„Du Gott, wir probieren es nochmal miteinander“

Schwester Lucia ist mit Abstand die jüngste Schwester in ihrer Ordensgemeinschaft in Salzkotten.

Sie wächst auf dem Dorf auf, verbringt ihre Jugend in Berlin. Dann Studium in Hannover und Ausbildung in Göttingen. Die ganze Welt steht ihr offen. Und nun Salzkotten. Mit Schleier und Ordenskleid lebt Schwester Lucia hier im Kloster. Heute ist sie 29 Jahre alt und ist sich sicher: Sie will bleiben.

Die Jüngste. Und die Einzige mit weißem Schleier. Vor ihr ragen reihenweise schwarze Schleier aus den Holzbänken. Wie Erdmännchen, die ihre Köpfe aus dem Boden strecken. Sie alle sind Nonnen. Vor ihnen befinden sich der Altar und das Kreuz. Dahinter die prunkvollen Fenster mit Mosaik. Durch sie fällt dunkelblau gefärbtes Licht in die Kirche und breitet sich über die meterhohen Gewölbe aus.

Die Kirche am Sonntagmorgen: Die Schwestern sind zugekommen, um zu beten.

Es ist Sonntagmorgen, 7.30 Uhr. Erste Gebetsstunde für heute: erst das Invitatorium zur Eröffnung des Gebets. Die Nonnen sprechen der Vorbeterin nach. Auf der Bank knieen, Kopf neigen, das Kreuzzeichen, stehen, sitzen. Dann Laudes – die morgendlichen Lobgesänge. Mit bunten Bändern sind die passenden Stellen im Gebetsbuch markiert. Psalm 118. Am Ende das Vaterunser.

Nun betreten auch andere die Kirche. Ohne Schleier oder Ordenskleid. Sie setzen sich in freie Bänke hinter oder rechts von den Nonnen. Alle sind still. Kein Handy klingelt. Nichts vibriert. Die Messe beginnt.

Erster Halt: Rom

Schwester Lucia ist 29 Jahre alt – und mittendrin. Teil von alledem. Teil vom Glauben, der Kirche und dem Schwesternorden. Sie ist mit Abstand die Jüngste im Franziskanerinnen-Kloster in Salzkotten. Geboren wurde sie unter einem anderen Namen. Doch weil sie sich mit dem heute nicht mehr identifiziert, möchte sie nicht, dass er öffentlich genannt wird. Seit ihrem Eintritt ins Kloster heißt sie Schwester Lucia.

„Aufgewachsen bin ich in einer Familie, die mit Kirche nichts am Hut hatte“, erzählt sie. Nur Ostern und Weihnachten feierten sie. Ihr Vater ist konfessionslos, sieht sich als Atheist. Ihre Mutter, die beiden Brüder und Schwester Lucia  wurden evangelisch getauft, Ihre Mutter und sie dann konfirmiert. „Damals vor allem, weil es alle so machten. Ich hatte trotzdem viele Fragen, aber der Pastor konnte sie nicht beantworten.“

Das Interesse verschwand, als sie für ihr Abitur nach Berlin zog.

„Da war mit Kirche erstmal gar nichts. Mit 16 Jahren in Berlin zu sein, ist die Freiheit der Welt.“

Nach ihrem Abitur wollte Schwester Lucia Naturwissenschaftlerin werden: Sie machte in Hannover ihren Bachelor in Geowissenschaften. Während des Studiums verreiste die 23-Jährige mit ihrer Mutter. Vier Tage als Rucksacktouristinnen mit dem Nachtzug nach Rom. „Ich habe das erste Mal Menschen gesehen, die für ihren Glauben dorthin fahren und beten. Und ich habe gemerkt: Da ist etwas, was mich anzieht.“ Auf dem Weg zurück nach München beschließt sie: „Du Gott, wir probieren es nochmal miteinander.“

Aufstehen, aufeinander zugehen

Der Frühstückstisch wird gedeckt – die Schwestern essen immer zusammen.

Schwester Lucia verlässt die Kirche durch den Hintereingang, der direkt ins Kloster führt. Sie läuft hinter den schwarzen Schleiern her und folgt der ältesten Schwester. Sie ist 100 Jahre alt und wird in einem Rollstuhl geschoben. Mit dem Aufzug fahren sie nach oben zum Frühstück.

