Der unermüdliche Student: Warum Ralf Kaufmann mit 64 Jahren noch studiert

Rentnersein und jeden Tag nichts tun? Für Ralf Kaufmann kommt das nicht in Frage. Er ist 64 Jahre alt und studiert Statistik an der TU Dortmund. Wie sein Leben in und abseits der Universität aussieht und wie seine Mitmenschen darauf reagieren.

Eine schwarze Lederjacke, ein graues T-Shirt, blaue Jeans, schwarze Sneaker, ein Rucksack und eine Brille auf der Nase. Locker und lässig mit einem Lächeln im Gesicht betritt Ralf Kaufmann den Campus der TU Dortmund. Kaufmann ist ein Student wie jeder andere, allerdings „der etwas älteren Generation“. Er ist 64 Jahre alt und seit fünf Jahren in Rente. Doch „aus dem Fenster schauen und Parksünder aufschreiben oder sich über die Jugend von heute aufregen“ sei nicht sein Ding, sagt er. Aktuell befindet sich Kaufmann in seinem dritten Studium: Statistik.

Angefangen habe alles vor fünf Jahren. „Mein Sohn hat mich gefragt: Papa, wann kommst du eigentlich mal aus deiner Komfortzone raus?“ Mit diesem Satz habe Tom Kaufmann seinem Vater einen Anschubser gegeben. Tom ist 30 Jahre alt und hat kürzlich seinen Doktortitel in Mathematik verliehen bekommen. Damit kommt er nach den Interessen seines Vaters.

Aller Anfang ist schwer

In seinen jungen Jahren habe sich Kaufmann schon für Physik interessiert. Studiert hat er es aber nicht, da er das Fach nicht in der Schule hatte. „Ich habe mir als junger Mensch etwas vorgenommen, aber danach gelassen, da ich ein bisschen Sorge hatte, dass ich das nicht schaffe.“

Direkt nach seinem Abitur im Jahr 1978 folgte Kaufmann dem Rat seines Vaters und machte eine Ausbildung zum Betonbauer als Vorbereitung auf ein späteres Bauingenieur-Studium. Allerdings habe er nach einer gewissen Zeit gemerkt, dass das nicht sein Wunsch gewesen war, sondern: „Mein Papa wollte, dass ich Bauingenieur werde und nicht ich.“ Kaufmann habe sich damals vorgenommen, seine eigenen Kinder selbst entscheiden zu lassen, was sie im Leben später machen möchten. Das bestätigt Sohn Tom: „Ralf hat uns niemals dazu gezwungen, etwas zu machen. Er hat uns immer frei entscheiden lassen und hat uns bei jeder Entscheidung unterstützt.“

Der Weg bis zum Ruhestand

Ralf Kaufmann kommt jedes Mal mit dem Fahrrad zur Uni
Ralf Kaufmann kommt jedes Mal mit dem Fahrrad zur Uni.

1981 begann Kaufmann ein Mathematikstudium an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und schloss dies 1987 mit einem Diplom ab. Während des Studiums absolvierte er ein Auslandsjahr im englischen Brighton an der University of Sussex. Dadurch erlangte er gute Englischkenntnisse. Nach seinem Diplom kümmerte sich Kaufmann „um seine Rente“. Er arbeitete etwa 30 Jahre lang, erst bei einer Firma für Softwareentwicklung und dann in einem Energieunternehmen, bis „Zeit“ der Grund gewesen sei, aufzuhören.

Als Kaufmann den Vorruhestand antrat, sei er sich sicher gewesen, dass er sich mit etwas beschäftigen möchte. Nach dem Anschubser seines Sohnes habe er sich entschieden, Physik zu studieren, was er sich nach dem Abitur nicht getraut hatte. Er habe sein altes Abiturzeugnis herausgekramt und sich an der RUB beraten lassen. „Mir ist es wichtig, keinem jüngeren Studierenden, der das Leben noch vor sich hat, den Studienplatz wegzunehmen, nur weil ich unendlich viele Wartesemester habe und aus Spaß weiter studieren möchte.“

