Jazz schafft ein Gefühl von Gemeinsamkeit und kann Generationen verbinden. Im domicil treffen sich Musiker*innen und das Publikum zur Monday Night Session. Die Wirkung der Musik lässt Menschen ins Gespräch kommen, erklärt Musikwissenschaftler Hauke Egermann.
Es ist kurz vor halb sieben. Nach dem zweiten Klopfen macht jemand die Tür auf. „Ich bin für den Opener da“, sagt Jakob. Er war es, der geklopft hat. Über den schwarz-weiß gefliesten Boden geht es an einer Theke entlang. Auf ihr umgedrehte Barhocker. Dahinter führt eine große Treppe in die zweite Etage. Während Jakob das goldene Geländer greift und die ersten Stufen hochgeht, erklingt ein dumpfer Bass. Er wird mit jedem Schritt lauter, den Jakob Richtung Obergeschoss macht. Ein Saxophon und Piano kommen dazu. Jakobs Ziel ist die kleine Bar, in der jeden Montag die Jamsession stattfindet.
Jakob Hein ist 17 und schon jetzt ein begnadeter Schlagzeuger. Vor neun Jahren saß er das erste Mal auf dem Hocker zwischen Snaredrum und Ridebecken. Zuhause lernte er zunächst auf Kochtöpfen, heute spielt Jakob unter anderem für das Jugendjazzorchester NRW und das East-West-European-Jazz-Orchester. Ausgebildet wird der Abiturient aus Unna an der Glen Busch Jazzakademie in Dortmund. Diese arbeitet mit dem domicil zusammen. Die Monday Night Session bietet aber nicht nur den Musiker*innen der Akademie eine Möglichkeit zum Jammen.
Bevor alle Musiker*innen die Bühne betreten, beginnt der Abend mit dem Opener. Heute sind Jakob und seine Freunde aus der Akademie dran. Der Bass strömt durch den Verstärker und füllt den kleinen Raum. Die Wände sind schwarz gestrichen, die Fenster verdunkelt. Tageslicht sieht hier niemand. Links neben dem Eingang befindet sich ein kleiner Tresen. Lediglich ein großer Spiegel im Regal reflektiert das Licht auf der einen Seite des Raumes. Orange und violett leuchtet es aus den Scheinwerfern, die über der kleinen Bühne an Traversen hängen. Die Spielfläche erinnert eher an eine kleine Erhebung als an eine wirkliche Bühne. Vor ihr stehen fünf kleine runde Tische, an denen bereits die ersten Personen sitzen. Ein älteres Ehepaar ist zuerst da. Ein paar Minuten später setzt sich eine Gruppe junger Menschen neben sie. Ein sechster Tisch steht weiter hinten. Auf ihm steht ein kleines Soundpult. Bedient wird es von einem jungen Mann – volltätowiert mit Vokuhila. Wären die Outfits der Menschen nicht so modern und wäre der Raum nicht frei von Nikotinschwaden, man könnte meinen, dass sich diese Szenerie in einem kleinen Keller der 1950er abspielt.
In seinem schwarz-grünen Hemd mit dunkler Jeans und blauen New Balance sitzt Jakob hinten rechts auf der Bühne. Hier reflektiert das Licht auf dem Chromrahmen des weißen Schlagzeugs. Darunter ein roter Teppich, neben dem Kabel kreuz und quer verteilt liegen. Einige verschwinden in den Verstärkern und Lautsprechern. Andere wiederum in der Wand. Auf das Solo des Pianisten folgt das des Saxophonisten. Jakob hält den Takt und führt durch den Song. Während das Publikum aufmerksam zuhört, wird die Luft langsam wärmer. Es wird voller und die Menschen stehen dicht an dicht. Ein Punker neben einer älteren Dame. Direkt daneben eine Gruppe von Studierenden, dahinter zwei Männer im Anzug an der Bar. Während die einen mit dem Kopf nicken, tippen die anderen im Takt mit dem Fuß. Gesellschaftliche Unterschiede scheinen in diesem Moment egal. Es entsteht ein Gefühl, wie es sonst nur durch Straßenmusik in Porto geschieht am Ufer des Douro, in einem Pariser Café oder in den Gassen New Yorks, wenn sich plötzlich Musiker*innen zusammenfinden und das Publikum mit ihrem Können begeistern. Doch egal, was sich das Publikum vorstellt, es entsteht vor allem ein Gefühl von Gemeinsamkeit.
