Schon vor dem Haus ist zu sehen, dass hier eine Großfamilie wohnt. Bestimmt neun Fahrräder, Rollschuhe, ein Skateboard und zwei Roller stehen vor dem Eingang. Im Haus riecht es nach Essen, zwei der sechs Kinder spielen Fangen im Flur, die anderen sind im Garten. Sira und Ina sitzen am Esstisch und schneiden Obst für die Kinder, Lilya steht in der Küche und rührt im großen Topf das Mittagessen um. Es wirkt wie eine gewöhnliche Familie, die jedoch alles andere als normal ist.
Die drei Frauen sind Anfang März aus der Ukraine geflüchtet. Unabhängig voneinander sind sie aufgebrochen und letztendlich alle in Dortmund angekommen. Elena Chytralla aus Kamen war direkt zur Stelle. Sie hat zwei Frauen und vier Kinder zunächst bei sich zu Hause aufgenommen und sich später um ein eigenes Haus für die Familien gekümmert. Der Krieg bereitete Elena schlaflose Nächte. Ihr war klar, sie musste etwas tun. Elena hat Sachspenden organisiert, die dann mit einem Transporter an die ukrainische Grenze gefahren wurden. Als die ersten Geflüchteten nach Deutschland kamen, war es nur eine grobe Idee, auch jemanden bei sich zu Hause aufzunehmen. Doch daraus wurde schnell Realität.
Zusammenleben in schweren Zeiten
Anfang März Elena sah auf Facebook einen Aufruf einer Familie, die eine Unterkunft sucht und in wenigen Minuten war die Entscheidung gefallen: „Wir bieten der Familie hier ein Zuhause. Innerhalb von ein paar Stunden haben wir alles umgebaut. Wir haben Vorhänge montiert, Betten und Schlafsofas angeschafft.“ Das Zusammenleben war zunächst für alle eine Herausforderung. Die 34-jährige Sira ist mit ihren zwei Töchtern bei Elenas Familie untergekommen. Kurze Zeit später nahmen sie noch Ina (39) und ihre zwei Kinder auf. Das Leben hatte sich für Elena und ihre eigene Familie grundlegend verändert. Ihr Mann und die zwei Kinder mussten sich dem neuen Alltag anpassen, denn der sah mit sechs Menschen mehr im Haus ganz anders aus: „Man spricht nun mal nicht die gleiche Sprache, man ist halt doch aus unterschiedlichen Kulturen, auch wenn es Europa ist, und auch wenn es gar nicht so weit weg ist, ist es doch einfach ein Unterschied. Es war gerade zu Beginn extrem viel organisatorischer Aufwand, sprich die Meldebehörden, die Ausländerbehörde, das hat wirklich viel Zeit in Anspruch genommen.“ Einfach war diese Zeit für alle nicht, aber sie hat Elena und ihre Gäste zusammengeschweißt. Eine langfristige Lösung war das Zusammenleben in Elenas Haus mit sechs Gästen nicht.
Durch Zufall ist Elena in einer WhatsApp Gruppe auf ein leerstehendes Haus aufmerksam geworden, das für Geflüchtete zur Verfügung gestellt wurde. Da noch ein Zimmer frei war, zog noch eine weitere Mutter mit zwei Kindern dazu. Elena erzählt: „Ich hatte die etwas verrückte Aussage getroffen, dass die Hausbesitzer die Hülle stellen, und ich fülle diese Hülle innerhalb einer Woche. Ein Haus für neun Menschen innerhalb von einer Woche einzurichten, ohne Dinge selbst zu kaufen, sondern tatsächlich nur mit Spenden. Das war herausfordernd, aber machbar.“ Mit vielen freiwilligen Helfer*innen wurden innerhalb einer Woche Wände gestrichen, Boden verlegt, eine Küche ausgestattet und alle Möbel aufgebaut. Alles wurde gespendet, die Küche, das Geschirr, Sofas, Betten, Kleidung und Spielzeug für die Kinder.
Vom leeren Haus zum Zuhause
Jetzt wohnen sie dort zu neunt, schon seit fast drei Monaten, die Mütter Sira, Lilya und Ina mit jeweils zwei Kindern. Jede Mutter hat mit ihren zwei Kindern ein eigenes Zimmer. Jede hat so ihren eigenen Bereich und die Kinder können viel draußen im Garten spielen. Sie versuchen so gut es geht, einem normalen Alltag nachzugehen. „Wir wollten auch keine sechs Kinder haben, jeder von uns hat eigentlich nur zwei, aber wir sind jetzt für alle verantwortlich“, sagt Sira.
Nach kurzer Zeit konnten die älteren vier Kinder zur Grundschule gehen und bekommen zusätzlich Deutschunterricht. Auch der ukrainische Unterricht geht online weiter, geleitet von einer Lehrerin, die selbst nach Deutschland geflüchtet ist. Ina ist in einem deutsch-russischen Nagelstudio angestellt und Lilya überlegt, sich bei einem Friseur zu bewerben.
