Wie sich Arbeitszeiten in Zukunft verändern werden

Kaum ein Thema erhitzt die Gemüter von Arbeitgeber*innen und Angestellten so wie die Frage nach der richtigen Arbeitszeit. Der Wunsch nach kürzeren Arbeitstagen treibt immer mehr Beschäftigte um. Einfach weniger arbeiten kann sich aber nicht jede*r leisten. Flexiblere Modelle könnten ein Ausweg aus dem Konflikt sein.

Gemächlich setzt sich Michael Klumb neben seinen Arbeitskollegen auf den Beifahrersitz und lehnt sich zurück. Zum Glück sitzt sein Kollege heute am Steuer, denn die Fahrt dauert bis zu anderthalb Stunden. Pendeln von der Arbeit nach Hause. So, erzählt er, ging es bis zum Beginn der Corona-Pandemie jeden Tag. Seitdem sitzt er an vier Tagen in der Woche im Homeoffice. Davor hatte er lange Tage. Vor der Arbeit die Anreise, ein acht Stunden Arbeitstag, dann die Rückreise. Damit war Klumb jeden Tag zehn bis elf Stunden eingebunden. „Deshalb möchte ich meine Arbeitszeit reduzieren“, erklärt er. „Ich merke, dass ich mehr Zeit für mich brauche.“

Mit dieser Idee ist der 38-jährige IT-Techniker nicht allein. „50 Prozent der in Deutschland Beschäftigten haben einen Verkürzungswunsch“, sagt Johanna Nold. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin mit Sitz in Dortmund. Hier forscht Nold umfangreich zum Thema Arbeitszeiten. Eine Mehrheit der Deutschen wünsche sich eine 35-Stunden-Woche. Gewerkschaften wie Verdi und die IG-Metall fordern das inzwischen auch. „Die Menschen, die verkürzen möchten, sind häufig müde und erschöpft. Sowohl psychisch als auch körperlich“, begründet Nold das steigende Bedürfnis nach weniger Arbeitszeit. „Viele, die körperliche Arbeit verrichten, geben auch Rücken- und Kreuzschmerzen an.“

Arbeitszeit wichtig bei der Jobsuche

Besonders für junge Menschen spielt die Arbeitszeit eine wichtige Rolle. 81 Prozent der Berufseinsteiger*innen legen bei der Berufs- und Unternehmenswahl besonderen Wert auf die Work-Life-Balance. Das ergab eine Umfrage der Jobplattform „StepStone“ von 2017. Für 25 Prozent der Studierenden sind flexible Arbeitszeiten der wichtigste Faktor bei der Wahl der ersten Stelle, wie der jüngste Deloitte Studentenmonitor, herausgefunden hat. Für die Studie hat das Marktforschungsinstitut Dynata etwa 1200 Studierende aus verschiedenen Fachrichtungen befragt. Damit entscheidet das Thema der Umfrage zufolge für Studierende noch häufiger über die Wahl der Stelle als etwa gute Aufstiegsmöglichkeiten oder die Innovativität des zukünftigen Arbeitgebers.

Unabhängig vom Alter sei auffällig, dass fast 60 Prozent der Vollzeitbeschäftigten ihre Arbeitszeit verkürzen möchten, sagt Wissenschaftlerin Nold. Dagegen bestehe bei jedem*jeder dritten Teilzeitbeschäftigten sogar der Wille, mehr zu arbeiten. „Unternehmen werden sich in Zukunft mehr mit diesen Themen auseinandersetzen müssen. Wir haben jetzt 100 Jahre, bis auf wenige Ausnahmen, durchgängig die 40-Stunden-Woche. Historisch gesehen stagnieren wir. Vor der Festlegung des 8-Stunden-Tags nahm das kontinuierlich ab Das wird sich irgendwann fortsetzen.“

Wichtig sei, wie Unternehmen die Möglichkeiten ausgestalten, Arbeitszeit zu reduzieren. Eine Verkürzung von einer Fünf- auf eine Vier-Tage-Woche sei nur dann sinnvoll, wenn die Arbeitsintensität ähnlich bleibt.

