Das Schauspielkollektiv 18 Plus aus Dortmund hat ein neues Stück entworfen. Das musikalische Coming-Of-Age-Drama hat aus Bühnenpartner*innen Freunde werden lassen. Durch das Spiel mit den Emotionen haben sie auch ihre eigene Stimme gefunden.
Laute, fast ohrenbetäubende Musik schallt im Studio, der kleinsten Bühne am Schauspielhaus in Dortmund. Es ist ein krachender, lauter Popsong. Die Melodie ist eingängig, ein absoluter Radio-Hit. Die acht Schauspieler*innen springen ekstatisch umher, jubeln, kreischen, fallen sich in die Arme. Sie treten von der Bühne in den Zuschauerraum und begrüßen das Publikum, das zu Beginn der Vorstellung hereinkommt. Es besteht aus Familie, Freunden und neugierigen Besucher*innen. Die Schauspieler*innen tragen kurze, schwarze Crop Tops, Jeans-Schlaghosen und pinke Glitzeroberteile. Ein heller Kühlschrank im Hintergrund der Bühne ist mit Getränken als Requisiten gefüllt. Ein paar Darsteller*innen halten eins dieser Drinks in der Hand. Die Atmosphäre strahlt „wilde Hausparty“ aus. Ein flauschiger weißer Teppich liegt auf der kreisrunden Bühne aus. In schneeweißen Neonröhren pulsiert das Licht im Takt der Musik. Das Publikum findet sich auf den Sitzen gegenüber ein. Die Stimmung ist ausgelassen.
Seitenweise haben die jungen Amateur-Schauspieler*innen Texte studiert, Rollen geprobt, an der Musik gefeilt. Jetzt gehört der Moment ganz ihnen. Eine*r nach dem anderen sinkt müde auf das schwarze Sofa, sie kuscheln sich aneinander. Dann geht das Licht aus. Die Premiere beginnt. Vorhang auf!
Von der Straße auf die Bühne
Das Schauspielkollektiv18 Plus ist ein Angebot der Stadt Dortmund für junge Erwachsene von 18 bis 28 Jahren. Sie treffen sich einmal pro Woche unter der Leitung von Sarah Jasinszczak und lernen, Theater zu spielen. Das Theater Dortmund hat damit ein Angebot für junge Erwachsene geschaffen, die Theater spielen wollen. Dafür bekommt das Theater ein Stück, für das es Karten verkaufen kann. Daran dürfen alle teilnehmen, die früh genug dabei sind, bevor die Rollen verteilt werden. Wer übrig bleibt, kann helfen, während der Vorstellung die Musik und Videos einzuspielen. Das ist der Job des*der Inspizient*in. Oder wenn die Darsteller*innen mal ihren Text vergessen, als Souffleuse einspringen und ihnen die richtigen Worte zuflüstern.

Ein Stück läuft immer für eine Saison. Dann wird ein neues Stück ausgesucht. Das passiert in einem Prozess zusammen mit den Teilnehmer*innen. Von der Improvisation über das Interagieren mit anderen und in der Gruppe lernen sie das Einmaleins des darstellenden Spiels. Dann beginnen sie mit den Proben für das Stück, das sie später aufführen wollen. Die Dramaturgie entwickeln sie gemeinsam, hangeln sich am Skript entlang und nehmen Anpassungen vor. Eine Coming-Of-Age Geschichte soll es werden. „Coming-of-Age“ ist ein Genre, in dem sich junge Menschen mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens auseinandersetzen. Die Idee kommt von der Theaterleitung, die bestimmte Stücke vorschlägt und das Ensemble sucht sich anschließend gemeinsam ein Stück aus.
