Vom Industriegelände zum urbanen Stadtquartier: An der Rheinischen Straße soll das neue Viertel SMART RHINO entstehen. Die Visionen der Projektbeteiligten dafür sind groß, doch so leicht umsetzbar sind sie nicht.
Rechts eine Spielhalle, links ein Sexshop. Die Rheinische Straße führt vorbei an Dönerbuden, Asia-Markt und Indischem Restaurant. Etwas dreckig, etwas asozial. Aufgehübscht durch bunte Graffitis und grüne Bäume. Das ist die Straße, an der das größte Städtebau-Projekt der Stadt Dortmund entstehen soll. Auf Höhe der Haltestelle Ottostraße steht ein wenig verloren, fast schon deplatziert, ein großes altes Verwaltungsgebäude. Dahinter liegt die Brachfläche. Durch die Bäume hindurch erkennt man vereinzelt alte Hallen und kaputte Schienen. Eine Erinnerung an eine Zeit, als die Fläche noch zur Dortmunder Union gehörte. Als auf dem Gelände noch Stahl und Spundwände hergestellt wurden. Als das Viertel belebt war durch Arbeiter*innen in den Fabriken und bekannt für die Erfolge in der Stahlindustrie.
In Zukunft soll es hier anders aussehen: Weiße Neubauten mit schönen Balkonen und riesigen Fensterfronten. Vor den Häusern führen Wege vorbei an Wasserflächen, Bäume und Blümchen sorgen vereinzelt für Grün. Die historische Brachfläche ist in dem Werbevideo zum Projekt der Thelen Gruppe kaum wiederzuerkennen. Die Promenade am Wasser soll einladen zum Flanieren. Vorbei am Union Tower, dem Hochhaus aus Glas mit begrüntem Dach. Konferenz Zentrum, Büros, Hotel mit Sky Bar und Wohnungen unter einem Dach.
Altes neu interpretieren
Nach dem Ende der Stahlindustrie-Ära, Anfang des 21. Jahrhunderts, schlossen auch im Ruhrgebiet nach und nach alte Fabriken. Auch die Hoesch Spundwand und Profil GmbH war davon betroffen. 2015 wurde die Industrie nach 115 Jahren auf dem Gelände eingestellt. Dann kaufte 2016 das Unternehmen Thelen Gruppe das stillgelegte Fabrikgelände. Mittlerweile ist die Fläche zwischen Rheinischer Straße im Süden und Emscher im Westen bis auf ein paar Industrieruinen leer. 52 Hektar Brachfläche. Umzäunt, damit niemand unbefugt das Gelände betritt.
Die Fläche sei ideal für ein neues Stadtviertel, sagt Thomas Eltner. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund und kennt sich aus mit strategischer Stadt- und Raumentwicklung. Er sieht Potential in dem ehemaligen HSP-Gelände: „Ein urbanes Stadtquartier auf einer großen Innenstadtnahen, gut erschlossenen Fläche, ein Schlaraffenland eigentlich.“
Seit die Fläche der Thelen Gruppe gehört und die Abrissarbeiten laufen, gibt es immer wieder Ideen, Ausarbeitungen und Projektgruppen, die sich mit dem alten Industriegelände und einer möglichen Nutzung beschäftigen. Die wichtigste Projektgruppe besteht aus der Stadt, der Industrie- und Handelskammer (IHK), der Fachhochschule Dortmund (FH) und der Thelen Gruppe. Sie alle wollen SMART RHINO. Ein nachhaltiges gemeingenutztes Stadtquartier, wie es auf der Webseite zum Projekt heißt. Namensinspiration fürs Projekt ist das inoffizielle Wappen der Stadt Dortmund: das geflügelte Nashorn.
Wie wird ein Stadtviertel gebaut?
