Seit die Clubs geschlossen haben, steht die Livemusikszene mit dem Rücken zur Wand. Doch gerade in der elektronischen Szene entwickelte sich schnell ein Alternativprogramm: Livestreams. Musik aus dem Wohnzimmer in die Wohnzimmer. Inzwischen öffnen die Clubs wieder – und es stellt sich die Frage: Was wird aus den Livestreams?
Pierre (39) hatte in den letzten Wochen viel um die Ohren: Der Außenbereich musste wieder hergerichtet werden. “Sein” Club, das moog Dortmund darf seit dem 11. Juni endlich wieder für Gäste öffnen. Pierre ist als Clubmanager verantwortlich, dass alles läuft. Die Tische müssen stehen, Speisen und Getränke vorhanden sein — schließlich soll den Gästen etwas geboten werden.
Als der Club Ende März 2020 schließen musste, hatte Pierre sich kurzerhand entschlossen, selbst wieder aktiv Musik zu machen. Eigentlich macht er das schon länger nicht mehr, kümmerte sich hauptsächlich als Clubmanager um das Drumherum. Besonders die Plattform twitch hatte es ihm angetan. Dort kann er sich selbst verwirklichen: „Es war einfach geil, dass es diese Möglichkeit gab! Partys gab es ja nicht mehr, so konnte man den Leuten immerhin etwas schenken.“ Er erzählt, dass er die Zeit genutzt hat, sich im eigenen Wohnzimmer hinter die Regler zu stellen und von zu Hause aus per Livestream für eine kleine, wachsende Community Musik zu machen. Über einen Livechat kann er parallel die Reaktionen auf seinen Auftritt mitverfolgen. Für ihn ist das ähnlich wie ein Gast, der sich auf einer Party am DJ-Pult einen Song wünscht: „Am Anfang dachte ich mir noch, ich kann doch jetzt nicht die ganze Zeit allein mit einer Kamera flirten. Schließlich sehen meine Zuschauer*innen jede Reaktion von mir, so kommst Du selbst nah dran.“
Der finanzielle Aspekt
Für Künstler*innen wie Pierre sind die Einnahmen durch Livestreams aus dem eigenen Wohnzimmer grundsätzlich niedriger einzuschätzen als bei einem Liveauftritt. Dazu kommt der Aspekt, dass er hierbei auf Spenden seiner Community, sogenannte Donations, angewiesen ist. „Es gibt bei Twitch einige Rechenbeispiele. Die Plattform hat eine eigene Währung. Beispielsweise können meine Zuschauer Bits kaufen und mir zuschicken. Dabei sind 10.000 Bits etwa 100€“, sagt er. Obwohl seine Aufrufzahlen wachsen, würde er vor Publikum in der Regel mehr verdienen. Er habe sich zwar nicht des Geldes wegen wieder hinters Mischpult gestellt — ein angenehmer Nebeneffekt sei das aber durchaus gewesen.
Lucas Schraft sieht die Streams anders. Der 29-Jährige war vor der Pandemie unter seinem Künstlernamen scrafty in ganz NRW als DJ und Musikproduzent aktiv. Er erzählt von den Anfängen der Streaming-Veranstaltungen: „Mein allererster Livestream war vor etwas mehr als einem Jahr. Der Chef einer Dortmunder Bar hatte als erstes die Idee mit einem digitalen Angebot und hatte eine Kooperation für gestreamte Liveshows organisiert. Das war ganz cool, hat Spaß gemacht und auch die Resonanz war relativ gut.“
Doch für ihn warfen die Streams finanziell nicht genug ab. „Manche Streams habe ich aus Lust und Laune gemacht, und um in der Szene – sage ich mal – am Ball zu bleiben. Teilweise habe ich nicht einen Cent damit verdient.“ Die finanzielle Unsicherheit sei eine Belastung für die Kunstschaffenden, die sonst auf feste Gagen an einem Abend angewiesen sind. Lucas arbeitet nach seinem BWL-Master inzwischen Vollzeit. Dank Corona träume er zwarnicht mehr von einer Weltkarriere, Clubauftritte am Wochenende sind für ihn aber dennoch ein lohnendes Hobby samt gutem Nebenverdienst.
“Im Studium habe ich etwa achtzig Prozent meiner Einnahmen durch meine Musik gemacht” – Lucas Schraft
Digitale Vorteile
Auch wenn die Streams sich für Lucas nicht gelohnt haben, sieht er dennoch Chancen im digitalen Bereich. „Die Streams können hervorragend Reichweite auf Social Media schaffen. So könnten einen Leute sehen, die vorher nicht auf dich aufmerksam geworden wären“, sagt er. Auch sei es in den vergangenen Monaten meist die einzige Möglichkeit zur Überbrückung des geschlossenen Nachtlebens gewesen. Einen weiteren Aspekt sieht Lucas in der künstlerischen Freiheit: „Ich als DJ oder Producer kann da machen, was ich will. Ich kann ja niemanden vergraulen. Das schlimmste, was passiert, ist, dass jemand wegschaltet.“ Dazu sieht er auch die Chance, sich als Künstler*in in anderen Dimensionen auszuleben: „Man kann seinem Publikum richtig was bieten. Mir fallen spontan die Jungs von KREAM ein, die mit aufwendigen Drohnen und Kameraaufnahmen Livesets von verrückten Orten spielen. Das ist visuell ansprechend und ziemlich kreativ!“ Also könnte in Zukunft vielleicht das „Erlebnis“ stärker fokussiert werden als die reine Musik.
Pierre sieht einen weiteren Vorteil: „Mir haben jetzt häufiger Menschen aus meinem Umfeld geschrieben. Sie finden es gut, von zu Hause bei meiner Musik dabei zu sein. Ich hab ja immer so meine Leute gehabt und mich früher immer geärgert, wenn sie bei einem Gig nicht dabei sein konnten. Das geht damit.“ Er setzt also auf die gestiegene Flexibilität, dank der ihn sein Publikum weiterverfolgen kann. Das macht ihm Mut für die Zukunft.
Ein noch nicht ausgereiftes finanzielles System für Künstler*innen, viele technische Möglichkeiten und eine Frage: Wird das Erlebnis Livemusik in Zukunft unersetzlich sein? Vermutlich schon — danach sehnen sich schließlich viele wieder. Doch bis dahin haben einige Menschen kreative Lösungen gefunden, ihre Kunst unter die Leute zu bringen. Die Kunstschaffenden sind räumlich und zeitlich unabhängiger, können übers Internet höhere Reichweiten erzielen. Dazu haben viele Clubs und Veranstaltungsorte technisch aufgerüstet. Die Chancen, dass ein Markt entsteht, sind durchaus da. Die finanzielle Unsicherheit für die Künstler*innen muss zwar noch in den Griff bekommen werden — sollte dies allerdings klappen, können die Livestreams auch in Zukunft relevant bleiben.
Teaser- und Beitragsbild: Nadia Sitova via unsplash.com