Gemeinsamkeiten durch die Musik
Dieses Gefühl liegt in dem evolutionären Ursprung der Musik. Hauke Egermann ist Professor für systematische Musikwissenschaften an der TU Dortmund. Mit der Frage, welche emotionale Wirkung Musik auf uns Menschen hat, beschäftigt sich der Wissenschaftler schon seit rund 20 Jahren. „Eine Verbindung, die auf Musik basiert, entsteht, weil es früher zwischenmenschlich schlicht notwendig war. Diese Notwendigkeit reicht in eine Zeit zurück, in der Menschen noch keine richtige Sprache entwickelt hatten“, sagt Hauke Egermann. Schon immer waren Menschen als Babys von der Unterstützung ihrer Eltern abhängig. Schreit ein Baby, reagieren Eltern auf die Emotionen des Kindes. Das ist Teil der akustischen Kommunikation, erklärt Egermann. Gruppenmitglieder tauschen so auf akustische Weise ihre Empfindungen aus. Zudem können Menschen die Emotionen fühlen, die akustisch geäußert werden. Egermann beschreibt dieses Fühlen als eine Art Empathie. Die Forschung geht davon aus, dass sich aus einer prototypischen Sprache, die zwischen Musik und unserer heutigen Sprache liegt, zwei Kommunikationsstränge entwickelt haben: unsere Sprache und die Musik.
Gegen kurz vor neun geht die kleine Tür zum Club auf und weitere Musiker*innen kommen herein. Sie bleiben kurz stehen und hören Jakob und den anderen zu. Noch haben sie ihre Jacken an und die Instrumente in Taschen verstaut. Mal sind die kleiner. Mal so groß, dass zwei Kontrabässe hineinpassen könnten. Jakob spielt noch zwei Lieder, bevor die Session startet. Während der Lieder herrscht völlige Ruhe, in den kleinen Pausen kommt das Publikum ins Gespräch. Nach ein paar Liedern ist nicht mehr eindeutig, ob sich die Menschen erst seit fünf Minuten oder bereits seit fünf Jahren kennen. Auch Jakob geht das oft so. Gerade Gespräche mit Älteren seien wichtig, findet er. „Eigentlich würde man ja nie mit denen reden, wenn man die auf der Straße trifft. Aber über die Musik eben schon.“
Da kein zweiter Schlagzeuger da ist, bleibt Jakob zunächst sitzen. Zu ihm gesellen sich spontan ein Trompeter und ein Gitarrist. Nach einer Minute kommt noch ein Bassist dazu. Er ist Mitte 50, trägt Brille und ein blaues Hemd in der Jeans. Das ist Ben Schweizer. Es ist nicht das erste Mal, dass Jakob mit dem Mathe-Professor spielt. Die beiden haben sich im domicil kennengelernt und spielen ab und an montags zusammen. Auf der Bühne ist das Alter für Ben irrelevant. Ob jemand 17 oder 70 ist, mache keinen Unterschied. „Aber es ist noch mehr als das. Wir begegnen uns total vorbehaltlos. Diese Offenheit ist, glaube ich, neu in unserer Zeit.” Kultur sei besonders wichtig für die Gesellschaft. Jazz steche dabei heraus. „Ich bin mit den jungen Leuten befreundet. Natürlich ist ein Altersunterschied da, aber den bemerke ich im Miteinander nicht wirklich.”
Musik kreiert Emotionen
Wie werden Emotionen durch Musik kreiert? Hauke Egermann nennt verschiedene Faktoren, wenn er die Frage beantwortet. Menschen lernen, Musik mit emotionalen Erlebnissen zu verknüpfen. In Filmen etwa werden Szenen mit bestimmter Musik unterlegt, um gezielt Gefühle bei den Zuschauer*innen hervorzurufen. Egermann sagt zudem, dass wir jeden Tag mit Musik konfrontiert sind. So lernen wir verschiedene Stile kennen. Dieses Wissen kann dann Erwartungen hervorrufen. Nach einer Tonfolge erwarten wir zum Beispiel bestimmte Töne als nächstes. Unser sympathisches Nervensystem ist für die unkontrollierte Steuerung der Organaktivitäten zuständig. Bestimmte Klänge lösen direkt Emotionen in uns aus. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Wecker am Morgen. Das Klingeln kann verschiedene Emotionen wie Aufregung oder Angst auslösen, durch die wir aufwachen. Durch all dies können geteilte Erfahrungen entstehen, erläutert Egermann.