„Wenn Stadt geplant wird, geht es immer los mit dem Anliegen, die Stadt weiterzuentwickeln. Wohnraum und Gewerbestandorte zu schaffen. Oft ist ein gesellschaftliches oder politisches Problem der Ausgangspunkt“, erklärt Thomas Eltner. Sein Büro liegt im dritten Stock der Fakultät Raumplanung am Südcampus der TU. Ein Bücherregal nimmt eine ganze Wand in Anspruch. Gefüllt mit Büchern zum Thema Stadtplanung, Karten und wichtigen Gesetztestexten für Raumplaner, wie dem Baugesetzbuch.
„Im Baugesetzbuch steht alles drin, was gesetzlich wichtig ist auf der Stadtplanungsebene.“ Eltner erklärt, dass vor allem die formell wichtigen Schritte des Planungsprozess Im Gesetzestext geregelt seien. Für die Planung eines Viertels ist auch der Flächennutzungsplan relevant. Dieser gibt an, ob die Fläche zum Beispiel als Wohnraum, Gewerbe oder Industrie gekennzeichnet ist, also welche Nutzungsmöglichkeiten die Fläche hat. Das Gelände kann dann auch nur nach der entsprechenden Nutzung bebaut werden. Wenn jetzt zum Beispiel ein Wohnhaus auf eine als Gewerbe gekennzeichnete Fläche gebaut werden soll, muss erst der Plan geändert werden. Das passiert im Falle von Dortmund durch die Stadt und dauert. Die HSP-Fläche ist altes Industriegelände, im Nutzungsplan also als Industrie gekennzeichnet. Um Wohnraum oder Geschäfte zu bauen, muss deswegen zuerst der Flächennutzungsplan geändert werden. Für SMART RHINO ist das noch nicht geschehen.
Die Schritte in einem Stadtgestaltungsprozess sind immer dieselben: Aufgabe formulieren, Informeller Planungsprozess mit Bürgerbeteiligung, Wettbewerbsverfahren zwischen verschiedenen Planungsbüros und dann der formelle Vorgang mit Bauplanung, Bebauungsplan aufstellen und das Konzept weiter festzurren. „Planung passiert ständig, dauert sehr lange und man sieht nicht direkt Ergebnisse“, resümiert Thomas Eltner die Arbeit von Stadtplaner*innen. „Auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen ändern sich ständig und die muss man im Gestaltungsprozess immer mitbedenken.“ „Stadtentwicklung ist“, so Eltner „ein demokratischer Prozess.“
Die Werte einer neuen Generation
So spiegeln sich in der Stadtplanung die Werte der Bürger*innen wider. In der Baby-Boomer-Generation beispielsweise sei laut Eltner das Einfamilienhaus im Grünen beliebt. Heute verändert sich das: „Das ist gerade so ein Prozess, dass Leute das städtische Leben wieder mehr wertschätzen, auch die Qualitäten da wieder mehr zum Tragen kommen.“ Andersherum kann aber auch die planerische Gestaltung von Stadt die Werte und Lebensweise beeinflussen. Beispielsweise in der Verkehrswende. „Wir müssen die Infrastruktur schaffen, damit mehr Leute mit dem Fahrrad fahren.“
Die Werte, die in die Planung mit einfließen, werden Leitziele genannt. Urban, Grün und einen guten ÖPNV-Anschluss – diese Grundsätze sind nicht nur Thomas Eltner wichtig, sondern spiegeln die Werte von vielen Raumplaner*innen. Versteckt darin ist die soziale und bauliche Durchmischung. Die sei wichtig in der Planung eines Stadtviertels, so Eltner und da trage vor allem die Stadt die Verantwortung, sozialen Wohnungsbau zu fördern.
Stadt sei für alle da, deswegen sollten auch alle die Möglichkeit haben, sie mitzugestalten, sagt Svenja Noltemeyer. Sie ist ebenfalls Raumplanerin und engagiert sich bei dem gemeinnützigen Verein „die Urbanisten“. Austausch zwischen Planer*innen und Bürger*innen ist wichtig, deswegen seien mittlerweile Bürger*innenbefragungen bei Projekten gesetzlich vorgeschrieben. Diese reichten oft aber nicht aus, da sie mehr Informationsabende als Austausch seien, kritisiert Noltemeyer.
