Radsport ist der Kampf gegen die absolute Erschöpfung. Oft machen nur Sekunden den Unterschied aus. Was steht hinter den strahlenden Helden auf zwei Rädern? Wie coacht man ein Radsportteam und wie läuft ein Rennen abseits der Fernsehbilder ab?
Radsportfans werden oft belächelt: „Die fahren doch einfach nur Fahrrad, was soll daran interessant sein?“ Allerdings kann jede Sportart so heruntergebrochen werden: Beim Tennis wird „nur“ ein Ball hin und her geprügelt, bei der Formel 1 „nur“ Auto gefahren und beim Fußball rennen „nur“ alle wie verrückt dem Spielgerät hinterher, um es erneut wegzutreten. Natürlich ist jede dieser Sportarten hoch technisch, emotional aufgeladen und taktisch komplex. Die Begeisterung für den Radsport in Deutschland hat aber vor allem durch die Dopingskandale der 2000er-Jahre rapide abgenommen.
Von diesem Imageschaden erholt sich der Sport immer noch. Im Kern hat er allerdings nichts von seiner Faszination eingebüßt, besonders, wenn man live dabei ist. Die dritte Etappe der Deutschlandtour des Männerradsports steht an. Im malerischen Freiburg wartet der härteste Streckenabschnitt der Deutschlandtour 2022 auf die Fahrer.
Wie funktioniert eigentlich Radsport?
Radsport ist ein Teamsport. Die Teams fahren für Sponsoren. Diese freuen sich über gute Ergebnisse (Werbung) und stellen dementsprechend wieder neues Budget für Fahrer, Personal, Reisekosten und Material. Die wichtigste Person innerhalb des Teams ist der/die Teamchef/in. Diese Person kümmert sich um Fahrerverpflichtungen, handelt Budgets mit dem Sponsor aus und legt den Rennkalender fest. Neben dieser Managerrolle fungiert sie während den Rennen auch als Trainer*in und fährt im Mannschaftswagen direkt hinter den Schützlingen.
Philipp Mamos ist Teamchef des Dauner-Akkon Pro Cycling Teams mit Sitz in Köln.
Als Radprofi war er von 2003 bis 2020 für verschiedenen Teams in Deutschland und Italien aktiv. Auch aufgrund seiner schlanken Statur galt er zu seiner aktiven Zeit als ein Spezialist für bergiges Terrain. Das Terrain spielt beim Radsport eine wichtige Rolle. Es wird unterschieden zwischen flachen, hügeligen und bergigen Passagen, sowie Kopfsteinpflaster. In einem Top-Radsportteam sind sowohl muskulöse Sprinter*innen für flaches Gelände als auch spindeldürre Bergspezialist*innen, die mit ihrem geringen Gewicht der Schwerkraft bei Anstiegen trotzen. Große Rennställe wie „Jumbo Visma“ oder „UAE“ haben zusätzlich zum Männerteam auch eine Damenmannschaft.
Schlachtplan und Start
Die dritte und vorletzte Etappe der Deutschlandtour bietet das ideale Terrain für die teilnehmenden Bergspezialisten: Am Ende der gut 150 Kilometer langen Strecke erhebt sich drohend der Berg Schauinsland, den die Fahrer bis zur Ziellinie in 1200m Höhe hinaufkraxeln müssen.
Philipp und seine Jungs müssen sich vor dem Rennen beim Startpunkt am Freiburger Karlsplatz einschreiben. Der Organisator ruft jedes Team aus und stellt die jeweiligen Fahrer den anwesenden Zuschauer*innen vor. Das Dauner-Akkon Pro Cycling Team nennt er als erstes. Philipp wirkt recht entspannt. Seine sechs Athleten fahren eine Rampe hoch und stellen sich der Startnummer nach auf: Kapitän Frederik Raßmann als erstes. Im Gegensatz zu Philipp ist die Nervosität vor dem Start bei seinen jungen Radprofis spürbar. Keiner ist über 25 Jahre alt. Der unerfahrenste, Noé Ury aus Luxemburg, ist gerade einmal 18. Das ist das Mindestalter. Er ist sogar im gesamten Fahrerfeld der Jüngste. Die Deutschlandtour ist für die jungen Radprofis von Dauner-Akkon das Highlight des Jahres. An der Tour de France zum Beispiel dürfen nur absolute Top-Teams teilnehmen. Das öffentliche Interesse und der Medienrummel sind für die jungen Radprofis von Dauner-Akkon die ideale Gelegenheit, um sich ins Rampenlicht zu fahren. Der junge Roman Duckert hat es bereits am Vortag geschafft, sich auf einem längeren Streckenabschnitt vor dem Rest der Fahrer in einer kleinen Gruppe lange Zeit an der Spitze des Rennens zu halten. Ein Coup, der auch heute gelingen soll. Der Etappensieg ist mit Konkurrenten, wie Egan Bernal, dem Tour de France-Sieger von 2019, oder anderen prominenten Radsportgrößen, wie Adam Yates und Bauke Mollema, noch einen Schritt zu groß.