Die Jüngste und die Älteste an einem Tisch. Die Schwestern unterhalten sich über die heutige Messe. Schwester Lucia erzählt von ihrem Praktikum. Manchmal müssen Sätze wiederholt werden – die 100-Jährige hört nicht mehr so gut. „Sie ist dennoch sehr jung geblieben, wie alle Schwestern. Den Altersunterschied merke ich oft gar nicht so stark.“ Nach dem Frühstück wird gesungen. Amen.

Aus der Bäckerstube in die Kirchenbank

Nach ihrem Studium merkt Schwester Lucia schnell: „Acht Stunden am Tag im Labor stehen, ist nicht meine Welt.“ Sie will etwas Handfestes machen: eine Ausbildung zu Bäckerin in einer traditionellen Holzofenbäckerei in Göttingen.

Nach ihrer ersten katholischen Messe – will Schwester Lucia nicht mehr ohne.

Nebenher versucht sie, sich Gott zu nähern. Sie begleitet eine Bekannte in eine katholische Messe. „Und das war: Wow. Liebe auf den ersten Blick. Diese Nähe, die auf einmal da ist. Mich hat das unglaublich mitgenommen, dass ich gesagt habe, ich will das unbedingt. Nochmal, nochmal, nochmal.“

Der Sonntagsgottesdienst wird ihr Highlight der Woche. Während ihrer Ausbildung besucht sie die katholische Gemeinde in der Innenstadt und einen Glaubenskurs. In der Osternacht 2019 wagt Schwester Lucia den nächsten Schritt. Um fünf Uhr morgens in der Sankt Michaels Gemeinde in Göttingen mit drei weiteren Erwachsenen: Taufe, Kommunion, Firmung. Nach dreieinhalb Stunden ist sie Teil der katholischen Kirche. „Und das war eine richtige Feier.“

Im Gespräch mit Gott

Mit dieser Perlenkette – dem Rosenkranz – betet Schwester Lucia.

Sonntags hat Schwester Lucia Freizeit. Nach dem Frühstück geht sie nach draußen. Hinter der Kirche befindet sich der Klostergarten. Auf den Bänken sitzen ein paar Schwestern. Neben dem Kräutergarten steht eine Franziskus-Skulptur. Daneben eine Terrasse mit Tisch und Stühlen inmitten des Grüns.

Dort im Schatten hat sie ihre Ruhe, kann beten. Neben den gemeinsamen Gebeten in der Kirche haben die Schwestern eine halbe Stunde am Tag Betrachtungszeit, in der sich jede geistliche Texte anschaut. Das macht Schwester Lucia meistens morgens. Manchmal macht sie zusätzlich nachts eine Anbetung des Leib Christ. Für sie ist das wie ein intensives Gespräch. Dazu geht sie zu der Skulptur des heiligen Franziskus in die Kirche. Hier im Garten betet sie mit dem Rosenkranz. Eine Perlenkette, bei der jede Perle für ein Gebet steht.

Luzi spinnt mal wieder

Nach der Entscheidung für die Kirche entscheidet sich Schwester Lucia für den Orden. „Ins Kloster zu gehen, ist eine Berufung“, sagt sie. Und sie fühlt sich berufen – zum Franziskusorden in Salzkotten. Ihre Brüder sind skeptisch:

„Die spinnt mal wieder. War ja klar, dass die irgendwann zu einer Sekte geht.“

„Die haben halt damit nichts am Hut“, sagt Schwester Lucia. Ihre Eltern finden gut, dass sie das macht, was ihr Freude bereitet. Sie bleiben über WhatsApp und Telefonate in Kontakt. Drei, vier Mal im Jahr kommen sie sie besuchen. „Mein Vater ist ein bisschen öfter da. Er ist Rentner und möchte immer bei uns in der Kirche sitzen. Weil er die Schwestern sehr mag und sich sehr wohl fühlt.“ Schwester Lucias beste Freundin kommt zwischendurch auch zu Besuch. Sie findet, dass die Entscheidung fürs Kloster genau das Richtige für Schwester Lucia  ist: „Mach das, das ist voll deins.“

Schwester Lucia kümmert sich gern um die Pflanzen.