Eine Stadt für alle
Der Verein „die Urbanisten“ hat seinen Sitz an der Rheinischen Straße. Sie wollen gemeinsam mit Bürger*Innen die Stadt gestalten. Svenja Noltemeyer ist seit 2010, dem ersten Jahr, mit dabei. „Die Gründer*innen haben während ihres Studiums die Idee gehabt: Es gibt so viele graue Mauern hier in Dortmund. Warum kann man die nicht legal bunt gestalten?“, erzählt die Frau, während sie in der Küche des Vereinsstandorts sitzt. Regale aus hellem Holz, Sticker und Plakate an Kühlschrank und Wänden, sowie ein Haufen Geschirr in den Fächern.
Die Küche erinnert auch Jahre nach der Gründung noch an die Anfänge als WG-Küche. Mittlerweile sind die Urbanisten in zahlreichen Projekten aktiv dabei, organisieren Bürger*innenbeteiligungen oder veranstalten Aktionen. Engagiert waren sie unter anderem auch im Bürger*innendialog zur Nutzung der alten HSP-Fläche, die Hauptverantwortung dabei hatte Svenja Noltemeyer. Motiviert habe sie der Austausch mit anderen Fachleuten in Berlin über die Nutzung und Sanierung von alten Industriebauten. „Diese Vision, wie cool das sein kann, hat uns, als das Werk geschlossen wurde, letztendlich dazu gebracht, Leute einzuladen. Wir haben uns zusammengesetzt und überlegt, was man wie weiter nutzen kann, um die Identität zu erhalten.“
Denn Städte und Stadtviertel entstehen normalerweise oft über die Jahre. Personengruppen wohnen zusammen, es siedeln sich Cafés und Restaurants an. Nach und nach bildet sich eine Identität aus, etwas für das Stadtviertel Typisches. „Davon leben Städte“, erklärt der Raumplaner Thomas Eltner. „Von den Menschen und von dem eigenen Vibe, den sie mit in die Stadt und die Viertel bringen.“ Um die Rheinische Straße haben sich früher unter anderem die Arbeiter*innen der Hoesch Fabrik angesiedelt, aber auch viele Menschen mit Migrationshintergrund. Dadurch gibt es hier einen Mix aus Kneipen, Döner-Läden, asiatischen und türkischen Supermärkten sowie Kioske und kleine Läden. Eine Brachfläche, wie im Fall HSP, sei raumplanerisch eine Chance, aber bringe auch Nachteile mit, wie Eltner deutlich macht. „Das Schlimmste ist einfach, auf dem weißen Papier irgendwie eine Brachfläche zu haben und dann ein neues Stadtquartier zu entwickeln, das wird immer erstmal in gewisser Weise keine Identität haben.“
Um Identität beizubehalten, sind viele Raumplaner*innen wie auch Eltner und Noltemeyer dafür, alte Gebäude zu bewahren und umzufunktionieren. Und auch die Bürger*innen mehr miteinzubeziehen. Nachdem bei den Urbanisten im Herbst 2015 die ersten Schritte gelegt waren, folgte eine Reihe von Gesprächen mit der Stadt, Infoabende mit Bürger*innen sowie Brainstormings und Analysen von Nutzungsideen. „Und dann kam die Riesenmisere an Projektentwicklung und Ansprechpartnern und Ungewissheiten.“ Damit spielt Noltemeyer darauf an, dass nach langem Hin und Her das Projekt seit 2020 im Stillstand ist.
Wem gehört Stadt?