Vier-Tage-Woche
Viele Gewerkschaften fordern schon seit Langem die Arbeitszeitverkürzung. Oft ist das Ziel die Vier-Tage-Woche oder die 35-Stunden-Woche. Bei diesen Modellen fällt entweder jeden Tag eine Stunde Arbeitszeit weg oder die Arbeitnehmer*innen dürfen freitags nach drei Stunden nach Hause gehen. Die Beschäftigten sollen so mehr Freizeit haben und dadurch während der Arbeit produktiver sein. Das Konzept der Teilzeit ist ähnlich. Jedoch fordern die Gewerkschaften die Vier-Tage-Woche für alle Vollzeitbeschäftigten in ganzen Branchen. Die Teilzeit ist hingegen individuell zwischen Arbeitnehmer*in und Arbeitgeber*in geregelt.
Vertrauensarbeitszeit
Bei diesem Modell liegt die gesamte Verantwortung für die vereinbarte Arbeitszeit bei den Beschäftigten. Sie dürfen eigenständig entscheiden, wann und wo sie arbeiten. Die Arbeitgeber*innen kontrollieren sie nicht. Das erfordert großes Vertrauen in ihre Angestellten. Auf der anderen Seite drohen die Arbeitnehmenden, überlastet zu sein, da sie mit diesem Modell das Gefühl haben können, ständig erreichbar sein zu müssen.
Gleitzeit
Etwas strukturierter ist die Gleitzeit. Hier haben Arbeitnehmer*innen in der Regel Kernarbeitszeiten, zu denen sie anwesend sein müssen. Wie sie ihre restlichen Stunden verteilen, bleibt ihnen selbst überlassen. Oft gibt es aber eine frühestmögliche Anfangszeit und eine spätestmögliche Endzeit.
Jahresarbeitszeit
Besonders für Unternehmen mit saisonalen Schwankungen beim Arbeitsaufkommen ist dieses Modell attraktiv. Beschäftigten wird eine bestimmte Arbeitszeit vorgeschrieben, die sie über das Jahr ableisten müssen. Ist besonders viel zu tun, schieben sie Überstunden, steht wenig an, machen sie früh Feierabend. Ein Nachteil ist, dass Beschäftigte nicht frei über die geleisteten Überstunden entscheiden dürfen.
Zeitwertkonten
Die Arbeitnehmer*innen zahlen in diesem Modell während ihrer Arbeitszeit einen Teil ihres Gehalts auf ein Konto ein. Auch Überstunden können hier verbucht werden. Sobald die Arbeitnehmer*innen weniger arbeiten wollen, können sie das tun. Der Einkommensverlust wird von dem Angesparten bezahlt. Der größte Vorteil ist, dass Beschäftigte in bestimmten Lebenslagen ohne Weiteres weniger arbeiten können.
Sabbatical
Arbeitnehmer*innen können sich längere Auszeiten von bis zu einem Jahr nehmen und trotzdem ihre Stelle behalten. Möglich ist das in verschiedenen Varianten. Die Auszeit als unbezahlten Urlaub zu deklarieren, ist die einfachste Version. Beschäftigte können aber auch Überstunden ansammeln und dann ausnutzen.

„Wir sprechen sonst von Massierung“, sagt Nold. Die Arbeitnehmer*innen müssten die gleiche Arbeit in weniger Zeit erledigen. „Damit ist niemandem geholfen. Das erhöht das Stresslevel beim Arbeitnehmer, statt ihn zu senken.“ Dadurch entstehe nicht nur für die Arbeitnehmer*innen ein Nachteil. Denn von abgehetzten Mitarbeiter*innen, die ungenauer arbeiten, profitierten auch die Unternehmen nicht.

Weniger Arbeit – für die, die es sich leisten können

Wegen finanzieller Einbußen kann es sich nicht jede*r leisten, die Arbeitszeit zu reduzieren. „Man sieht klare Zusammenhänge zwischen Einkommen und Gesundheit. Wenn man ständig auf jeden Cent achten muss, führt das unweigerlich zu mehr Stress“, sagt Johanna Nold.


39 Prozent derer, die weniger arbeiten möchten, gaben an, dass finanzielle Gründe sie davon abhalten. Eine entsprechende Studie hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2017 durchgeführt. Trotzdem gibt es für Arbeitnehmer*innen mit kleineren Einkommen Möglichkeiten, den Stress einer klassischen Arbeitswoche zu reduzieren. „Natürlich kann auch Homeoffice Stress reduzieren“, sagt Nold. Besonders alleinerziehende Eltern profitieren, wenn ihre Arbeitgeber*innen ihnen das Arbeiten von zu Hause aus ermöglichen. Michael Klumb spürt durch seine Arbeit von zu Hause aus besonders, dass er nicht mehr jeden Tag zur Arbeit pendeln muss – ein enormer Zeitgewinn. „Ich denke, wir werden nach Corona zu einem Mix übergehen. Einen Teil im Büro und den Rest zu Hause zu arbeiten, kann ich mir gut vorstellen.“ Ganz verzichten möchte er auf den persönlichen Kontakt zu seinen Kolleg*innen trotz der Pendelei nicht.