In der Struktur zurechtfinden

Schwester Lucias Tage sind strukturiert: morgens Laudes, dann Messe, Frühstück, unter der Woche arbeiten. „Dann trifft man sich wieder, isst zusammen Mittag, eine kurze Pause und geht wieder zur Arbeit. Irgendwann ist Vespa, Abendbrot und dann, was abends so ansteht.“ Manchmal ist es der Gemeinschaftsabend, manchmal anderen Schwestern helfen oder die Familie anrufen. Manchmal hört Schwester Lucia laut Musik in ihrem Zimmer und tanzt durch die Gegend: „Lebensfreude pur, ganz normal.“

Mal einen Morgen nicht in die Kirche zu gehen, ist den Schwestern erlaubt. Und YouTube, Netflix und Co. sind ebenso kein Problem. Zumindest, wenn es als Gemeinschaft gemacht wird. „Ich setze mich nicht in mein Zimmer und gucke allein Netflix, sondern frage meine Schwestern, ob wir einen Film zusammen anschauen.“ Instagram ist auch erlaubt. Schwester Lucia hat ein Smartphone, das sie in ihrer Freizeit benutzt – zumindest in Maßen. „Die ganze Zeit irgendetwas daran zu machen, ist nicht sinnvoll. Ich darf mich darin nicht verlieren. Ich glaube, das ist das Entscheidende, dieser Fokus, die eigene Reflexion.“ Das heißt aber nicht, dass das immer funktioniert: „Ich sitze schon mal da und denke mir, oh Luzi, jetzt hast du eine halbe Stunde Instagram-Reels geguckt. Hätte nicht sein müssen.“

In den Gemeinschaftsräumen verbringen die Schwestern ihre Abende.

Abends in Clubs auszugehen, vermisst Schwester Lucia nicht. „Ich habe immer lieber am Lagerfeuer gesessen oder gemütlich gegrillt. Auch schon in Berlin.“ Was ihr aber fehlt, ist das Zocken. „Eigentlich müsste ich das hier mal anregen. Das wäre nicht so das  Problem, wenn das meine Leidenschaft ist und wir es als Gemeinschaft nutzen. Statt Gesellschaftsspielen könnten wir auf der Xbox zusammenspielen. Ich glaube nur, unsere 100-Jährige wird es mit der Koordination nicht mehr so hinkriegen.“ Sie lacht.

Eine intensive WG

Mit ihren Mitschwestern zu leben, war anfangs völlig Neuland, weil es ein so viel engeres Zusammenleben ist als in einer WG. Die Gemeinschaft ersetzt für die Schwestern Partnerschaften: Sie leben in Ehelosigkeit. „Sonst hätten wir keine Hände frei für die Menschen, die uns brauchen. Man kann sich natürlich verlieben. Aber ich möchte diese Gemeinschaft.“ Was in fünf Jahren ist, kann Schwester Lucia nicht sagen.

„Er ist nicht der Herr, der irgendwo da oben ist. Er ist genauso wie wir.“

Schwester Lucias Beziehung zu Gott sei nicht vergleichbar mit einer Partnerschaft. „Das reduziert das Ganze viel zu sehr. Er ist viel größer.“ Wie sie ihn sieht, wandelt sich immer wieder. Aktuell sei er wie ein Bruder. „Er ist nicht der Herr, der irgendwo da oben ist. Er ist genauso wie wir.“

Franziskus, ein Helfer

Eine von Lucias Mitschwestern, ihre Ausbilderin, hat gerade ein mehrtägiges Seminar im Gasthaus des Klosters geleitet. Schwester Lucia bietet ihre Hilfe beim Aufräumen an: Sie bringt Stühle und Blumen zurück ins Hauptgebäude, holt dreckige Wäsche sowie Geschirr und bringt alles in den Keller, wo gewaschen wird.

Mittlerweile kennt sich Schwester Lucia im Mutterhaus gut aus.