Das neue Stadtquartier SMART RHINO soll urban, grün und ein Vorreiter in Punkto Energiewende sein. Doch das Herz soll der Zukunftsstandort der Fachhochschule bilden. Laut Präsentation auf der Webseite des Projekts könnten auf dem ehemaligen HSP-Gelände alle vier Standorte der FH zusammengelegt werden.
Die Visionen für die alte Industriefläche klingen vielversprechend. Aber sind eben genau das – nur Visionen. „Es gibt keine konkreten Pläne. Es gibt nichts. Es ist im Grunde heute der Zustand wie 2017, nur mit bereits abgerissenen Gebäuden“, sagt die Urbanistin Noltemeyer. Im nächsten Moment ergänzt sie: „Naja, ein bisschen wurde sich natürlich Gedanken gemacht.“ Das sich die Thelen Gruppe Gedanken gemacht hat, wird nicht nur durch die Imagefilme und Prospekte zum Projekt deutlich. Auch verschiedene Machbarkeitsstudien wurden in Auftrag gegeben.
Das Unternehmen Thelen ist zwar Eigentümer des Geländes, aber auf so einer großen Fläche kann es nicht einfach machen, was es will. „Bei der Entwicklung von einer Fläche dieser Größenordnung, braucht das Unternehmen den Bebauungsplan und da hat die Stadt die Planungshoheit. Die kann grobe Vorgaben machen, was gebaut werden darf.“ So bringt es Thomas Eltner auf den Punkt. Bei solchen Projekten kommt es dann zu Aushandlungsprozessen zwischen dem privaten Investor und der Stadt. Welche Dichte, welche Nutzung? Ist es sozial durchmischt und gut erschlossen? Ist es finanziell entwickelbar? Wenn alle Fragen geklärt sind, kann der Planungsprozess losgehen. Doch bei SMART RHINO ist die wichtigste aller Frage noch ungeklärt: Fachhochschule – ja oder nein? Und da liegt die Entscheidung nicht bei der Stadt Dortmund, sondern beim Land NRW.
Eine folgenschwere Entscheidung
„Es hat noch keine Ausschreibung für die Planungsbüros im Sinne eines städtebaulichen Qualifizierungsverfahren stattgefunden“, erklärt Thomas Eltner. „Da ist das Land so ein bisschen dran Schuld oder das Land ist clever. Wie man das jetzt interpretieren mag.“ Denn wenn das Land der Fachhochschule und damit dem Städtebauprojekt zustimmt, kann das der Stadt Dortmund viel Fortschritt bringen, aber es bindet sie auch an das Unternehmen Thelen Gruppe als Eigentümer des Grund und Bodens. Die Entscheidung des Landes für die Fachhochschule hat Gewicht, denn von ihr ist abhängig, was wirklich machbar und finanzierbar ist. Laut Svenja Noltemeyer stehe dahinter der folgende Konflikt: „Thelen sagt, wir stellen eine Fachhochschule hin und das Land zahlt uns ewig Miete. Dem Land ist das zu unsicher und es sagt, dass es die Steuergelder vernünftig einsetzen muss: Wir kaufen euch das Land ab und bauen selbst die Fachhochschule hin. Da sagt Thelen aber, verkaufen will er nicht.“
Egal, auf welchen Aspekten die Entscheidung des Landes konkret beruht, offensichtlich ist, dass die alte Industriefläche trotz ihres wahnsinnigen Potentials immer noch ungenutzt hinter den Zäunen schlummert. Von Gras und Pflanzen überwachsen, teilweise von Obdachlosen besetzt, weist vor Ort selbst nur ein Infoschild am Spielplatz Alte Radstraße auf die großen Pläne für SMART RHINO hin. Mittlerweile lässt sich auch die Webseite zum Portfolio nicht mehr abrufen. Bürger*innen, Raumplanerinnen und Engagierte wie Thomas Eltner und Svenja Noltemeyer, machen weiter das, was sie seit fast drei Jahren machen: Abwarten.
Beitragsbild: Daniel Merz, ge-filmt