Coming-Of-Age in einer Playlist
Das Stück „Play Loud“ vom Autor Falk Richter ist für vier Rollen geschrieben. Die Figuren befinden sich auf einer Party. Sie sind Freunde, Partner*innen oder haben eine Trennung hinter sich. Das Beziehungsgeflecht ist vielschichtig und voller Spannungen. Alle kämpfen mit ähnlichen Problemen was auch zu Konflikten in der Gruppe führt. Die Darsteller*innen haben das Stück vor allem wegen der Musik ausgesucht. Für die 15 Songs ist die Inspizientin Marie Lehnert verantwortlich, die Schauspieler*innen haben auch eigene Songs für die Szenen vorgeschlagen.
Die Playlist dazu klingt wie eine Mischung aus Party-Pop und emotionalem Indie. Sie reicht von Telephone von Lady Gaga bis zu 21 Nächte wach von Edwin Rosen. Es geht um toxische Beziehungen, die eigenen Eltern, Einsamkeit und mentale Gesundheit – Themen, die junge Menschen besonders treffen.
Auftritt Malte Kreyer: Film an der Uni – Schauspiel am Theater

Malte Kreyer ist 20 Jahre alt und zum ersten Mal dabei. Er studiert Film in Dortmund und wollte nach seinen ersten Erfahrungen im Schultheater nochmal auf der Bühne stehen. Nach der Zusage war er mitten in den Proben, in einer Gruppe, in der sich manche schon länger kannten. Einige aus dem Ensemble haben gemeinsam in einem Stück in der vorherigen Saison mitgespielt. Die Proben hatten schon gestartet, als Kreyer zum Ensemble gestoßen ist. Er spielt einen Film-Nerd, der von seiner alleinerziehenden Mutter häufig alleine vor dem Fernseher gelassen wurde.
Es war für ihn nicht schwierig, Anschluss zu finden. „Das ist das Coole am Theater: Wir arbeiten an einer offenen Beziehung zueinander, indem wir viele Spiele spielen, bei denen wir aus uns herauskommen. Das formt automatisch auch Freundschaft“, sagt Malte Kreyer.
Wie entsteht ein Bühnenstück?
Der Probenraum ist im zweiten Stock des Schauspielhauses, zwischen zwei dicken, schweren, schwarzen Metall-Türen. Der Rand der Studio-Bühne ist mit Klebeband auf die schwarzen Dielen geklebt, die durch die ständige Nutzung so viele Macken haben, dass stellenweise das Holz zu sehen ist. Theaterleiterin Sarah Jasinszczak und Bühnenassistentin Sandra Kania sitzen am Tisch an der Wand und besprechen das Bühnenbild.
Dann kommen die Schauspieler*innen, ihr Lachen ist bereits von Weitem zu hören. Sie legen ihre Sachen ab und stellen Requisiten auf. Bis das Bühnenbild für die Premiere fertig ist, müssen sie mit kreativen Alternativen umgehen: ein cremefarbenes Sofa, ein Hocker, ein Stapel Stühle. Dabei quatschen sie über das Stück: „Kannst du die Szene schon?“ und „Kommt die Szene vor oder nach dem Song?“
Übung macht die Meister*innen

Ein Wecker piept, alle lachen. Es ist Warm-up-Zeit. Die Schauspieler*innen stehen auf, laufen durcheinander und wärmen dabei jede Muskelgruppe auf, inklusive der Stimmbänder und Lippen.
Dann wollen sie die erste Szene spielen. Sie gehen auf ihre Position, lassen sich auf das Sofa sinken. Sarah ruft „Concentration!“ Die Regieassistentin und Souffleuse Sophie Dahlbüdding scrollt auf ihrem Ipad das Skript herunter, nickt bei jedem Satz, der schon sitzt. Wenn es im Redefluss hakt, wirft sie den Darsteller*innen das Wort zu, wie einem Jongleur, der einen Ball verloren hat. Sie sprechen im Chor: „In der Stadt wäre kein Lärm – in den Körpern wäre keine Angst…“ Dann geraten sie durcheinander. Jemand fängt zu früh an: „in den Augen keine Müdigkeit“ – die anderen schauen sich verwirrt um. Jemand fängt an zu lachen. Aber sie machen weiter. Valdrina trägt vor: „Ich würde dann ins Studio gehen, und meine besten Freunde wären schon da und würden auf mich warten.“ Die Szene verläuft weiter ohne Patzer und Textprobleme.