In einer Pause geht Jakob an die Bar, um etwas zu trinken. Auf dem Weg dorthin begrüßt er einen Mann. In seinem dunkelblauen Hemd mit schwarzer Hose könnte er unauffällig wirken. Doch die langen grauen Haare und der Bart bewirken das Gegenteil. Uwe Plath ist erster Vorsitzender des domicil Dortmund e.V. Die Monday Night Session ist für ihn etwas ganz Besonderes. Das domicil ist erst seit 2006 in dem alten Kino an der Hansastraße, doch bereits 1997 trafen sich Musiker*innen an der Möllerbrücke zum Spielen. „Heute ist mir vor allem auch die Jugendförderung wichtig“, sagt Uwe Plath. Er verbringt so gut wie jeden Montagabend im domicil. Das Publikum sei immer unterschiedlich und niemand wisse, wer am Abend die kleine Bar betritt. Probleme gebe es deswegen nicht. Im Gegenteil – das gemischte Publikum trage zur Atmosphäre bei. Egal ob ältere Stammgäste, junge Gäste oder auch Musiker*innen, die nach einem Auftritt auf einer anderen Bühne in Dortmund vorbeischauen. „Teilweise ändert sich die Stimmung sogar halbstündlich.“ Für Plath sei das mit das Wichtigste. Noch heute über 50 Jahre nach der Gründung könne so ein Domizil für das Publikum und die Musiker*innen geschaffen werden. Jazz verbindet. „Die sprechen ja alle dieselbe Sprache“, sagt Plath.
Die Sprache der Musik
Stimmt das? Kann Jazz als Sprache verbinden? Hauke Egermann sieht auch hier einen evolutionären Ursprung: Verknüpft mit der Art und Weise, durch die Musik in Menschen Emotionen weckt, kann Musik als eine Sprache gesehen werden. Diese hilft dabei, Emotionen und Gefühle zum Ausdruck zu bringen oder hervorzurufen. Musiker*innen sind dabei in der Lage, diese Sprache sowohl zu verstehen als auch zu sprechen. Spannend findet Egermann den Blick auf Nicht-Musiker*innen. Sie sind vielleicht nicht in der Lage, die Sprache der Musik zu sprechen. Aber sie können sie verstehen. Durch die Gefühle können soziale Bindungen entstehen, sagt Egermann. „Musik verbindet Gruppen. Und Generationen sind genauso Gruppen wie jede andere Art von sozialer Struktur.“
Doch Musik allein – da sind sich Jakob, Ben und Uwe einig – kann es nicht schaffen, Menschen zueinander zu führen. Es müsse Räume geben, in denen sich die Menschen begegnen können. In denen tolerant miteinander umgegangen wird. Die drei fühlen sich im domicil genau richtig und sehen darin einen eben solchen Raum.
Für Jakob ist der Abend wenig später vorbei. Er muss am nächsten Morgen früh raus. Hinter ihm läuft die Session noch weiter. Auf der Bühne steht Ben mit seinem cremefarbenen Bass in der Hand. Jakob lächelt ihm zu, dann drückt er den Türgriff. Auf dem Weg nach draußen wird die Musik langsam leiser. Es ist halb zwölf. Jakob muss seine Bahn bekommen.
Beitragsbild: Bennet Brinkmann
Die Stimmung bei der monday night session ist unbeschreiblich. Viele junge Leute, die sonst eher nicht in Jazzkonzerte gehen, stehen am Tresen oder hinter den wenigen Sitzplätzen. Spannend ist, wer nach dem Opener auf die Bühne kommt und was sich zwischen den Musiker:innen ergibt. Nur eins ist klar, immer etwas Faszinierendes.