Wie queere Migrant*innen in zwei unterschiedlichen Welten leben

Homosexualität ist in vielen Ländern immer noch strafbar. Daher führen viele queere Migrant*innen in ihrer Heimat ein Doppelleben. Auch Anas Azzam hat diese Erfahrung gemacht. Nun setzt er sich für queere Geflüchtete ein.

Endlich ist es für Anas Azzam Zeit, einen großen Schritt in seinem Leben zu gehen. Zeit, seine Angst zu überwinden. Der 16-Jährige lebt in Syrien und wird sich bei seinen Eltern outen. Auf den Moment ist er vorbereitet. Zuvor hat er im Internet Coming-out-Videos gesehen, in denen die Eltern die geouteten Personen mit offenen Armen empfangen. Ähnliches hat er sich von seinen Eltern erhofft.

Anas Azzam ist seit 5 Jahren in Deutschland und hat eine Ausbildung als Deutsch-Arabisch-Übersetzer und Dolmetscher gemacht. Foto: Mounzer Iskif

Anas geht ins Zimmer. Ganz entspannt sagt er zu seiner Mutter: „Übrigens, ich bin schwul.“ Seiner Mutter kommen die Tränen. Am Ende sagen seine Eltern, Anas‘ Homosexualität sei eine Krankheit, er müsse sich in Behandlung begeben. Ganz schlimm sei es für ihn nicht gewesen, denn auch damit war zu rechnen. Anas beschreibt seine Eltern als konservativ, sie kämen aus einer anderen Generation, deshalb hätten sie ihn nicht direkt akzeptiert. Inzwischen würden sie ihn teilweise tolerieren. Seine engsten Freund*innen beschreibt Anas als weltoffen. Bei ihnen habe es keine Probleme gegeben.

Abseits seines privaten Umfelds musste sich Anas in Syrien wegen seiner Homosexualität oft verstecken und konnte nicht er selbst sein. Seit fünf Jahren lebt er in Deutschland und führt eine homosexuelle Beziehung. In Essen hat der 24-Jährige eine Ausbildung als Deutsch-Arabisch-Übersetzer und Dolmetscher gemacht.

Homosexualität ist ein Tabuthema

Homosexualität ist in einigen Kulturen, zum Beispiel in arabischen Ländern, immer noch ein Tabuthema. Viele Menschen aus der LGBTQIA+-Szene trauen sich nicht überall, offen über ihre sexuelle Orientierung zu sprechen. Sie haben außerdem ein Problem, sich in ihren Heimatländern zu vernetzen. Auch Anas hatte damals in Syrien keine Möglichkeit dazu. Oft treffen sich die Menschen in geheimen Gruppen oder im Internet über Chatgruppen, zum Beispiel über Facebook.

Wofür steht LGBTQIA+?
LGBTQIA+ ist die englische Abkürzung für Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer, Intersexual und für Asexual. Auf Deutsch steht es für lesbisch, schwul, bisexuell, trans, queer, intersexuell und asexuell. Das + schließt weitere Geschlechtsidentitäten ein.

Homosexualität ist illegal

Dem Lesben- und Schwulenverband (LSVD) zufolge wird Homosexualität in 69 Staaten strafrechtlich verfolgt. Brunei, der Iran und Jemen, Mauretanien, Nigeria sowie Saudi-Arabien verhängen die Todesstrafe für Homosexuelle. Ähnlich ist es in Afghanistan, Pakistan, Katar, Somalia und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dort können Homosexuelle unter bestimmten Umständen zum Tode verurteilt werden. Außerdem unterdrücken staatliche Behörden LGBTQIA+-Personen und verweigern ihnen Schutz vor Anfeindungen und Gewalt. Da Homosexualität als illegale Handlung gilt, gibt es keine Antidiskriminierungsgesetze gegenüber LGBTQIA+-Personen.