Kein Problem, wenn es mal nicht klappt
Die Szene endet – eine neue beginnt: das Riff von „Mr. Brightside“ der Killers erklingt. Sophie Dahlbüdding tippt mit den Schuhen im Takt der Musik, sie wechseln Positionen, dann fährt Inspizientin Marie Lehnert die Musik wieder leise. Nur die Schauspieler*innen Louis Koppelkamp und Elisa Grewe stehen auf der Bühne. Bei einer schwierigen Stelle: „Was meinst du damit „nah?“, na „nah“ eben“ „wie nah?“ „nah“ kommen beide ins Stocken und lachen. Der Dialog spielt mit den verschiedenen Bedeutungen von „Nah“, Als Ausdruck von Distanz, als Umgangssprache. Weil dort häufig das gleiche Wort unterschiedlich betont werden muss, kommen die Darsteller*innen durcheinander. Sophie Dahlbüdding muss mehrmals den richtigen Text einwerfen, die Szene wird im Skript markiert, hier gibt es noch Verbesserungsbedarf.
Dortmunds größter Kleiderschrank

Für die Kostüme geht es zum Fundus, durch lange Flure, über mehrere Treppen, von einer schweren Tür zur nächsten. Dort sucht Valdrina Jusufi nach einer passenden Schlaghose. Sie ist zum zweiten Mal bei einer Produktion des Kollektivs. Sie wollte schon immer zum Theater und studiert Theaterwissenschaften in Bochum. Ihren Eltern zuliebe, und „weil Schauspiel etwas ist, wo man nicht wirklich viele Stellen findet“, hat sie dazu noch BWL gewählt. Am Theater liebt sie es, starke Emotionen auszudrücken und sich selbst zu behaupten. Im Alltag sammeln sich viele Emotionen an, die man in dem Stück einfach mal herausschreien kann. Zwischen Uni und Arbeit findet sie häufig nicht so viel Zeit, um noch den Text zu lernen.
Sie nimmt ein pinkes Netztop in die Hand, hält es sich an den Körper und betrachtet sich im Spiegel am Ende des Ganges. Im Fundus verwinkelt im Bau der Theatermaschine stehen scheinbar endlose Reihen von Regale voll mit Röcken in allen Farben und Graustufen.
Valdrina Jusifi hängt das pinke Top auf einen Bügel: „Das gefällt mir und die lila Hose ist lustig.“ Die anderen haben sich meist schwarze Sachen ausgesucht und vorher Moodboards mit Fotos erstellt. Daher wissen sie ungefähr, wonach sie suchen.
Auch in diesen Momenten sind sie häufig beim Stück: „Wie lernst du deinen Text?“ Valdrina Jusufi hat einen Ratschlag parat: „Was hilft, ist, sich mit dem Handy aufzunehmen und wieder anzuhören“, sagt sie. „Sonst können wir uns auch gemeinsam treffen und lernen, oder per Zoom“, schlägt sie vor. Auch abseits der gemeinsamen Proben arbeiten die Darsteller*innen an dem Herzensprojekt. Aus dem – aus Erfahrenen und Neuen zusammengewürfelten – Ensemble ist schnell eine Freundesgruppe geworden.
