Viele Politiker*innen nutzen TikTok strategisch, um politische Kommunikation zu betreiben. Sogar der Bundeskanzler ist auf der App und gibt Einblick in seine Aktentasche. Wie wichtig ist TikTok für Politiker*innen mittlerweile?
“Das ist meine Aktentasche, die habe ich schon ziemlich lange”, erklärt der Bundeskanzler und blickt in die Kamera. Nacheinander packt er Dinge aus der großen, schwarzen Ledertasche aus: dicke Akten, seine Brille, ein riesiges iPad. Olaf Scholz bezeichnet die Tasche als seinen “treuen Freund”. Der Hashtag #whatsinmybag sorgt dafür, dass das Video besser gefunden wird. Über 200.000 Posts gibt es darunter. Normalerweise sitzen junge Frauen vor der Kamera und zeigen den Inhalt ihrer Uni-, Makeup- oder Handtasche. Olaf Scholz’ Aktentasche kommt aber auch gut an: Das Video bringt ihm 5,2 Millionen Views auf TikTok ein.
Der Bundeskanzler hat seit April dieses Jahres einen eigenen TikTok-Account. Darin nimmt sich Olaf Scholz öfter mal nicht zu ernst und macht weitere Trends mit. Wie blicken andere Politiker*innen auf die App? Wie und wann setzen sie TikTok für ihre Arbeit ein?
“Eine viel nahbare Kommunikation”
Felix Banaszak sitzt für die Grünen im Bundestag und macht politischen Content auf TikTok. Der 34-Jährige hat etwas gezögert, ehe er sich der Plattform angeschlossen hat. Sein erstes Video hat er im September 2023 hochgeladen. “Ich bin etwas late to the party.” Abgehalten hätten ihn vor allem Datenschutz- und Sicherheitsfragen. Der chinesischen App wird unter anderem vorgeworfen, unsensibel mit den Daten der Nutzer*innen umzugehen. Aus diesem Grund habe Banaszak TikTok nicht auf seinem normalen Handy installiert. Stattdessen besitzt er ein Handy, das ausschließlich für diese App genutzt wird. “Es gibt sehr gute Gründe zur Annahme, dass sonst meine gesamten Daten irgendwo landen, wo sie nicht landen sollen”, erklärt er.
Den Vorteil der App sieht Banaszak darin, Vertrauen und Nähe aufbauen zu können. Seiner Meinung nach können Politiker*innen dort im Gegensatz zu Pressemitteilungen ihre “persönliche Glaubwürdigkeit, Emotionalität oder Expertise” besser einbringen. Auf TikTok lasse sich die eigene Persönlichkeit zeigen. “Ich kann die Menschen mit meiner Überzeugung und meiner Perspektive direkt ansprechen und finde, dass das eine viel nahbarere Kommunikation erlaubt”, sagt Banaszak.
Von reproduzierten Memes hält der Grünen-Politiker nicht viel. Er möchte jüngeren Usern vielmehr zeigen, wie seine politischen Ansichten sind. Banaszak macht sich unter anderem für die Demokratie in unserem Land stark. Das tendenziell jüngere Publikum auf TikTok stempele er nicht als unpolitisch, passiv und desinteressiert ab. “Ich gehe davon aus, dass sie sich grundsätzlich dafür interessieren, was mit ihrem Leben passiert”, erklärt er. Dabei kann Banaszak auch provokant sein, wie er im Dezember des vergangenen Jahres bei einer Rede demonstriert hat.
Die AfD als TikTok-Vorreiter
In dem Video dazu schreitet Banaszak entschlossen zum Rednerpult im Deutschen Bundestag. Er begrüßt die Präsidentin und seine Kolleg*innen. Dann beginnt er seine Rede: “Wer belastet so spät den Bundestag? Es ist die Fraktion, die keiner mag.” Das erste Lachen hallt durch den großen Saal. “Sie stellt einen Antrag, dem du nicht entkommst. Wir lehnen ihn ab. Ja, was denn auch sonst?” Noch mehr Gelächter. Der Politiker verabschiedet sich, seine Rede ist vorbei. Mit knapp 20 Sekunden wahrscheinlich eine der kürzesten Reden im Bundestag jemals. Jubelrufe, Applaus. Nur eine Fraktion bleibt still – die AfD. Das Gedicht landet in den sozialen Medien und geht viral. Allein beim Account des News-Portals Watson sind es 1,5 Millionen Views, Tausende weitere kommen unter anderen Posts dazu.
Ein humorvoller Seitenhieb gegen die AfD, die wohl erfolgreichste Partei auf TikTok. Aktuell hat keine Partei in Deutschland in der Social-Media-App mehr Follower und Likes als ihre Politiker*innen. Anna Moors hat sich die politische Kommunikation von Parteien auf TikTok genau angesehen. Sie ist Kommunikationsexpertin und berät Politiker*innen in ihrer Digitalstrategie. Einen Fokus hat Moors auf die Kommunikation während des Europawahlkampfs gelegt. “Abseits der AfD hat Wahlkampf auf TikTok fast gar nicht stattgefunden”, sagt Moors. Ihr fehle dafür, dass Parteien und Politiker*innen konkrete Themen aus den Wahlprogrammen zur Europawahl platzieren.