Das erste Studium im Alter

In seinem Physikstudium habe sich Kaufmann teilweise schwergetan, da er in dem Fach keinerlei Vorwissen aus der Schule hatte. Auch wenn ihm der Studiengang dadurch nicht leichtgefallen sei, habe ihm das Fach viel Spaß gemacht und Kaufmann habe stets das Ziel verfolgt, das Studium zu vollenden. „Diese Herausforderung hat mich zum Durchhalten motiviert.“

In seinem Studium spezialisierte sich Kaufmann auf Festkörperphysik. „Dafür gab es keinen besonderen Grund. Vielmehr mochte ich den Professor und habe einen sehr netten Betreuer gefunden.“ Das sei ihm wichtiger gewesen als das Interesse am speziellen Thema. In seinem Spezialgebiet musste Kaufmann mehrere Labor-Praktika absolvieren, „circa zwei Dutzend“. Zum Ende des Studiums führte er ein paar Monate lang ein größeres Forschungsexperiment im Bereich des Teilchenbeschleunigers durch und schrieb daraufhin seine Bachelorarbeit.

Der Drang nach neuem Wissen

2023, kurz vor seinem Abschluss in Physik, schnupperte Kaufmann in den Studiengang Statistik hinein. Die Universitätsallianz Ruhr ermöglicht es allen Studierenden der RUB, der TU Dortmund und der Universität Duisburg-Essen, sich das Studienangebot dieser drei Hochschulen anzuschauen oder vollständig zu belegen. Da sei Kaufmann klargeworden: Das „mit der Statistik“ möchte er unbedingt auch noch ausprobieren. Weil er auch in diesem Fall sicher gewesen sei, dass er niemandem den Studienplatz wegnimmt, hat er sich eingeschrieben.

Ralf Kaufmann vor dem Mathetower der TU Dortmund
Ralf Kaufmann vor dem Mathetower der TU Dortmund.

Seitdem studiere er mit einem geringen Pensum. Das heißt, er besuche zwei Veranstaltungen in der Woche und werfe alle 14 Tage Aufgabenzettel in die Briefkästen des Mathetowers der TU Dortmund ein, da es die Prüfungsordnung so vorgibt. Ein paar Module habe sich Kaufmann anerkennen lassen, da er manches im mathematischen Teil der Statistik nicht wiederholen wollte. „Das ist immer wieder das Gleiche. Ich möchte lieber Neues lernen.“

Bei der Wahl seines Nebenfaches sei er sich noch unsicher. Der Studiengang Statistik enthält ein Nebenfach mit 30 Credit Points, zur Auswahl steht unter anderem Journalistik. Das interessiere Kaufmann sehr. Er habe ein Medienrechtsseminar besucht, in dem es um Themen wie Pressefreiheit geht. Außerdem erarbeiten sich die Studierenden darin Techniken des Rechtsdenkens für ihr späteres Berufsleben. „Ich fühle mich da sehr wohl. Allerdings ist der Studiengang Journalistik mit einem NC belegt. Deswegen werde ich das wahrscheinlich nicht machen, um die Ressourcen des Faches nicht aufzubrauchen.“ Ein weiteres Nebenfach habe Kaufmann bisher nicht ausprobiert. Für welches er sich entscheiden wird, sei für ihn noch nicht klar. „Ich lasse mir da Zeit. Ich habe keinen Druck.“

Ein typisches Campusleben

Einen Vergleich zu seinem Mathestudium zu ziehen, falle Kaufmann schwer, da sich die Studiengänge in vielen Facetten unterscheiden würden. Damals war er mehr als 40 Jahre jünger. Für ihn sei das eine andere Zeit gewesen, „ohne die Bachelor- und Master-Zwänge“. Heute erscheine ihm alles etwas hektischer als früher. Sein damaliges Mathestudium habe er für seine berufliche Ausbildung gebraucht. Das heutige hingegen, „um dem Gehirn neues Lernfutter zu präsentieren“ – auch wenn ihm das im Alter nicht leichtfalle. Dennoch sehe er das nicht als Ausrede, denn Spaß mache es ihm.