Nachdem der Organisator das letzte Team vorgestellt hat, setzt Philipp sich in den Mannschaftswagen.
Oben auf dem Dach stehen mehrere Ersatzräder.
Vorne im Wagen hängt ein Funkgerät, mit dem der Teamchef zu seinen Fahrern Kontakt aufnehmen kann, die alle mit einem Sender und einem Knopf im Ohr ausgestattet sind. Auf der Rückbank sitzt Niklas, der Mechaniker. Er hilft Philipp bei der Verpflegung der Fahrer während des Rennens, reicht ihm Trinkflaschen und Energieriegel an, die der Teamchef seinen Schützlingen durch das Fenster angibt. Für den Notfall hilft er den Jungs natürlich auch bei Defekten, allerdings kommt das seltener vor.
Während der kurzen Ruhepause vor dem Startschuss erklärt Philipp nochmal seinen Schlachtplan: „Wir werden wieder alles daransetzen, dass jemand in die Spitzengruppe kommt. Das hat in den letzten Tagen schon gut funktioniert.“ Mit Spitzengruppe meint Philipp die Ausreißergruppe. Im Radsport ist es üblich, in großen Gruppen zu fahren, um sich vor dem Fahrtwind zu schützen. So können bis zu 30 Prozent der Kräfte gespart werden. Die größte Gruppe nennt man Hauptfeld oder auch Peloton. Dort fährt meistens der Gesamtführende der Rundfahrt mit seinem Team, um das Rennen zu kontrollieren. Bei der Deutschlandtour ist der Führende heute der Italiener Alberto Bettiol. Er ist die bisherigen 373 Kilometer der Rundfahrt in neun Stunden und zweieinhalb Minuten gefahren. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 41 Kilometern pro Stunde. Kein anderer Fahrer war schneller. Bettiol trägt damit heute das rote Trikot des Gesamtführenden.
Im Auto ist Philipp mit dem Tourfunk verbunden. Der Sportliche Leiter der Deutschlandtour informiert die Teamchefs regelmäßig über den Verlauf des Rennens. Er gibt nun durch, dass die neutrale Phase der Etappe in wenigen Minuten startet.
Neutrale Phase und Positionskämpfe
Das Fahrerfeld setzt sich langsam in Bewegung und fährt am Mannschaftswagen vorbei. Die 20 Teamwagen inklusive Philipps folgen. Bis alles sortiert ist und die Radprofis aus den engen Straßen Freiburgs raus sind, fahren sie locker an. Das heißt im Radsport neutrale Phase. Nach wenigen Kilometern gibt der sportliche Leiter das Signal für freie Fahrt und Philipp setzt sich sofort mit seinen Jungs in Kontakt: „Alles klar, fahrt vorne, bleibt zusammen und versucht euch abzusetzen!“
Eine der wichtigsten Eigenschaften eines Profiradsportlers ist, sich im Fahrerfeld optimal positionieren zu können. In jeder Etappe wollen sich Athleten absetzen, aber oft scheitert es daran, dass sie zum Zeitpunkt eines entscheidenden Antritts eines Ausreißers nicht vorne positioniert sind. „Ich hoffe, Roman schafft es wieder wie gestern. Er hat schon 5 Bergpunkte, vielleicht kann er sich heute sogar das Bergtrikot schnappen“, wirft Mechaniker Niklas von der Rückbank ein. Bergpunkte bekommen die ersten Fahrer, die einen Gipfel passieren, bevor es in die Abfahrt geht. Der Gewinn der Bergtrikots der Deutschlandtour wäre für das kleine Team aus Köln ein großer Erfolg.
