stadt und ein sehr wichtiger Feiertag —  für viele Palestinenser dagegen eine alljährliche Provokation. Dieser Tag, an dem jedes Jahr Spannungen erwartet werden, fiel am Montag mit den sowieso schwelenden Konflikten in der Stadt zusammen.

Dr. Jan Busse, Politikwissenschaftler und Nahost-Experte der Bundeswehr-Uni München (Foto: Jan Busse)

Dr. Busse ist dennoch vorsichtig damit, die Eskalation ausschließlich auf religiöse Motive zu reduzieren. „Es wäre fatal, wenn man behaupten würde, es wäre nur ein Konflikt Juden gegen Muslime. Das unterschlägt die Vielfalt auf beiden Seiten, wir haben auf israelischer sehr viele säkulare Juden genauso wie sehr orthodoxe Juden. Auf palästinensischer Seite haben wir auch sehr viele säkulare Menschen”. Die christliche Minderheit sei ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Insgesamt würden nationale Motive viel mehr Menschen in diesem Konflikt mobilisieren als religiöse.

Keine Einigung in Sicht

Wagt man einen Ausblick auf die nächsten Tage, ist vor allem die Entwicklung der Raketenangriffe entscheidend. Laut Busse seien viele Muslime in Jerusalem darauf bedacht, den Konflikt abkühlen zu lassen um Ende der Woche in Ruhe den Abschluss des Ramadans feiern zu können. Doch sowohl die Hamas als auch Sprecher der israelischen Armee äußerten sich eher konfrontativ. Für Busse ist dies ein klares Zeichen: „Im Hinblick auf Gaza stehen die Zeichen eher auf eine ausgeprägtere Konfrontation.“ Dies könne dann, so Busse weiter, natürlich auch weitere Straßenproteste in Jerusalem und anderen israelischen Großstädten herbeiführen.

Auch die Rolle der EU und der USA trägt nicht wirklich zu einer Beruhigung des Konfliktes bei. “Sie tun das, was man kennt”, so Busse. Natürlich rufe man dazu auf, nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen und auch die Raketenangriffe werden hart verurteilt. „Aktives und konstruktives Konfliktmanagement sehe ich da nicht! Da ist allerdings auch die Frage, wie das aussehen könnte“, so der Politikwissenschaftler weiter.

Ein Konflikt mit vielen Lösungen, doch ohne Bemühungen

Im Hinblick auf den gesamten Konflikt ist die Situation in Jerusalem für Dr. Busse ein Mikrokosmos, der zeigt, wo die Probleme insgesamt liegen. Mit Hinblick auf den Siedlungsbau und beispielsweise dem Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem spricht man in der Forschung aktuell von einer Ein-Staaten-Realität. Für Busse scheitert die Perspektive einer Zwei-Staaten-Regelung aktuell an einigen Punkten. In erster Linie sei Palästina in sich selbst gespalten und Israel fehle damit ein vollwertiger Partner. Viele Palästinenser*innen sehen die Chancen auf die Realisierung der zwei Zwei-Staaten-Regelung schwinden.

Eine Perspektive für sie wäre beispielsweise, statt staatlicher Unabhängigkeit gleiche Bürgerrechte einzufordern. Außerdem scheint Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit dem Andauern der ungeklärten Situation zufrieden zu sein, sagt Dr. Busse. Dabei bringe für den Experten die Zwei-Staaten-Lösung auch Vorteile für Israel. Israel, das sich selbst als jüdisch-demokratischen Staat sieht, würde dann diese Identität verlieren. So ist für Dr. Busse auch für Israel die Zwei-Staaten-Lösung durchaus erstrebenswert.

“Die Lösungen sind sehr konkret. Die liegen in der Schublade und sind auf Hunderten Seiten ausgearbeitet. Es gibt, glaube ich, kaum einen anderen Konflikt, für den es so detaillierte Lösungsvorschläge gibt.” Doch trotz dieser Einschätzung ist sich der Experte sicher, dass die Parteien von einer Lösung noch weit entfernt sind. „Es fehlt da eher der politische Wille oder die Fähigkeit, eine Einigung herbei zu führen”, sagt er. Die Zukunftsaussichten sind also ähnlich kompliziert und ernüchternd wie die aktuelle Situation in Jerusalem.

Die Einschätzung von Dr. Jan Busse zur aktuellen Lage gibt es auch aufbereitet in unserer Instagram-Story (@kurt.digital).

Teaser- und Beitragsbild: pixabay.com/rquevenco

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