Kaufmann ist ein Student wie jeder andere. So sieht er sich jedenfalls und so möchte er auch gesehen werden. Von anderen Studierenden lasse er sich am liebsten duzen, um mit ihnen auf einer Wellenlänge zu sein. In Vorlesungen melde er sich, gehe zur Tafel und rechne etwas vor, wie jeder andere Student im „typischen Studi-Alter“. Bei Klausuren stehe ihm ebenfalls der Schweiß auf der Stirn – „alles ganz normal“. Kürzlich sei er auf dem Sommerfest der TU gewesen. „Ich hoffe, das zählt als Studentenparty“, sagt er und lacht. Der Campus der TU gefällt ihm sehr: „Sogar etwas besser als der in Bochum“, betont er.

Der Eindruck nach Außen

Kaufmanns Studium ist nicht zu verwechseln mit dem Seniorenprogramm der TU. „Ich bin zwar Senior, aber kein Seniorenstudent.“ Das Programm halte er dennoch für eine „prima Sache“. Es gibt Menschen über 50 Jahren die Möglichkeit, sich wissenschaftlich in ausgewählten Veranstaltungen weiterzubilden. Abgesehen davon, dass es das Seniorenstudium im Studiengang Statistik nicht gibt, sei das nichts für Kaufmann. Er wolle wie alle anderen einen vollständigen Studiengang studieren.

Säulendiagramm: Anzahl der Studierenden WiSe 23/24 Technische Universität Dortmund
Anzahl der Studierenden im WiSe 23/24 an der TU Dortmund, aufgeteilt nach Altersgruppen. Quelle: https://www.tu-dortmund.de/storages/tu_website/Dezernat_2/ZDF_und_Kacheln/240903_ZahlenDatenFakten_2023_web.pdf, Grafik: Michele Mühlig

 

Kaufmanns Mitmenschen beschreiben ihn als liebevoll, hilfsbereit und engagiert. Dabei betont Sohn Tom als wichtige Charakterzüge die Wärme, die sein Vater ihm und seiner Schwester immer gegeben habe, sowie die Unterstützung in allem. „Ralf war immer für uns da, sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten. Er hat nie irgendwelchen Druck ausgeübt, aber er hat versucht, uns immer zu motivieren, egal wo.“

Kaufmanns „Kumpel“ Andreas Willeke fügt den Aspekt der Wissbegierde hinzu, den Wunsch, stetig etwas Neues zu lernen und dieses Wissen im besten Fall weiterzugeben.

Lernen oder Lehren?

Willeke ist ebenfalls 64 Jahre alt. Kaufmann und er kennen sich aus der Zeit an der RUB, als sie zusammen Physik studiert haben. Sie seien in den letzten Jahren beim Abschluss des Studiums die einzigen Absolventen in ganz Deutschland gewesen, die mit über 60 Jahren ein Studium in Physik absolviert haben. „Ohne Ralf hätte ich das nicht geschafft. Er hat mir vieles erklärt und mich bei diversen Aufgaben unterstützt’’, betont Willeke. Kaufmann habe aber nicht nur ihn unterstützt, sondern auch die Kommiliton*innen in seinem Studiengang. „Er lässt nicht nach. Er erklärt das so oft und lange, bis es jeder verstanden hat. Sonst gibt ihm das keine Ruhe. Ralf liebt es, das Leuchten in den Augen der anderen zu sehen, wenn sie den Zusammenhang verstanden haben.“

Kaufmann wird den Studiengang Statistik voraussichtlich für fünf weitere Semester studieren. Ob er danach ein weiteres Studium beginnen wird, wisse er noch nicht. Sein Sohn Tom und sein „Kumpel“ Andreas Willeke sind sich hingegen sicher, dass Kaufmann an der Uni bleiben wird. „Ralf kriegst du aus der Uni nicht mehr raus“, betont Tom. Willeke geht davon aus, dass Ralf entweder Lernen oder Lehren wird. Ansonsten gehe ein großartiger Student oder Lehrer verloren. Dementsprechend bleibt Kaufmanns Motto „Lebenslanges Lernen“ für ihn wahrscheinlich weiterhin von großer Bedeutung. Für Kaufmann zählt: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Wenn man aufhört, treibt man zurück.“

 

Fotos: Michele Mühlig

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