Trotzdem nehme Moors eine Veränderung wahr. Die anderen Parteien hätten verstanden, dass sie auf TikTok präsent sein müssten. In den vergangenen Monaten hätten viele Medienberichte den Erfolg der AfD auf TikTok thematisiert. Das sei ein Wendepunkt in der Kommunikationsstrategie vieler Parteien gewesen. “Der Stellenwert und die Priorität, die diese Plattform hat, haben sich grundlegend verändert im Vergleich zur letzten Bundestagswahl”, sagt Moors. Verantwortlich für den Erfolg der AfD macht die Kommunikationsberaterin die polarisierende Sprache, die die Partei in ihren Kurzvideos nutzt. Eine Strategie, die sich auch andere politische Akteur*innen zunutze machen würden, zum Beispiel Heidi Reichinnek.
Auch linke Politik funktioniert auf TikTok
Die Bundestagsabgeordnete der Gruppe Die Linke steht vor einem neutralen Hintergrund und spricht in die Kamera: “Die bekloppte Maut von Andi Scheuer hat den deutschen Staat 234 Millionen Euro gekostet.” Die Zahl erscheint in einem knalligen Orange im Bild. Dann macht Reichinnek klar, wie viel mehr die Maskenaffäre den Staat gekostet hat. “Und nochmal” sagt sie dafür 33-Mal in die Kamera – und landet bei insgesamt etwa acht Milliarden Euro. Gleichzeitig steht die Politikerin in der oberen Hälfte des Videos im Deutschen Bundestag hinter dem Rednerpult. Energisch richtet sie sich an Jens Spahn: “Die Ausschreibungen waren wirklich schlecht gemacht.” Das Video der Politikerin sammelt knapp 200.000 Views.
Die 36-Jährige ist seit drei Jahren auf TikTok und hat über 200.000 Follower*innen. Zuerst dachte Reichinnek, sie sei mit über 30 zu alt für die Plattform. Mittlerweile werde sie von Zuschauer*innen auf Tankstellentoiletten nach einem Selfie gefragt. Wer durch ihre TikTok-Kommentare scrollt, liest Aussagen wie “Sie ist echt ein Vorbild”, “Heidi for Bundeskanzlerin” oder “Ohne dich wären wir verloren”.
Kommunikation auf Augenhöhe
An dem Video beteiligt war Reichinneks Referent Felix Schulz, zuständig für die Kommunikation. Er erklärt das Erfolgsrezept des Accounts: die Menschen auf TikTok ernst nehmen. Es sei wichtig, auch Kindern und Jugendlichen “auf Augenhöhe zu begegnen, aber in einer verständlichen Sprache zu kommunizieren”. Politiker*innen hätten auf der Plattform die Chance, ein Millionenpublikum zu informieren. Deshalb sollten sie aus Schulz’ Sicht ihre Politik erklären, anstatt für Unterhaltung zu sorgen. “Da geht, glaube ich, einiges an Glaubwürdigkeit verloren, wenn jemand nicht wirklich weiß, was er tut beziehungsweise es mit bestimmten Fehlannahmen angeht.” TikTok-Tänze und Whatsinmybag-Videos überzeugen Schulz daher nicht.
Das Stilmittel, verschiedene Arten von Ansprache zu kombinieren, ist für ihn ein Vorteil von TikTok: “Wir haben eine direkte Ansprache, können sie aber mit anderen Elementen mixen.” Reichinnek und er nutzen die Rede aus dem Bundestag, dem Ort, an dem die Politik in und für Deutschland gemacht wird. “Worte haben mehr Gewicht, wenn sie von hinter einem Pult kommen”, erklärt Schulz. Zumindest würden die Rezipient*innen es so wahrnehmen. Kombiniert mit der direkten Ansprache in die Kamera “wird das Thema von dieser höheren Ebene auf Augenhöhe heruntergeholt”, sagt der Referent. So versuchen Reichinnek und er, die Zuschauer*innen mitzunehmen.
Großes Viralitätspotenzial
Mit dem enormen Erfolg hätten Reichinnek und Schulz nicht gerechnet. Sie produzieren oft TikToks, in denen sie komplexe Themen in über zwei Minuten erklären. “Das darf eigentlich gar nicht funktionieren”, sagt Schulz und schmunzelt. Oft heißt es, dass Videos auf TikTok nicht länger als 15 Sekunden sein dürfen. “Aber es funktioniert, weil sich die Leute ernst genommen fühlen”, sagt Schulz.
