Sportwissenschaftler Dr. Marcus Schmidt kennt die Hürden beim Laufen und weiß, warum der Sport trotzdem sehr beliebt ist – gerade bei jungen Menschen. Ein Interview über überstürzte Anfänge, den Vergleich in sozialen Medien und das Stehenbleiben kurz vorm Ziel.
Herr Schmidt, Sie arbeiten seit 2011 am Institut für Sportwissenschaften an der TU Dortmund und konnten in dieser Zeit viele Veränderungen beobachten. Wie ist Ihr Eindruck? Gehen immer mehr Leute in ihrer Freizeit laufen?
Mir ist aufgefallen, dass sich immer mehr Leute fürs Laufen begeistern können, und ich folge ich diesem Trend auch. Seit August oder September des vergangenen Jahres bin ich unter die aktiven Läufer gegangen. Das ist etwas, was ich vorher nicht gemacht habe. Ich würde sagen, dass das Laufen vor allem durch Corona einen Schub bekommen hat.
War absehbar, dass sich dieser Trend abzeichnet?
Laufen ist eine Sportart, die man immer und überall mit relativ wenig Aufwand machen kann. Ich kann mir einfach meine Laufschuhe anziehen und rausgehen. Besonders zu Corona-Zeiten, als die Vereine schließen mussten und es beim harten Lockdown keine Möglichkeit gab, organisiert Sport zu machen, war es logisch, dass sich die Leute auf das stürzten, was noch ging. Warum das Laufen immer noch im Trend ist oder weiter steigt, ist eine gute Frage. Ich glaube, die Präsenz in den sozialen Medien spielt dabei eine große Rolle. Man kann viel mehr mit anderen Leuten in Kontakt kommen, ihre Erfolge miterleben und selbst Erfolge teilen. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist sehr wichtig.
Wenn wir beim Thema Erfolge sind – welche sind das?
Das Laufen hat viele gesundheitswirksame Folgen. Zum Beispiel sorgt es für eine verbesserte Ausdauer. Dadurch bin ich zum einen in der Lage, eine gewisse Belastung über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Zum anderen erhole ich mich schneller von einer Belastung. Das verbessert sich über die Zeit und hat Konsequenzen für mein Herz-Kreislauf-System. Bei Ruhe sinkt die Herzfrequenz, weil sich der Herzmuskel durch das Training vergrößern kann.
Das ganze Kreislaufsystem wird durch das Laufen ökonomischer. Das heißt, mein Herz muss pro Minute nicht mehr so oft schlagen, um die gleiche Menge Blut bei gleichbleibender Belastung zu transportieren. Ich kann Sauerstoff besser aufnehmen, eine größere Menge an Luft einatmen, weil meine Lungenkapazität sich erhöht und mehr Sauerstoff im Blut transportieren. Das hat direkte Auswirkung auf den Alltag. Ich werde belastbarer, das kann ich oft schon an kleinen Sachen festmachen. Zum Beispiel, dass ich nicht mehr so schnell außer Atem bin.
Kann Laufen glücklicher machen?
Laufen wirkt sich nicht nur körperlich, sondern auch psychisch aus. Es steigert das Wohlbefinden. Das berichten viele Läufer, da sie durch den Sport und die Bewegung ausgeglichener sind und mehr Motivation haben. Laufen kann auch beim Stressabbau helfen. Den psychologischen Aspekt sollte man meiner Meinung nach auf keinen Fall vernachlässigen.
Gibt es auch negative Nebeneffekte?
Leider kann es sein, dass Menschen zu schnell ins Training starten und dann an ihre Belastungsgrenze kommen. Das kann demotivierend sein. Wir vergleichen uns oft untereinander. Auf Instagram sieht es nicht so schön aus, wenn der Lauf öfter unterbrochen wird. Es hilft aber, Pausen einzuhalten und die Belastung langsam zu erhöhen.
Haben Smartwatches eventuell auch etwas mit dem Trend zu tun, dass mehr Menschen laufen gehen?