Laut der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) drohen Homosexuellen beispielsweise in Syrien Geldstrafen und bis zu acht Jahre Haft. Es gibt außerdem rechtliche Hindernisse für die Meinungs- und Geschlechtervielfalt. Zum Beispiel erkennt der Staat die gleichgeschlechtliche Ehe und das Zusammenleben nicht an.

Gesetzte zur sexuellen Orientierung in der Welt
Gesetze zur Sexuellen Orientierung in der Welt. Quelle: ILGA World

Als Anas sich outete, war ihm nicht klar, dass ihm acht Jahre Gefängnis drohen würden. Die strafrechtlichen Konsequenzen seien ihm nicht bewusst gewesen. Er sei damals jung und naiv gewesen, sagt er. Später, mit 18, wurde ihm der Ernst der Lage bewusst. Er musste seine Sexualität verbergen, bis er 2017 Syrien verließ.

In Syrien werden Menschen der LGBTQIA+-Familie nicht direkt diskriminiert. Auch Anas habe in Syrien keine Diskriminierung oder Missbräuche erlebt. Das liege aber daran, dass Sexualität in der Gesellschaft versteckt sei und niemand sie frei auslebe. Die Menschen würden nicht darüber reden. Diejenigen, die ihre Sexualität frei ausleben, seien Opfer von Diskriminierungen. Beispielsweise würden Vermieter*innen trans-Menschen aus ihren Mietwohnungen schmeißen, sobald sie feststellen, dass der*die Mieter*in queer ist. Das könne dazu führen, dass diese sich auf den Straßen prostituieren, sagt Anas.

In Ländern, in denen Homosexualität kriminalisiert wird, müssen sich queere Personen verstecken oder sich den gesellschaftlichen Normen anpassen. Sie haben oft zwei Leben mit zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten. Eine versteckte Persönlichkeit und eine, die die Gesellschaft von ihnen erwartet.

Train of Hope

Anas engagiert sich in dem Flüchtlingshilfeverein Train of Hope in Dortmund. Dort unterstützt er andere Menschen, denen es genauso erging wie ihm, als er neu in Deutschland war und Hilfe brauchte. Der Verein beschäftigt sich mit den Belangen der Geflüchteten und insbesondere junger geflüchteter Menschen sowie Jugendlicher mit Zuwanderungshintergrund.

Queers of Hope ist ein Arbeitskreis von Train of Hope. Er ermöglicht queere Menschen, in einem geschützten Raum zusammenzukommen und sich auszutauschen. Foto: Mounzer Iskif

Der Arbeitskreis Queers of Hope ist Teil des Vereins. Er ermöglicht es Menschen mit Fluchterfahrung und LGBTQIA+-Bezug, in einem geschützten Raum zusammenzukommen und sich auszutauschen. Betroffene sowie Ehrenamtliche haben Queers of Hope 2016 gegründet, als sie in Flüchtlingsunterkünften viel Gewalt erlebten. Anas hat den Arbeitskreis 2019 geleitet.

Für Anas spielte der Verein eine wichtige Rolle, um seine Persönlichkeit zu entwickeln. Dort wurden ihm Dinge im Umgang mit seiner sexuellen Orientierung bewusst, die er vorher nicht kannte. Zum Beispiel, wenn es darum geht, sich gegenüber Verwandten oder in der Öffentlichkeit zu outen. Anas legt großen Wert darauf, dass der Verein und die Gesellschaft queere Themen diskutieren. „Deswegen war es für mich immer ein Anliegen, anwesend zu sein und anderen von queeren Themen zu erzählen“, betont er. Für viele sei das Thema sexuelle Orientierung immer noch ein Tabuthema. Menschen würden versuchen, es zu vermeiden. Daher sei es für ihn wichtig, dass das Thema hier vertreten ist.