„This is not a Lovesong“
Auf dem Kühlschrank stapeln sich die neuen Requisiten. DVD-Schachteln liegen lose auf Pizzakartons, daneben ergänzen Bierflaschen das Partyfeeling. Auf dem Tisch der Regie stehen Energydrinks für lange und abendliche Proben. Es hakt in der ersten Szene. „Improvisiert den Text einmal, dann bekommt ihr Haltung rein“, ruft Leiterin Sarah Jasinszczak den Darsteller*innen Louis Koppelkamp und Hannah Flottmann zu. „Sonst rennt ihr dem Text hinterher.“ Sofort ist die Szene lockerer und natürlicher, aber es stockt. Dann die ganze Szene von vorne: Der Dialog klingt flüssiger, die Schauspieler*innen legen mehr Bewegung in ihre Stimmen und sprechen ihre Sätze dichter aneinander. Die Szene ist im Fluss, doch einige Stellen werden noch von Sophie Dahlbüdding souffliert.

Inmitten der dynamischen Probenarbeit wird deutlich, dass das Theaterspielen in dem Stück eine besondere Bedeutung hat. Wenn die Figuren etwas erklären möchten, was sie nicht einfach sagen können, spielen sie Szenen aus beispielsweise ihrer Kindheit nach. Diese plötzlichen Wechsel, bei denen aus Freunden auch Vater und Tochter werden können, führt mitunter zu Verwirrung, aber verdeutlicht den Prozess, durch den die Darsteller*innen neue Ausdrucksformen lernen.
Nach der Probe zieht es die Schauspieler*innen ins Foyer des Theaters. Vor einer Spiegelwand üben sie ihre Tanzchoreografie. Auch diese beherrschen sie jetzt deutlich synchroner, die Bewegungen sind flüssiger und mehr im Takt von „Telephone“ von Lady Gaga. Das Üben hat sich ausgezahlt.
“Under Pressure”
Die Inspizientin Marie Lehnert steht Ende März 2025 am Eingang zur Studio-Bühne und schaut auf das volle Foyer. Die Premiere findet endlich statt. Bekannte, Freunde und Verwandte tummeln sich vor dem Einlass. Lehnert sei „happy, dass es jetzt losgeht“. Sie freue sich auf das Ende und die Reaktion der Zuschauer*innen. Die vergangenen Wochen haben sie am Timing geschliffen, die Einsätze perfektioniert und das Tempo erhöht. Insgesamt hat es ein halbes Jahr gedauert. Die Vorstellung ist ausverkauft. Die letzten Proben beschreibt Marie Lehnert als „anstrengend, sehr intensiv“. Das Ensemble hatte Bedenken, jemand könnte noch krank werden und ausfallen. Sie bindet sich die Schuhe und verschwindet durch den Seiteneingang im Backstage.

Nach 90 Minuten zieht Marie Lehnert Bilanz. Doch eine Textpanne. Dann gibt es Standing Ovations, Familie und Freund*innen trommeln mit den Füßen. Theaterleiterin Sarah Jasinszczak überreicht jedem*jeder Schauspieler*in eine Rose, sie verbeugen sich und baden im Applaus.
Nach der Premiere lassen sie sich feiern, umarmen ihre Verwandten. Das Publikum war von dem Stück geflasht, die gesellschaftskritischen Elemente finden Gefallen. „Es zeigt Probleme junger Menschen total unzensiert“, sagt eine Zuschauerin später im Foyer.
Valdrina Jusifi erzählt, von der ersten Probenwoche an hatte sie die Hoffnung, alles würde sich irgendwann zusammensetzen. Jetzt reflektiert sie: „Von einem starken Ensemble sind wir zu einem Kollektiv geworden.“ Sie will auf jeden Fall wiederkommen: „Ich bin viel mehr aus mir herausgekommen. Wie haben noch mehr miteinander gespielt, statt nur für uns selbst.“ Auf die Frage, was er mitnimmt aus der Erfahrung, resümiert Malte Kreyer: „Schauspiel stärkt mich krass und gibt mir Selbstbewusstsein und Zugang zu Gefühlen. Es ist auf eine Art wie Kampfsport, bei dem ich alles rauslassen kann. Das stärkt mich, ich selbst zu sein. Obwohl ich auf der Bühne jemand anders bin.“
Beitragsbild: Birgit Hupfeld