Arbeitszeiten werden flexibler

Homeoffice ist bei Weitem nicht die einzige Möglichkeit, den Arbeitsalltag umzugestalten. Das Dortmunder Software-Unternehmen Protel arbeitet nach eigenen Angaben seit seiner Gründung vor 25 Jahren mit verschiedenen Arbeitszeitmodellen. Alle Mitarbeiter*innen, deren Arbeit das zulässt, arbeiten von zu Hause aus. Zudem setzt Protel darauf, Arbeitszeit zu reduzieren. Auch Modelle wie Teilzeit, Gleitzeit und Vertrauensarbeitszeit spielen dabei eine Rolle.

„Kernarbeitszeit ist bei uns zwischen 10 und 15.30 Uhr. Die restliche Zeit kann sich jeder frei einteilen“, sagt Hanna Thoma, die die Personalabteilung des Software-Unternehmens leitet. „Wir treffen wochenweise andere Regelungen. Als eine Kollegin am Anfang des ersten Lockdowns auf einmal zu Hause für ihre Kinder da sein musste, haben wir ihre 25 Stunden statt auf drei, auf fünf Tage verteilt.“

Bei Protel arbeiten laut Thoma inzwischen 66 Prozent der Angestellten in flexiblen Modellen. Es sei nicht mehr zeitgemäß, an starren Modellen festzuhalten, meint sie. Ihr Unternehmen verfolge die Philosophie, dass zufriedene Mitarbeiter*innen bessere Leistungen erbringen. „Wir haben gerade auch in letzter Zeit sehr viele positive Rückmeldungen erhalten“, sagt Thoma. Die Mitarbeiter*innen versprächen sich von den flexiblen Arbeitsmodellen „weniger Stress, bessere Vereinbarung von Familie und Beruf und mehr Eigenverantwortung.“ All das führe zu einer höheren Motivation der Arbeitnehmer*innen. Auch die Tatsache, dass jede*r zu der Tageszeit arbeiten könne, zu der er oder sie besonders produktiv ist, spreche sowohl aus Sicht der Unternehmer*innen als auch der Arbeitnehmer*innen für die flexiblen Modelle.

Die 40-Stunden-Woche als Auslaufmodell?

Natürlich müsse jedes Modell in dem jeweiligen Betrieb umsetzbar sein, betont Johanna Nold von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. „Das Thema wird aktueller. Unternehmen, denen es möglich ist, sollten sich zeitnah damit befassen“, sagt sie. Auch, um als Arbeitgeber*in attraktiver zu werden, sei es ratsam, zumindest offen für Ausnahmen von der starren 40-Stunden-Woche zu sein. „Natürlich ist es branchenabhängig“, erklärt die Expertin. „Wir sehen aber, dass flexiblere Modelle in den meisten Branchen zumindest für einen Teil der Angestellten möglich wären.“

Übrig bleibe die Frage, was die Angestellten mit ihrer gewonnenen Zeit anfangen wollen, sagt Nold. Für Michael Klumb ist das leicht zu beantworten. „Ich lebe seit Jahren minimalistisch“, sagt er. „Da möchte ich mich gerne weiter austauschen und ein Bewusstsein schaffen. Das braucht Zeit.“ Hinter den Gesprächen stecke ein besonderes Interesse an verschiedenen Lebensstilen. „Ich würde den Austausch über Minimalismus als mein Hobby bezeichnen.“

Für Johanna Nold ist Klumbs Ansatz richtig. „Wenn man weniger arbeitet, sollte man die zusätzliche Zeit für Erholung nutzen. Leider spielt dieser gesundheitsfördernde Aspekt oft keine Rolle“, sagt sie. So seien Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen die häufigsten Aktivitäten, für die Menschen auf Arbeitszeit verzichten. Besser für einen selbst seien da zum Beispiel Weiterbildungen. „Da wird die Zeit gewinnbringend investiert“, sagt sie. Trotzdem könnten Weiterbildungen erholsamer sein als Arbeit.

Weniger arbeiten ist gesund

Ein positiver Nebeneffekt von weniger Arbeitszeit sei auch, dass die meisten Menschen dann ausreichend schlafen, sagt Nold. „Gerade, wenn jemand aus einem Schichtbetrieb kommt, zeigen Studien einen klaren Zusammenhang.“ Diesen Effekt spürt auch Hanna Thoma in ihrem Unternehmen. „Unsere Mitarbeiter sind weniger krank und deutlich produktiver.“ Das führt sie auf geringeren Stress zurück. „Wir haben auch viel weniger Fluktuation im Betrieb.“

Entscheidend sei, dass die Firmen ihren Angestellten entgegenkommen, wenn diese einen Verkürzungswunsch haben, betont Nold. Nur so könne eine Regelung getroffen werden, von der beide Seiten profitieren. Michael Klumb sieht darin keine Hürde. „Ich habe schon vor ein paar Jahren mit meinem Chef darüber gesprochen. Sobald meine Pläne konkret werden, habe ich das Okay.“

Beitragsbild: Pixabay/HaticeEROL

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