Ratschläge auf allen Ebenen

Selda Ilter-Şirin ist Antidiskriminierungsberaterin mit dem Schwerpunkt LGBTQIA+ und Gender beim Verein Train of Hope. Foto: Mounzer Iskif

Besonders wichtig ist Train of Hope für queere Migrant*innen, gerade, wenn sie unsicher sind, wie sie mit ihrer sexuellen Orientierung umgehen sollen. Zum Beispiel beim Thema Coming-out. Der Verein bietet viele Unterstützungs- und Beratungsangebote und leistet vor allem Aufklärungsarbeit. Denn das sei ein wichtiger Bestandteil, um Probleme der Community zu bekämpfen, sagt Selda Ilter-Şirin. Sie ist Antidiskriminierungsberaterin mit dem Schwerpunkt LGBTQIA+ und Gender beim Verein Train of Hope. Ilter-Şirin betont, dass Aufklärungsarbeit wichtig ist, damit Rassismus-Begegnungen zum Beispiel gegenüber queeren Migrant*innen nicht zum Alltag werden.

So gehen die Berater*innen zum Beispiel das Thema Coming-out differenziert an. Zunächst kommen die Betroffenen allein in einen Raum mit der beratenden Person, damit sie sich wohlfühlen. Dann geht es um die Frage, wo und wie Betroffene sich outen, ob sie sich überhaupt outen müssen und ob sie sich nur in der Familie oder auch im Arbeitsbereich outen. Während des Prozesses begleitet die Beratungsstelle sie auf ihrem Weg, wenn sie es möchten.

Das nehme sehr viel Zeit in Anspruch und belaste die Betroffenen psychisch stark, sagt Ilter-Şirin. Ziel der Beratung ist es, die Betroffenen stark zu machen, über ihre Ängste zu sprechen und diese gemeinsam zu überwinden.

Probleme der LGBTQIA+-Community unter Migrant*innen

Auch in Deutschland haben es Migrant*innen aus der LGBTQIA+-Community nicht leicht. Ilter-Şirin schätzt die Situation der Community als problematisch ein. Das liege daran, dass queere Migrant*innen meist ein Problem damit haben, frei über ihre sexuelle Orientierung zu sprechen. In ihren Heimatländern würden sie Homosexualität nicht thematisieren, weil sie es mit Todesstrafe oder Gefängnis in Verbindung bringen. Daher hätten viele Menschen Angst, sich zu outen. Auch, weil die Gesellschaft Homosexualität als Tabuthema ansehe.

Ilter-Şirin sieht Mehrfachdiskriminierung in Deutschland als ein großes Problem. Das bedeutet, dass andere Menschen queere Migrant*innen aufgrund mehrerer Faktoren diskriminieren. „Weil sie Schwarz sind, weil sie homosexuell sind, weil sie sich outen“, sagt Ilter-Şirin. Außerdem würden auch Minderheiten die Migrant*innen diskriminieren, zum Beispiel, wenn andere People of Color Anas diskriminieren, weil er schwul ist. Diskriminierungsbegegnungen gegenüber queeren Migrant*innen seien mit physischer und/oder psychischer Gewalt verbunden.

Ein weiteres Problem ist, dass einige dieser Menschen Fluchterfahrungen haben. Nicht jede Person ist darauf vorbereitet, eine Fluchtperson zu sein. Das macht sie psychisch zusätzlich fertig, betont Ilter-Şirin.

Hoffnungsblick in die Zukunft

Um dem Problem der Tabuisierung, Diskriminierung und des Rassismus überall auf der Welt entgegenzuwirken, reiche es aus Ilter-Şirins Sicht nicht aus, nur aufzuklären. Wichtiger sei es, dass Menschenrechte nicht nur auf dem Papier existieren. Die Politik und die Gesellschaft müssten sie auch umsetzen, betont Ilter-Şirin.

Auch Anas findet die Situation für queere Menschen in Deutschland noch nicht perfekt. Er blickt aber positiv in die Zukunft und sagt: „Ich wünsche mir mehr Akzeptanz, mehr Offenheit und dass Menschen das Thema offener angehen. Sie sollen miteinander reden statt gegeneinander.“

Beitragsbild: Unsplash/Alexander Grey

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