„Several Riders escaped from the peloton, they got 1 minute!“, ertönt wieder der Tourfunk. Hinter dem Hauptfeld kann Philipp nicht sehen, ob sich ein Fahrer von Dauner-Akkon abgesetzt hat. So wartet er gebannt auf weitere Neuigkeiten, welche Fahrer es in die Ausreißergruppe geschafft haben.
Die erste Bergwertung
Philipp gibt den Tourfunk an sein Team weiter: „Eine Gruppe ist vorne, eine Minute Zeitabstand, ist jemand von euch dabei?“. „Fred ist vorne“, kommt die knappe Antwort von Roman, der es heute leider nicht in die Spitzengruppe geschafft hat.
„Number 171, Frederik Raßmann, wins first mountain classification“, meldet sich der Tourfunk wenige Minuten später erneut. Niklas ist begeistert und selbst Philipp wirkt beeindruckt. „Sehr gut, Fred! Weiter so!“ feuert der Teamchef seinen Kapitän an.
Fred hatte es tatsächlich geschafft vor den anderen in seiner Ausreißergruppe den Gipfel des ersten Anstiegs zu passieren. Er hat damit sogar den Führenden in dieser Wertung, Jakob Geßner, auf die Plätze verwiesen. „Der Geßner wird sich ärgern, hab gehört der wollte mit seinem Team nach Malle, wenn er das Bergtrikot gewinnt“, frohlockt Niklas. Philipp ist jetzt gefordert. Er muss sicherstellen, dass seine Jungs im Hauptfeld mit Flüssigkeit und Energieriegeln versorgt sind. „Wenn der Zeitabstand der Ausreißergruppe weiter anwächst, fahren wir nach vorne am Hauptfeld vorbei, um Fred zu unterstützen und können die Fahrer hinten erstmal nicht mehr verpflegen“, eröffnet der Teamchef.
„They got 5 minutes in front!“
Das reicht für Philipp. Er bittet beim sportlichen Leiter um Freigabe am Hauptfeld und den anderen Teamfahrzeugen vorbeizufahren, um Fred in der Spitzengruppe einzuholen.
Flaschendienst und Formel 1
„Team Dauner-Akkon, go!“ Darauf hat Philipp gewartet. Sofort beschleunigt er und manövriert das nicht gerade schmale Teamfahrzeug am Fahrerfeld vorbei. Das Tempo von Freds Gruppe an der Spitze liegt bei 40 bis 50km/h. Um den Zeitabstand von nun mehr als 7 Minuten aufzuholen, rast der Mannschaftswagen so schnell es geht durch kleine, kurvenreiche Ortschaften mit Tempolimit 30. Die Strecke ist natürlich abgesperrt. Vollkommen sicher ist das aber nicht: „In meiner aktiven Zeit ist einmal ein Hund auf die Fahrbahn gelaufen. Bei der Geschwindigkeit machst du da nichts. Die Zuschauer müssen aufpassen. Es macht natürlich auf der einen Seite Spaß hier durchzurasen, aber ich habe immer im Hinterkopf, dass etwas passieren könnte“, erzählt der Teamchef, während er über die Straßen jagt.
„Da vorne sind sie!“ Philipp erkennt als erster eine kleine Gruppe, die über den Asphalt schießt. Im hellblauen Trikot sticht Fred direkt ins Auge. Der Teamwagen schließt auf und der junge Radprofi verlangsamt sein Tempo, um durch das offene Fahrerfenster Anweisungen zu erhalten: „Ganz stark, Fred! Mach locker, spar dir deine Kräfte ein. Fahr nicht länger im Wind als die anderen. Ihr habt sieben Minuten Vorsprung. Ich denke, ihr schafft es sogar bis zum letzten Anstieg, vorne zu bleiben.“ Niklas reicht Philipp von hinten eine Flasche und ein paar Riegel an, die er durchs Fenster an Fred weitergibt.
Danach hält Philipp am Straßenrand, steigt mit Niklas zusammen aus und wartet wieder auf das Hauptfeld.
Der Teamleiter und der junge Mechaniker nutzen die Gelegenheit und reichen ihren Schützlingen im Vorbeifahren noch einmal Trinkflaschen an.
Der finale Anstieg
Nachdem das Fahrerfeld an Philipp und Niklas vorbeigerauscht ist, steigen sie schnell ins Teamfahrzeug und fahren wieder hinterher. Das Tempo ist jetzt bedeutend höher.