Zu ihrer Ausbilderin hat Schwester Lucia ein besonderes Verhältnis. Denn sie begleitet sie schon seit der Kandidatur. Mit Letzterer begann Schwester Lucias Zeit im Kloster. In diesem freiwilligen Ordensjahr arbeitete sie am Kloster. „Eigentlich wollte ich nur ein halbes Jahr machen. Mir war aber schnell klar, ich muss ein ganzes machen, weil ich wissen möchte, was mich hier so anzieht.“ Danach folgte das Postulat – der Eintritt in die Gemeinschaft. Schwester Lucia lernte neun Monate lang das Kloster von innen kennen. Dann die Entscheidung: Bleiben oder gehen? „Sich einzugestehen, zu bleiben, ist gar nicht so einfach, weil man denkt, man ist verrückt, man geht doch nicht ins Kloster.“

Ende 2021 hat sie genau das getan – für zwei Jahre ist sie nun Novizin. Deshalb trägt sie den weißen Schleier und wurde feierlich mit schwarzem Ordenskleid eingekleidet. Bald darauf zog Schwester Lucia fest ins Kloster ein. Nachdem sie ein Jahr hauptsächlich in der Gemeinschaft verbrachte, macht sie nun ein Praktikum in einer Schule für Kinder mit Behinderung. „Man lernt Menschlichkeit und auf einen selbst zu achten.“

Nach ihrem Noviziat wartet auf Schwester Lucia der zeitliche Profess, also der schwarze Schleier. Sie freut sich schon. Dabei versprechen die Schwestern, ohne Ehe, bescheiden und nach Gottes Regeln zu leben. Sie binden sich mindestens drei Jahre an die Gemeinschaft. Während des Profess wird Schwester Lucia arbeiten  – wie alle anderen Schwestern. „Jede bringt sich irgendwie ein.“ Ältere Schwestern gießen die Blumen oder besuchen andere Schwestern. „Die 100-Jährige guckt die Zeitungen durch und schreibt uns dran, was wichtig ist.“

Schwester Lucia sagt, Gott rufe nach den Menschen, wenn sie sich verirren.

Danach folgt der ewige Profess, wenn sich Schwester Lucia sicher ist, in der Gemeinschaft bleiben zu wollen. Aber obwohl er ewig heißt, sind die Schwestern auch darin nicht verpflichtet, lebenslänglich im Orden zu bleiben. „Es ist ja nicht so, dass einen irgendwer festhält.“ Ein Ordensaustritt gestaltet sich dann aber schwieriger, weil er unter anderem eine Menge Bürokratie bedeutet.

Ihren Weg gefunden

Während ihrer Zeit im Kloster hatte Schwester Lucia auch schon Zweifel. „Es gibt Tage, wo man sich denkt, was mache ich hier überhaupt?“ Und dann fällt ihr wieder ein, was sie vom Ordensleben so überzeugt: Dass die Schwestern gemeinsam mit den Menschen Positives bewirken wollen.

Schwester Lucia sieht auch Kritik an der Kirche. „Dass Frauen in höheren Rängen wenig mitbestimmen können, finde ich schade. Denn sie dürfen ihre Berufung nicht ausleben – durch eine Geschlechterfrage. Aber Gott sendet seinen heiligen Geist zu allen, das aktive Leben des Glaubens bindet nicht an diese Geschlechterfrage.“ Kritisch sieht Schwester Lucia auch, dass Missbrauchsskandale der katholischen Kirche „nicht rechtzeitig aufgearbeitet, sondern verdeckt werden“.

Es klingelt zum Abendgebet. Alle finden sich wieder in der Kirche ein. Schwester Lucia scheint angekommen zu sein. „Manchmal muss Gott rufen, wenn die Menschen sich verirren in ihrem Leben. In meinem Leben musste er ganz schön laut rufen, bis ich gehört habe.“

Eindrücke der Autorin

Unsere Autorin hatte bisher nur wenig Berührungspunkte mit der Kirche und dem Kloster. Wann knickst man? Wann macht man das Kreuzzeichen? Und welche Lieder werden vor oder nach dem Essen gesungen? Alles neu für sie. Die Schwestern hingegen wirkten wie ein eingespieltes Team, das an etwas glaubt, was unsere Autorin nicht sehen kann. Bei ihrem Besuch im Kloster hat sich Anna daher zunächst fremd gefühlt.

Im Laufe des Tages hat sich das verändert: Sie erlebte, wie die Schwestern Witze machten und gar nicht so streng waren, wie anfangs erwartet. Und am Ende konnte Anna sogar verstehen, warum manche sich für ein Leben im Kloster entscheiden. Auch wenn das nicht ihr Weg wäre – so zu leben wie diese Frauen, die ihr ganzes Leben Gott widmen.

 

Fotos: Anna Bolten

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