Nach dem Umzug steht Elena den Geflüchteten weiterhin zur Seite. Auch wenn sie sie jetzt nicht mehr täglich begleiten kann, steht sie bei jeder Frage und bei jedem Problem bereit: „Ich bin weiterhin einfach die Ansprechpartnerin für alle möglichen Belange. Auch aus psychologischer Sicht, wenn es um die Verarbeitung und Besprechung von den Geschehnissen vor Ort geht. Da unterstütze ich ein bisschen seelisch.“ Neben dem emotionalen Beistand erledigt sie auch alle Behördengänge, macht Arzttermine und geht mit den Müttern einkaufen. Für Elena war die Unterstützung zeitaufwendig und kräftezehrend, aber definitiv auch erfüllend. Durch ihre Selbstständigkeit kann sie sich ihre Arbeitszeit selbst einteilen, sonst wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Die ganze Anspannung fiel bei ihr erst ein paar Wochen nach dem Umzug der Familien ab.
Überwindung der Sprachbarriere
Eine große Hürde ist die Kommunikation. Alles geht viele Wochen lang nur über eine Übersetzer-App. Mehr als ein paar Floskeln auf Deutsch beherrschen die drei noch nicht. Hallo, danke, alles gut und Tschus. Das ist vor allem schwierig, wenn es um die Schule der Kinder, Arztbesuche oder Behördengänge geht. Bei so wichtigen Themen gehen vielen Infos über die App verloren oder sind manchmal unverständlich. Nach kurzer Zeit fand sich ein deutsch-ukrainischer junger Mann als Übersetzer, der sich ehrenamtlich engagiert und bei wichtigen Themen mit am großen Tisch sitzt.
Die Kinder lernen in der Schule schnell Deutsch und finden sich gut zurecht. Während eins der Älteren schon mit auf Klassenfahrt war und ab Sommer das Gymnasium besuchen soll, gibt es für die jüngeren Geschwister noch keine sozialen Kontakte. Sie haben keinen Anspruch auf einen Kindergartenplatz, durch den sie Deutsch lernen könnten. Für die vier Schulkinder bietet eine benachbarte Logopädin, einmal die Woche ehrenamtlich deutsche Sprachförderung an.
Deutsch-Ukrainische Nachbarschaft
Das Leben zu neunt ist immer wieder eine Herausforderung. Mit den sechs Kindern wird es nie leise und langweilig, es kommt einem immer vor, als wäre täglich Kindergeburtstag. Elena und alle Nachbar*innen unterstützen durchgehend tatkräftig. Viele bieten Fahrdienste zum Supermarkt an, zeigen die Fahrradwege zum Glascontainer und erklären, wie Mülltrennung und das Pfandsystem funktionieren.
Gastfreundschaft ist den Geflüchteten besonders wichtig: an Feiertagen, Geburtstagen oder auch am Wochenende wird die ganze Nachbarschaft zum Essen eingeladen. Dann sitzen auf einmal 14 Kinder und 18 Erwachsene am Tisch. So lernen die deutschen Nachbarn die ukrainische Küche kennen. Ein Stimmengewirr aus Ukrainisch und Deutsch herrscht im Haus, das Handy mit der App liegt immer auf dem Tisch. Man stößt an mit Wein und Bier auf Frieden, Freundschaft und Nachbarschaft. Die Dankbarkeit ist groß. So eine schwere Zeit bringt unterschiedliche Menschen zusammen, und zeigt, wie viel gemeinsam gelingen kann.
Was die Zukunft bringt
Wie es für die drei Familien weitergeht, weiß noch niemand so richtig. Sira ist Armenierin und hat keinen ukrainischen Pass, obwohl sie mehr als zehn Jahre dort lebte und ihre Kinder dort geboren wurden. Sie hat kein Aufenthaltsrecht in Deutschland, darf hier nicht arbeiten und sieht so keine Perspektive. Sira möchte so schnell es geht zurück in die Ukraine, ihr Mann und der Rest ihrer Familie sind noch dort. Ina hat durch die Arbeit im Nagelstudio Kontakte geknüpft und ein Einkommen, sie sagt, sie möchte für längere Zeit hier in Deutschland bleiben und würde im Herbst gerne mit ihren Töchtern in eine andere Wohnung ziehen. Für sie ist es keine Option, in einem zerstörten Land zu leben
Lilya ist nach Dortmund gekommen, weil ihr Mann hier seit zwei Jahren auf Montage arbeitet. Ihr Mann Wowa ist am Wochenende im Haus, wenn er nicht arbeiten muss. Er hat sein Auto aus der Ukraine mit seinem Werkzeug, Kleidung und anderen persönlichen Gegenständen an die polnische Grenze fahren lassen und es dort abgeholt. Für Lilya ist mit dem Auto ein Stück Heimat mitgefahren, sie freut sich, ihre Kleidung wieder zu haben, die Kinder halten endlich wieder einige ihrer Kuscheltiere fest im Arm. „Es riecht nach Zuhause“, sagt Lilya mit einem strahlenden Lächeln. Wowa und sie möchten wahrscheinlich auch länger in Deutschland bleiben. Wowa möchte nicht zurück in die Ukraine, dort müsste auch er an die Front und kämpfen.
Die Freundschaft bleibt
Elena sieht positiv in die Zukunft: „Ich wünsche mir für alle, dass sie wirklich den Weg gehen können, den sie sich für sich wünschen.“ Den Kriegsverlauf kann niemand absehen, natürlich ist die Ukraine immer noch die Heimat der drei Frauen. Elena wurde von den drei Frauen in die Ukraine eingeladen und hofft, dass die Verbindung zwischen ihr und den drei Frauen bestehen bleibt, auch wenn sie zurück in ihre Heimat gehen: „Sollte der Krieg dann irgendwann beendet sein und sollte das für uns als Familie wieder ein sicheres Reiseland werden, dann werden wir dort hinfahren und die Familien besuchen.“
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