Die Anwärter auf den Gesamtsieg setzen alles daran, die Ausreißer vor der Ziellinie abzufangen. 70 Kilometer vor dem Ziel hatte Freds Ausreißergruppe noch sieben Minuten Vorsprung. Kurz vor dem finalen Anstieg ist es nur noch knapp über eine Minute.
Passend zur Dramaturgie des Rennens beginnt es nun heftig zu regnen.
„Jetzt geht es richtig los“, sagt Philipp und greift nochmal zum Funkgerät: „Ihr kennt den Anstieg, wir haben hier trainiert. Alle nach vorne, ich will keinen hinten fahren sehen! Fred, klasse Junge, so lange wie möglich durchhalten.“
Der Anstieg beginnt. Sofort geht es auf die zwölf Prozent steile Rampe nach oben. Im Durchschnitt beträgt die Steigung bis zum Ziel sechs Prozent. Der Tourfunk überschlägt sich jetzt. Eine Meldung nach der anderen dringt an Philipps Ohren und hält ihn über den Verlauf des Rennens im Bilde. Freds Gruppe zerfällt. Der Belgier Harm Vanhoucke setzt sich an die Spitze und lässt Fred und die anderen fünf Fahrer hinter sich.
Dicht dahinter folgt das Hauptfeld. Der sportliche Leiter kommt kaum hinterher die Fahrer zu nennen, die dem mörderischen Tempo zum Opfer fallen. „Egan Bernal, dropped! Bauke Mollema, dropped! Simon Geschke, dropped!“. Selbst gestandene Top-Profis können dem Tempo nicht mehr folgen. 10,5 Kilometer vor dem Ziel wird der völlig erschöpfte Fred vom erheblich ausgedünnten Hauptfeld geschluckt.
Der Teamwagen von Dauner-Akkon kann nun problemlos an den kleinen Grüppchen der abhängten Radprofis vorbeifahren und zu Fred aufschließen. Immer, wenn er an einem hellblauen Trikot vorbeifährt, nimmt Philipp sich die Zeit seinen jeweiligen Fahrer zu motivieren. „Komm schon, häng dich an die drei da vorne dran, die fahren ein gutes Tempo. Mit denen kommst du ins Ziel.“ So versucht er Fred noch einmal pushen, als er zu ihm aufgeschlossen hat.
Vorne macht Adam Yates das Rennen. Er wird die Etappe mit 30 Sekunden Vorsprung gewinnen und sich die Gesamtführung auch am nächsten Tag nicht mehr nehmen lassen.
Philipp fährt weiter geduldig neben seinen abgehängten Jungprofis her. Er wirkt sehr zufrieden.
Ankunft und bekannte Gesichter
Der Teamwagen passiert die Ziellinie am Gipfel des Schauinsland und hält knapp 500 Meter dahinter neben dem Mannschaftsbus. Die Stimmung ist trotz des schlechten Wetters ausgelassen. Die Freude des Teams über Freds überragende Leistung ist ansteckend. Er ist fast die ganze Etappe vorne gefahren und hat die Farben des Sponsors einem internationalen Publikum präsentiert. Kurz nach der Zieleinfahrt wartet eine besondere Überraschung: Ein breiter Typ mit gegelten blonden Haaren kommt an die Fahrerseite und schüttelt Philipp grinsend die Hand. Der „Gorilla“ André Greipel, deutsche Radsportlegende und elfmaliger Tour de France-Etappensieger zwinkert ins Wageninnere und gratuliert zum Erfolg der Mannschaft. Die muss sich jetzt erstmal von den Strapazen der Etappe erholen. Alle werden direkt in den Teambus verfrachtet, um sich im Schutz vor dem Regen erstmal der nassen Trikots zu entledigen. Morgen startet die nächste Etappe in Stuttgart und das Team wird in einem nahegelegenen Hotel neue Kräfte sammeln.
„Alles läuft nach Plan. Wir haben jeden Tag in der Spitzengruppe mitgemischt. Alle sind noch dabei. Keiner musste aufgeben. Der Sponsor war erst skeptisch, als ich nach Budgets für ein Trainingslager im Vorfeld der Tour gefragt habe. Aber ich denke, es hat sich gelohnt,“ resümiert Philipp, während er wenig später zurück ins Tal nach Freiburg fährt.
Beitragsbild: David Sander