Vom Kneipensport zum Zuschauermagnet: Die rasante Entwicklung des Darts

Der Dartssport hat sich in den vergangenen Jahren von Grund auf neu erfunden. Die Akteur*innen auf der großen Bühne brechen mittlerweile einen Rekord nach dem anderen. Außerdem strömen gewaltige Zuschauermassen in die Hallen, um sich das Spektakel anzuschauen, das dieser Sport bietet. Hat das nur positive Seiten?

Eine runde Scheibe, eine volle Halle, bunte Kostüme, Partystimmung im Publikum. Es riecht nach Bier, die Stimme schwindet vom vielen Singen und Anfeuern und die Ohren dröhnen von den lauten Fans. Auf der Bühne Frauen und Männer, die mit einem Mix aus Koordination, Präzision und Geschick die ganze Halle im Londoner Alexandra Palace zum Toben bringen. Und die Zuschauer*innen zu Hause vor dem Fernseher gleich mit. Der erste Pfeil landet in einem Feld, das gerade einmal 8 Millimeter breit ist, aber 60 Punkte zählt. Der zweite und dritte Pfeil hinterher. 180! Die höchstmögliche Punktzahl mit drei Pfeilen beim Darts – einer Sportart, die seit einigen Jahren einen schier unaufhaltsamen Boom erlebt.

Die Weltmeisterschaft ist das berühmteste Dartsturnier. Sie findet in jedem Jahr von Mitte Dezember bis Anfang Januar statt. Das Finale ist meist nur wenige Tage nach Silvester und das früheste Finale aller Sportarten im Kalender. Die WM ist ein Paradebeispiel für die explodierende Aufmerksamkeit, die dieser Sport genießt. Das Preisgeld steht dabei sinnbildlich für die Entwicklung des Sports. 2013 schüttete die Professional Darts Corporation, kurz PDC, eine Million Pfund an Preisgeld aus. Davon gingen 200.000 Pfund an den Sieger, die Legende Phil „The Power“ Taylor – 16-maliger Weltmeister. 2022 wurden schon 2,5 Millionen Pfund ausgeschüttet. Davon 500.000 an Peter Wright, der sich zum zweiten Mal den Weltmeistertitel sicherte.

Eine Veränderung, die auch Gorden Shumway bemerkt. Er ist PR-Beauftragter beim Deutschen Darts Verband (DDV). „Die Entwicklung ist natürlich gigantisch, gerade auch was das mediale Interesse betrifft. Das haben wir auch Sport1 – oder DSF vormals – zu verdanken, die dieses Rechtepaket mitgekauft haben“, sagt Shumway. „Ich glaube, uns konnte nichts Besseres passieren. Darts hat mittlerweile mehr Sendezeit als andere Sportarten wie zum Beispiel Handball.“ Gordon Shumway hat die Entwicklung der Sportart hautnah miterlebt. Er selbst ist seit 45 Jahren begeisterter Spieler. Mit neun das erste Mal an der Abwurflinie – dem Oche – gestanden, war er 2018 sogar Co-Kommentator bei der Weltmeisterschaft.

Mit der großen medialen Aufmerksamkeit gingen auch höhere Zuschauerzahlen vor Ort einher. Um die Massen an Fans noch in den Hallen unterbringen zu können, wechselte die PDC 2008 den Spielort der Weltmeisterschaft. Statt der Circus Tavern im Osten Londons, wo etwa 800 Zuschauer*innen die Spiele verfolgen konnten, treten die Darts-Stars nun im Norden Londons im Alexandra Palace auf. Der trägt den Spitznamen „Ally Pally“, was unter den Darts-Fans die gängigere Bezeichnung für den Ort ist. Hier bekommen nun über 3000 Fans die Möglichkeit, den Spieler*innen bei ihrem Präzisionsmeisterwerk zuzusehen.

Fanszene erhitzt die Gemüter

Nicht nur die Menge der Fans veränderte sich. Auch die Zusammensetzung der Fans ist eine andere geworden. Eine Entwicklung, die nicht nur positive Seiten hat. Das sagt zumindest Gordon Shumway. „Vor zehn Jahren hast du in einer Halle, wo Darts gespielt wurde, im Zuschauerraum keinen gefunden, der noch nicht Darts gespielt hat“, sagt der 54-Jährige. „Heute ist das umgekehrt. 90, 95 Prozent derer, die in der Halle stehen, können die Leute auspfeifen und sich volllaufen lassen, haben aber noch nie einen Dart geworfen. Aber wenn du das natürlich bewirbst, mit ‚Guck die großen Weltstars bei Mallorca-Ballermann-Feeling‘, wie ernst kannst du das dann noch nehmen? Das ist zum Heulen, wirklich.“