Die neuen Technologien haben den Sport definitiv verändert. Sie sind auch das primäre Forschungsfeld in meinem Bereich. Wir entwickeln und überprüfen Sensorsysteme, um sportliche Bewegungen zu quantifizieren. Die Smartwatches sind ein tolles Beispiel, weil sie die bekanntesten und am weitesten verbreiteten Technologien sind. In ihnen ist ein GPS-Tracker eingebaut und ich kann über einen Sonnenlichtsensor die Herzfrequenz bestimmen. Die Uhr macht eine indirekte Messung, das heißt, sie durchleuchtet die oberen Hautschichten und bestimmt anhand der Reflexionen, wie sich die Hautschicht verändert. Das geschieht in Abhängigkeit des Blutdrucks.
Die Herzfrequenz ist aber leider nicht einfach zu messen. Mittlerweile wissen wir, dass es im Bereich von 155 bis 160 Schlägen pro Minute recht gut funktioniert. Aber alles, was darüber hinausgeht, geht mit größeren Ungenauigkeiten einher. Vor allem, wenn Kälte, Regen, Wind oder Schweiß dazukommen, werden die Daten ungenau. Ein Extrembeispiel macht das deutlich: Die Uhr zeigt mir an, dass ich eine Herzfrequenz von 180 Schlägen pro Minute habe. In der Realität habe ich aber eine Frequenz von 195 oder knapp 200 Schlägen pro Minute. Das kann bei Personen, die unter sportlicher Belastung auf ihre Herzfrequenz achten sollen, weil sie eine Vorerkrankung haben oder ärztliche Empfehlungen vorliegen, problematisch werden. Das ist ein generelles Problem dieser Geräte: Sie sind medizinisch nicht zertifiziert, obwohl sie gegebenenfalls in medizinisch relevanten Bereichen eingesetzt werden.
Was würden Sie Menschen, die laufen möchten, bei solchen Technologien empfehlen?
Die Uhren per se sind nichts Schlechtes. Es ist aber gerade in Extrembereichen wichtig, sich nicht nur auf diese zu verlassen, sondern auch auf seinen Körper zu hören. Es gibt Sachen, die man im Kopf behalten sollte, zum Beispiel, dass Geräte wie Smartwatches und Co. bei der Entfernung und der Geschwindigkeit recht anfällig für Ungenauigkeiten sind. Sie werden bei den Uhren über einen GPS-Sensor bestimmt.
Zu ihrer Genauigkeit habe ich ein Beispiel aus einer Eignungsprüfung: Wir bilden an unserem Institut für Sportwissenschaften an der TU zukünftige Lehrer aus. Bei dieser Eignungsprüfung müssen die zukünftigen Studierenden einen 3000-Meter-Lauf absolvieren. Wir hatten einen Kandidaten, der knapp 100 Meter vor dem Ziel einfach stehenblieb. Wir haben ihn ganz schockiert gefragt, warum. Ihm blieb noch genug Zeit und er hätte bis ins Ziel laufen können. Da hat er auf seine Uhr geschaut und gemeint, er sei schon 3000 Meter gelaufen. In diese Situation kann man viel hineininterpretieren, was schiefgelaufen sein könnte. Aber sie verdeutlicht ziemlich gut, dass es bei diesen Technologien Ungenauigkeiten gibt und dass ich sie kennen muss, um in Extremsituationen angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich finde, das ist leider nur den wenigsten bewusst.
Wie versuchen Sie, Ihren Student*Innen das zu erklären?
Ich finde es gut, erstmal grundlegend zu erklären, was beim Sport im Körper passiert. Wenn die Leute verstehen, warum sie etwas machen, dann werden sie dazu angeleitet, sich selbst und Quellen wie Videos auf Instagram zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Dann können sie besser einordnen, ob es wirklich sinnvoll ist, was da passiert. Ein bisschen Verständnis, wie mein Herz-Kreislauf-System funktioniert und was unter körperlicher Belastung passiert, wären auch wichtige Grundeigenschaften. Eine Art Einführungsvorlesung der Sportanatomie und Sportphysiologie könnte hilfreich sein. Ebenso ein technisches Verständnis, warum manche Daten herauskommen, wie sie herauskommen, und was das eventuell sein oder nicht sein könnte. Aber es ist schwer abzuschätzen, wie tief man da ansetzen muss. Was wirklich wichtig wäre, aus meiner Sicht, betrifft die Hersteller solcher Geräte: Ich finde, da müsste ganz klar eine Pflicht her, um zu kommunizieren, welche Parameter diese Daten sind und was sie genau bedeuten.
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