Ein weiterer Vorteil an der App sind laut Schulz die verschiedenen Ebenen: Mimik und Gestik, die visuelle und die auditive Ebene sowie die Textebene. Durch das Zusammenspiel könnten Politiker*innen ihr Publikum besser erreichen als durch eine Pressemitteilung, weil es dem Gespräch in Person am nächsten komme. Außerdem sei TikTok durch die verschiedenen Ebenen barriereärmer. Menschen mit einer Sehbehinderung können das Gesagte hören, gehörlose Menschen können es durch die geschriebenen Untertitel verstehen.
Durch TikTok können Politiker*innen außerdem viel mehr Leute ansprechen als mit einer Pressemitteilung oder einem Stand auf dem Marktplatz. Dafür spielt unter anderem das Viralitätspotenzial auf der App eine Rolle. Das hängt mit dem Algorithmus zusammen und kann ein enormer Vorteil sein. Akteur*innen, die auf TikTok produzieren, sind laut Moors “nahezu vollständig vom Algorithmus abhängig, weil die wenigsten Leute die Folge-Ich-Funktion benutzen”. Stattdessen würden die meisten Nutzer*innen die personalisierte Für-Dich-Seite verwenden. Der TikTok-Algorithmus wählt dafür die Inhalte auf Basis von Interaktionen, Thema, Hashtags oder dem aktuellen Standort aus.
Nicht alle möchten auf TikTok sein
Sabine Poschmann steht in einer Turnhalle. Der Boden ist hellbraun, auf ihm sind bunte Streifen zu sehen. Sie dienen als Markierungen für Spielfelder. An einer Wand hängt eine Leiter zum Klettern, vor einer anderen steht ein Handballtor. Die SPD-Politikerin trägt einen dunkelblauen Hosenanzug. Sie spricht in die Kamera und erklärt ihre Zuständigkeit: “Im Bundestag habe ich Sport und Wirtschaft besonders im Blick.” Poschmann betont, dass es in diesen Bereichen besonders auf Vielfalt ankomme. Wichtig sei, alle Menschen in die Gemeinschaft zu integrieren. Das Video ist Teil der Reihe “Demokratie verteidigen” der NRW-Landesgruppe der SPD. Knapp 800 Menschen haben es sich angeschaut. Es ist das einzige Video, das die Politikerin auf TikTok zeigt.
Sabine Poschmann hat keinen eigenen TikTok-Account. Die 55-Jährige vertritt Dortmund und die SPD im Deutschen Bundestag. Sie sehe zwar Chancen in der Kommunikation von Politiker*innen auf TikTok und finde es gut, wenn Politiker*innen Präsenz zeigen. Poschmann hoffe, dass dadurch “auch weniger politisch interessierte Personen mit Politik in Kontakt kommen”. Die SPD-Politikerin habe aber aktuell keine zeitlichen Kapazitäten dafür. Außerdem habe sie inhaltliche Bedenken. Es gebe viele politische Zusammenhänge, “die nur schwer innerhalb von ein paar Sekunden kommuniziert werden können, ohne populistisch zu sein”. Ein TikTok könne keine journalistischen Artikel oder Podcasts ersetzen.
Kommunikationsberaterin Anna Moors versteht, wenn politische Akteur*innen nicht auf TikTok aktiv sein möchten. Sie kritisiert aber die Politiker*innen, die sich erst gar nicht mit der App beschäftigen. Laut ihr werden junge Leute häufig nicht als relevante Wähler*innengruppe begriffen. Moors‘ Appell: “Setzt euch damit auseinander und prüft für euch, ob das ein gutes Tool für eure Kommunikationsstrategie sein kann.” Nicht für jede*n müsse TikTok funktionieren. Für manche Zielgruppen seien WhatsApp-Channel oder Instagram weitaus sinnvoller. “TikTok ist vielleicht gerade der coole Trend, aber es ist absolut nicht notwendig”, resümiert sie.
Ergänzen statt ersetzen
In einer Sache sind sich Anna Moors, Felix Banaszak, Felix Schulz und Sabine Poschmann einig: Wahlkampf und politische Kommunikation finden mittlerweile auch auf TikTok statt, aber nicht ausschließlich. Laut Schulz spielt TikTok eine große Rolle, aber es ist definitiv nicht alles: “Die echte, haptische Welt hat einen großen Einfluss.” Moors gibt ihm Recht. Das erkenne sie auch am Umgang der Parteien mit TikTok. “Wenn es früher nur die Presseabteilung gab, reicht das mittlerweile nicht mehr.” Eine Abteilung für digitale Kommunikation arbeite heute mit einer genauso hohen Professionalität wie eine Pressestelle.
Banaszak sieht die Relevanz von TikTok, möchte den analogen Austausch aber nicht missen. “Ich würde meinen Job als Duisburger Bundestagsabgeordneter nicht gut machen, wenn ich nicht in Duisburg Veranstaltungen für die Leute anbieten würde.” Trotzdem erreiche er auf keiner dieser Veranstaltungen so viele Menschen wie mit einem Video. “Deswegen muss Wahlkampf beides umfassen”, macht er klar. Politische Kommunikation umfasst heute also viele Formen – und TikTok gehört dazu.
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