Das sieht Lukas Lengefeld anders. Er ist Leiter der Dartsabteilung beim Aplerbecker SC 09. Er stand zum ersten Mal vor dreieinhalb Jahren am Dartsboard und verfolgt den Sport seit vier Jahren. Für ihn machen die Fans einen großen Teil der Veranstaltungen aus. „Ganz so negativ würde ich das jetzt nicht beurteilen. Ich finde, dass sich das noch im Rahmen hält, weil Darts immer eine Sportart war, wo das Drumherum das Bild gegeben hat. Der Sport an sich, als auch das Event, was dabei entsteht“, nimmt Lukas die Fans in Schutz. „Das fängt bei den Kostümen an und endet mit den Gesängen. Diesen Ballermann-Ersatz finde ich zu weit hergeholt“, sagt der Spieler des ASC09.

In einem Aspekt stimmt Lukas Lengefeld Shumway allerdings zu. „Das Einzige, was mir vor allem in den letzten Jahren nicht passt, ist, dass manchmal dieses Pfeifen anfängt. Es gab bei mir nie einen Spieler, den ich nicht leiden konnte. Klar habe auch ich meine Lieblingsspieler, aber wenn der andere besser ist, dann ist das auch gut. Das war in den letzten Turnieren so ein Knackpunkt.“

Niveau der Spieler steigert sich enorm

Das Niveau der Dartsspieler hat sich in den vergangenen Jahren enorm gesteigert. In Zahlen ist das deutlich zu belegen. Bei der WM 2022 knackte der Engländer Michael Smith den Rekord für die meisten geworfenen 180er im Turnier. 83-mal gelang dem Finalisten das Maximum. Zuvor stellte der Schotte Gary Anderson den Rekord mit 71 Maxima 2017 auf. Gary Anderson ist auch erst der zweite Spieler, der insgesamt über 500 180er bei all seinen WM-Teilnahmen werfen konnte. Das gelang zuvor nur – natürlich – Phil Taylor. Er schaffte das Kunststück ungeschlagene 688-mal.

Nicht nur die 180er, sondern auch die Averages der Spieler*innen steigen in unglaubliche Dimensionen. Der Average ist die durchschnittliche Punktzahl, die ein*e Spieler*in mit drei Pfeilen wirft. Der höchste Average bei einer WM kommt von Michael van Gerwen, auch MvG genannt, mit 114,05. Das war 2017 gegen seinen Landsmann Raymond van Barneveld. Den höchsten Average bei einem Spiel, das im Fernsehen übertragen wurde, stellte Peter Wright 2019 mit 123,5 Punkten auf. Damit knackte er den erst 2016 aufgestellten Rekord von MVG, der einen Schnitt von 123,4 Punkten pro Aufnahme hatte.

Lukas Lengefeld ist Leiter der Dartsabteilung des Aplerbecker SC 09. Foto: Lasse Prinz

In dieser Zeit war Michael van Gerwen der dominierende Spieler der Tour. Wer einen Titel gewinnen wollte, musste ihn schlagen. „Als ich angefangen habe, Darts zu gucken, war Michael van Gerwen der Topspieler. Da gabs keinen anderen. Der war fast immer im Finale“, erinnert sich Lukas. „Durch Corona ist – glaube ich – das Interesse am Darts stärker geworden. Und der Profibereich hat sich so sehr verbessert, dass es nicht mehr normal ist, dass nur noch ein MvG im Finale steht oder einen Titel gewinnt. Das liegt nicht daran, dass Michael van Gerwen schlechter geworden ist, sondern dass die anderen Spieler alle besser geworden sind.“

Dass sich das Niveau gesteigert hat, bestätigt auch Gordon Shumway: „Die Leute trainieren mehr. Die Spieler sehen das jetzt wesentlich professioneller, weil sie an diese großen Preisgeldtöpfe ranwollen. Die Akteure machen wesentlich mehr als noch vor zehn bis fünfzehn Jahren.“ Für Shumway kristallisiert sich heraus, dass Darts nicht mehr nur der klassische Kneipensport ist. Dennoch gehöre das nach wie vor zu dem Sport. „An der Basis wird immer noch getrunken. Auch die Profis trinken immer noch. Es ist ja nicht so, dass der Michael van Gerwen Heuschnupfen hat, wenn er in die Kamera guckt und rote Augen hat.”

Auch in Deutschland nimmt das Niveau zu

Nicht nur die internationale Spitze im Darts wird breiter. Auch in Deutschland verzeichnen die Profis neue Erfolge. 2010 nahmen erstmals gleich drei deutsche Akteure an der WM teil, 2022 waren es dann vier. 2021 erreichte Gabriel Clemens als erster Deutscher das Achtelfinale der WM. Dieser ist außerdem die aktuelle Nummer 22 der Welt, die beste Platzierung eines deutschen Dartsprofis bisher. Ebenfalls trat bei der WM 2021 Fabian Schmutzler als zweitjüngster Teilnehmer der Geschichte bei dem prestigeträchtigen Turnier an.

Um an die ganz großen Dartsnationen wie England, Schottland, Wales oder die Niederlande heranzukommen, reicht das noch nicht. Gordon Shumway fordert eine ausgeprägtere Jugendarbeit. „Wir müssen das System der Nachwuchsarbeit kopieren. Wo in Deutschland ein Vier- oder Fünfjähriger ein Matchbox Auto geschenkt bekommt, kriegt das Kind in England einen Satz Darts, wird auf einen Stuhl gestellt und fängt an zu werfen. Das Kind weiß auch‚ dass sein Vater abends in die Kneipe geht und Darts spielt. Und der Vater hat das beim Opa gesehen.“ Das sei eine ganz andere Einstellung zu dem Spiel als in Deutschland. „Die Kinder sehen in England dann einen Michael Smith und die ganzen Topstars und jubeln denen zu. Die wollen dieser Topstar werden. In Deutschland wird ein Kind von seinen Eltern erstmal schräg angeguckt, wenn es sagt: Ich möchte Darts spielen.“

Lukas sieht unterdessen auch eine Verantwortung beim DDV, um nicht nur die Jugendspieler, sondern auch die Amateurmannschaften mehr zu unterstützen. Denn der ASC 09 spielt nicht in einer Liga des DDV, sondern in einer Dortmunder Stadtliga. „Die Unterstützung ist jetzt nicht so groß wie bei anderen Sportarten. Ich würde es ja schon mal gut finden, wenn der Dartverband attraktivere Anwurfzeiten hätte“, sagt Lukas. „Ich könnte mir vorstellen, dass das noch von früher stammt. Dass gesagt wird, ihr seid eh in der Kneipe, dann könnt ihr auch spielen. Das ist aber heute nicht mehr so und normaler Amateursport findet eigentlich sonntags statt.“ Damit spielt Lukas auf die Zeiten am Samstagabend an. Er sagt, dass für gewöhnlich dann um 20 Uhr die Spiele sind. Für ihn ist das keine attraktive Option für junge Leute, da diese zu der Zeit oft anderweitig unterwegs seien. Und das sei auch der Grund, warum die Dartsmannschaft vom ASC nicht in einer Liga des DDV mitspielt.

Noch kein Dartsangebot beim Hochschulsport

Der Hochschulsport der TU Dortmund bietet derzeit keine Dartskurse an. Das liegt an verschiedenen Gründen. „Wir haben sehr viele Sportarten im Angebot. Die Herausforderung bei neuen Sportarten ist, dass wir keine Hallenkapazität haben. Alternativ müssten andere Sportarten weichen. Deswegen müssen wir das Ganze immer erst prüfen“, sagt Christoph Edeler, Leiter des Hochschulsports. Dennoch sei man für die Sportart offen, wenn jemand auf den Hochschulsport zukommen würde und sie anfragt. Wenn dann ein gutes Konzept dafür vorliege, wird geschaut, ob das umsetzbar ist. Darts sieht Christoph Edeler noch an ganz andere Bedingungen geknüpft: „Darts erlebt seinen Boom. Ein Hauptgrund sind sicher die Rahmenbedingungen und die Stimmung. Viele Leute spricht vielleicht auch die Kneipenatmosphäre an, das können wir nicht bieten.“

Zudem müsse die Sportart bei den Studierenden von Interesse sein, damit sich der Aufwand für den Hochschulsport lohnt. „Die Gegenfrage ist: Wird die Sportart dann auch angenommen? Zu uns kamen einmal indische Student*innen und wollten Cricket spielen. Wir haben das dann angeboten und die Nachfrage war leider sehr gering. Eine andere Gruppe wollte anatolische Volkstänze als Sportart anbieten und das läuft super. Da haben wir mittlerweile zwei Kurse, die immer ausgebucht sind. Am Ende ist entscheidend, wie hoch die Nachfrage ist.“

Die rasante Entwicklung des Sports hat also auch der Hochschulsport mitbekommen. Doch die große Show und auch die verkleideten Fans sind eben nur bei der PDC anzutreffen.

 

Beitragsbild: Lasse Prinz

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